Als gestern die 8. Berlin Biennale erstmals dem Fachpublikum vorgestellt wurde, war das für manchen Besucher wohl der erste Besuch im Museum Dahlem, wo immerhin der größte Teil des diesjährigen Ausstellungsprogramms arrangiert wurde. Wo sonst asiatische Kunst und ethnologische Schätze vor allem aus dem südamerikanischen Raum aber auch aus Europa gezeigt werden, fügte Kurator Juan Gaitán die von ihm versammelten, zum überwiegenden Teil eigens in Auftrag gegebenen Kunstwerke ein. So waren die Besucher nicht nur eingeladen, die in den vielen Flügeln, Geschossen und Trakten des Gebäudes immer wieder eingestreuten Exponate zu entdecken, sondern auch zwischen all den präkolumbianischen Kultobjekten, chinesischem Porzellan und japanischen Paravents das zu finden, was Gaitán die vierte Dimension, die zeitgenössische Kunst, nennt.
Das gelang streckenweise gut, wenn etwa Wolfgang Tillmans oder Alberto Baraya die Vitrinen des Hauses nutzten, um ihre Installationen in einen ähnlichen musealen Kontext zu rücken, oder wenn Mariana Castillo Deball die passende Umgebung ihre post-kolonialistische Untersuchung der mexikanischen Kultur mit Objekten aus der Museumssammlung kombinieren durfte. So war zwar auch Natasha Ginwalas Forschungsprojekt »Double Lives«, das anhand wissenschaftlicher Zeichnungen die Beziehungen zwischen Naturgeschichte und Kunst im 19. Jahrhundert untersuchen möchte, in der Hinsicht gut integriert, daß der lange Weg durch einen Großteil der asiatischen Sammlung führt, obgleich die Lage weit abseits der restlichen Ausstellungsräume wohl so manchen verirrten Besucher zur Umkehr bewegen wird. So verstreut die Ausstellungsteile im Museum Dahlem liegen, so oft man durch die menschenleeren Räume vorbei an den kaltlichtbeschienen Exponaten geht, so ruhig ist die gesamte Biennale, nicht nur hier in Dahlem.
»Diese Biennale hat etwas Leises, obwohl viel Sound dabei ist«, bemerkte Hortensia Völckers, künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, völlig richtig. Ist es die im ethnologischen Museum rahmengebende, aber auch örtlich immer wieder trennende Dauerausstellung, so sind es in den beiden anderen Orten der Biennale andere kuratorische Ansätze, die diese ungewöhnliche Stille bewahren: Das Haus am Waldsee wurde als Villa eines anonymen Kunstsammlers inszeniert, wo Springbrunnen und klassische Musik herrschen, während die KW wie so oft die Stille in der Abschottung von der hektischen Außenwelt begreifen. Nach Artur Żmijewskis gescheitertem Versuch, die 7. Berlin Biennale mit großen Effekten und viel Konfrontation zu schmücken, muss Gaitáns ungemein leiserer Stil eine Wohltat sein.
Wenn denn die Besucher mitzögen. Die Stille wird leider umso leichter zerrissen, je zarter sie inszeniert wird. Bereits während der Vorbesichtigung herrschte ein Trubel, der so mancher Kunstwerk nicht gut tat. Für Tacita Deans in sich gekehrter, aber vor Intensität strotzender Versuch, im Labor durchgeführte Experimente mit Lasern und nuklearen Explosionen, filmisch einzufangen, wurde zwar ein eigener, kleiner Raum gebaut. Geringe Lautstärke und kleine Bildschirme halten aber kaum den zu erwartenden Besucherandrang aus. Undenkbar wäre auch die Idylle des Haus am Waldsees und die maßgeblich davon getragenen Ausstellungsstücke ohne die Ruhe, die vielleicht nur eine solche Vorbesichtigung gewährleisten kann.
Natürlich lässt sich dies leicht über vielerlei Kunst sagen, freilich braucht so manche Arbeit mehr Freiraum als eine andere und natürlich ist von jeder Ausstellung dieser Größe zu erwarten, daß die wünschenswerte Ruhe früher oder später nicht mehr einkehren kann. Man kann Gaitán für den Versuch, diese Ruhe zu bewahren, nicht genug loben. Doch für manch ein Kunstwerk wünscht man sich insgeheim, daß zu seinem Schutze ein Museumswärter abgestellt würde.
Zarouhie Abdalians Installation »a caveat, a decoy« ist eine davon. Die junge Amerikanerin hat im Treppenhaus der Kunstwerke, ganz oben, auf halber Höhe unterm Dach, eines der Flügelfenster öffnen und auf dem Sims eine Plastikeule platzieren lassen, wie man sie in jedem Baumarkt als Taubenschreck kaufen kann. Dort thront sie auf einem angedeuteten Baumstumpf und überblickt den Innenhof, die Dächer und die nähere Umgebung. Ihr Blick ist nach Südwest, auf die beiden anderen Ausstellungsorte der Biennale gewandt, während aus einem Lautsprecher Schuberts »Nacht und Träume«, vorgetragen durch die neuseeländische Opernsängerin Kiri Te Kanawa, erklingt.
Zarouhie Abdalian: »a caveat, a decoy«
So wollte ich also die Treppe zum Dachgeschoss hinaufgehen und blieb doch bereits nach zwei Stufen vor Ehrfurcht erstarrt stehen. Da saß sie, die Eule vor dem weißen Wolkenhimmel; Heil’ge Nacht, du sinkest nieder;
ich konnte ihren Blick nur erahnen und hörte vor allem das liebliche Klavierlied leise spielen. Ich war verzaubert. So wie das Haus am Waldsee in herrschaftlicher Ruhe über das weitläufige Anwesen blickt und aus dieser Idylle eine unermessliche Schönheit gewinnt, so anmutig war auch der Anblick dieser Eule, untermalt vom gedämpften Gesang der Sopranistin.
Nieder wallen auch die Träume
Wie dein Mondlicht durch die Räume,
Durch der Menschen stille Brust.
Die belauschen sie mit Lust;
Rufen, wenn der Tag erwacht:
Kehre wieder, heil’ge Nacht!
Holde Träume, kehret wieder!
Diesem Genuss gab ich mich nicht weniger als dreißig Minuten, vielleicht auch eine Stunde hin. Abdalians Arrangement war simpel, aber perfekt. Denn es brauchte nicht viel, diese zarte Schönheit erblühen zu lassen. Einzig die Positionierung im Treppenhaus, das immer wieder die schnaufenden Besucherscharen ausspuckte, war unglücklich gewählt. Streckenweise war Schuberts melancholischer Melodie kaum mehr zu hören, streckenweise war es nur eine Plastikeule auf einem Fenstersims. Ein französischer Kollege fragte mich schließlich, nachdem er lange mit seiner Begleitung darüber diskutierte, was ich von Abdalians Installation hielte. Er erklärte mir, daß die Schönheit in dem Arrangement liege, daß die Eule ja nach Dahlem schaue und überhaupt, wie leicht man doch so simple Feinheiten übersehen könne. Er erklärte mir auch, daß ein solch kruder Gegenstand – ein aus Plastik gegossener, wetterfester, braun und weiß gestrichener Gebrauchsgegenstand – ja eigentlich gar nicht mit der Anmut eines solchen Klavierliedes zusammen gehen könne, daß die Künstlerin da ein glückliches Händchen gehabt habe und die Arbeit schließlich allein in dem Moment der Überraschung lebe, in dem man aufblickt und da diese Silhouette vor dem hellen Wolkenhimmel erblicke. Ich gab ihm Recht. Und bat ihn, doch lieber zuzuhören und einfach nur zu schweigen.