Als im vergangen Jahr bekannt wurde, daß Johann König die bis dahin ebenso verwaiste wie baufällige Kirche St. Agnes gepachtet hatte, um mit seiner Galerie nach dem Auslaufen des Mietvertrages für die Dessauer Straße in diesen brutalistischen Sakralbau zu ziehen, war manch einer berechtigterweise skeptisch. Die gewagte Investition würde allein für die anstehende Renovierung einen deutlichen Millionenbetrag veranschlagen, zumal die Räumlichkeiten trotz oder gerade wegen ihrer imposanten Betongewalten erst einmal für solch profane Absichten wie zeitgenössischer Kunst gezähmt werden müssten. Doch andererseits hätte wohl kein anderer Berliner Galerist diesen Coup wagen können: Kaum einer seiner Kollegen verbindet ein passendes Portfolio junger Bildhauer und Installationskünstler mit der Flexibilität und der nötigen Finanzkraft, um die abseits aller Hotspots versteckt gelegene Kirche für die Kunstwelt zu erschließen. Deren Anhänger dankten es ihm, blickten sie doch schon immer neugierig auf die ungewöhnliche Architektur, in der sie gleich zwei ihrer größten Fetische, den Minimalismus und die Sakralität, in Formvollendung vereint wiederfanden.
Dennoch hatte wohl keiner daran gezweifelt, daß dieses kühne Unterfangen, das auf nicht weniger als die künstlerische Vereinnahmung eines derart wirkkräftigen Raumes abzielte, nur mit Ausstellungen erfolgreich sein können werde, die dieser kolossalen Kulisse auf Augenhöhe begegnen. Es schien jedoch nicht jedem bewusst zu sein, daß filigrane Zeichnungen und zarte Schwarz-Weiß-Fotografien unter diesen Betonmassen zwangsläufig untergehen müssten – jedenfalls war es die einzige, wenn auch eindrucksvolle Lehre aus der ersten hier gezeigten Ausstellung, die zwar die Kirche als ein Beispiel für öffentliches Bauen direkt thematisierte, doch trotz ihrer inhaltlichen Qualitäten auf den Rang eines Schülerprojektes degradiert wurde. Zwar war es nicht König, der sich hierfür verantwortlich zeichnen musste, doch auch die darauf folgende Schau, die gleichsam das Debüt der Galerie in den bald zu beziehenden Räumen markieren sollte, hatte keine Lehren aus diesem Fehlstart gezogen. Statt einen der Künstler zu wählen, die mit einem solchen Raum umgehen können – eine der Farbgewalten Katharina Grosses wäre mit dem Grau sicherlich ebenso sehr auf Tuchfühlung gegangen, wie eine der Bauminstallationen Michael Sailstorfers oder vielleicht eine der größeren Installationen Monica Bonvicinis hier das nötige Momentum aufgebaut hätten –, statt also sich für eine nicht nur raumgreifende, sondern auch raumdurchmessende Position zu entscheiden, präsentierte König zum diesjährigen Gallery Weekend mit Alicja Kwade ein simples Foucault’sches Pendel, wie man es aus jedem mittelgroßen Technikmuseum kennt. Ergänzt um eine Glühbirne und eine Soundkomponente konnte »Nach Osten«, so der mystische Titel der Arbeit, zwar einige Kritiker begeistern, war doch aber im Kern nichts weiter als eine naive, sich auf einem bescheidenen Niveau ausruhende Installation, die weder den zugrunde liegenden Prinzipien, noch der Ideengeschichte des Foucault’schen Pendels oder aber gar, viel gravierender, dem Raum Rechnung trug. Manch ein Autor vergaß bei all der Entzückung über vermeintliche ontologische Sinngefüge, die man getrost als groben Unfug verstehen durfte, daß für eine solch raumgreifende Arbeit nicht zuletzt, wenn nicht gar an erster Stelle nun einmal der Raum von Belang ist. Dies war bei Kwade trotz der hübsch anzusehenden Lichtspielereien nicht der Fall und so musste man weiterhin auf einen Beweis warten, daß ein Ausstellungsmacher dieser Räume Herr werden könnte.

Hier und da tropft es noch von der Decke, aber das wird bald behoben sein.
Nachdem in der Zwischenzeit einige Modenschauen, Lesungen und Produktpräsentationen die Kirche ebenfalls nicht zu würdigen wussten, stattdessen ihre Kulisse für billige Effekthascherei missbrauchten, kehrte vor wenigen Wochen die Kunst nach St. Agnes zurück und ließ die sehnsuchtsvolle Hoffnung zu, daß es nun endlich spannend werden könnte: Denn angekündigt war Jeppe Hein, der mit seinen aufwendigen Spiegelscharaden zu den profiliertesten Installationskünstlern der Galerie gehört. Tatsächlich kommt spätestens seit 2007 kaum eines der Werke des Dänen ohne eine spiegelnde Oberfläche aus, zumal die meisten dieser Skulpturen und Objekte die entsprechenden Effekte durch kinetische Komponenten weiter multiplizieren. Bereits ein kurzer Überblick über diese Schaffensperiode offenbart, daß etliche dieser Objekte als Mobiles konzipiert sind (»Mobile Mobile«, »7‑Dimensional Mirror Mobile«) oder mit rotierenden Elementen arbeiten (»Rotating Views«, »Rotating Pyramid« etc.).

Jeppe Hein: »360° Illusion III«; Foto: Matthias Planitzer
Eines dieser sich stetig drehenden Spiegelinstallationen hat Hein unter dem Titel »360° Illusion III« auf der Orgelempore zu St. Agnes installiert, gerade so, daß sie mitten in das sich daran anschließende Mittelschiff hineinragt. Zwei senkrecht miteinander verspannte, längliche Spiegelflächen rotieren dort bedächtig um ihre gemeinsame Achse, gerade so wie auf diese Weise die hölzerne Decke samt der sie flankierenden Oberlichter, die mit Spritzbeton verkleidete Schmuckfassade sowie der reichlich abgenutzte Boden langsam durch die doppelte Spiegelfläche rotieren, auf der sich ihre strengen Linien immer wieder neu brechen und teils nicht mehr zuzuordnende Bildflächen begrenzen. Doch als ob dieser kaleidoskopische Scherbenhaufen nicht schon verwirrend genug wäre, sorgen leichte Unebenheiten in der hochglanzpolierten Oberfläche für vielfältige, oftmals bizarre Verzerrungen der sich auf ihr stetig neu zerspringenden geometrischen Ordnung. »360° Illusion III« lenkt wie eine Camera lucida den Blick durch den Raum, um seine Elemente einzeln zu erfassen und zu vermessen. In gemächlicher Ruhe, nur gelegentlich vom leisen Knarren und Ächzen des stählernen Gerüsts gestört, durchzieht die Installation den sich um sie herum aufspannenden Raum, fängt auf diese Weise die Stimmung ein und trägt zu einer Sakralität bei, die freilich weiterhin größtenteils vom Raum selbst ausgeht.
Friedhelm Mennekes hätte daran sicherlich seine Freude gehabt – der Jesuitenpriester und Kurator verfolgte lange Zeit in der Kunst-Station Sankt Peter Köln erfolgreich den Ansatz, daß Sakralität nicht durch Symbole und Zeichen, sondern durch Leere und Ruhe getragen werde. Demnach ist Sakralität eine Eigenschaft primär des Raumes, nicht der darin enthaltenen Gegenstände oder darin abgehaltenen Rituale. Man wird zwar Jeppe Hein nicht unterstellen können, daß er diese Beziehung zu eben diesem Zweck bewusst herausarbeitete, als er sich dazu entschied, in St. Agnes »360° Illusion III« zu installieren. Man kann jedoch konstatieren, daß er die Ruhe und Leere des ihm zur Verfügung stehenden Raumes bewusst nicht störte (ganz im Gegensatz zu den Künstlern und Ausstellungsmachern, die hier vor ihm wirkten). Denn weder laute noch grelle Effekte, weder symbol- noch inhaltsüberladene Kunst werden gezeigt. Heins Spiegel bleiben stumm und lauschen in den Raum hinein.
Zwar werden neben der Installation noch einige neue Arbeiten aus seiner Klangschalen-Serie »Frequency Watercolours (D)«, sowie eine unermüdlich läutende Sound- und Lichtarbeit »Pulse« gezeigt. Diese verschwinden jedoch glücklicherweise in den Seitenschiffen, wo sie von jedem engeren Kontakt mit dem Hauptraum ausgeschlossen werden (dort aber im Ensemble mit den bunten Tropfwassereimern ein hübsches Bild abgeben). So kann das Hauptschiff ruhig und leer bleiben, für sich selbst wirken und sich gelegentlich in den kaleidoskopischen Spiegelflächen zerstreuen. Schließlich wurde es Zeit, daß dieser anspruchsvolle Bau endlich die Ausstellung erhielte, die ihm würdig wäre. Jeppe Hein hat diesen überfälligen Tribut gezollt.
Dieser Artikel erschien am 15. Oktober im KUNST Magazin, in meiner Kolumne Das Schlußwort.