Die Operation der Verschiebung

06. September 2013 von Matthias Planitzer
Sinta Werners Einzelausstellung »Die Operation der Verschiebung« in der Galerie Alexander Levy versammelt neue Arbeiten, in denen die Berliner Künstlerin Bild und Raum durch perspektivische Verzerrungen verschränkt und dadurch zu einer neuartigen, überraschenden Wahrnehmung urbaner Räume gelangt.

Ausstellungsansicht "Die Operation der Verschiebung", Sinta Werner in der Galerie Alexander Levy; Foto: Matthias Planitzer

Sin­ta Wer­ner löst mit chir­ur­gi­scher Prä­zi­si­on die Metrik der ihr zur Ver­fü­gung ste­hen­den Bild­sphä­ren auf, um die dar­in ent­hal­te­nen For­men und Ele­men­te als Ver­satz­stü­cke zu mobi­li­sie­ren und sie im Anschluss nach Belie­ben in eine neue Räum­lich­keit zu über­füh­ren. Dann lie­gen Fas­sa­den in Fal­ten, Bal­ko­ne beu­len sich her­vor, gan­ze Gebäu­de krüm­men sich oder, im Gegen­teil, wer­fen ihre Hül­le wie eine aus­ge­brei­te­te Schlan­gen­haut ab. Für die­se Raum- und Bild­ope­ra­tio­nen bevor­zugt Wer­ner auf­grund ihrer for­ma­len Stren­ge monu­men­ta­le Archi­tek­tur, deren Lini­en und Flä­chen sie teils bis aufs Äußers­te per­spek­ti­visch ver­zerrt. Dadurch wird nicht nur der ursprüng­li­che Bild­raum gestört; es ent­steht dar­aus auch ein neu­er, ein hybri­der Raum vor dem Bild, der ähn­lich einer opti­schen Täu­schung die zugrun­de lie­gen­de Bild­ebe­ne um eine wei­te­re Dimen­si­on anrei­chert. Sin­ta Wer­ners Raum­ex­pe­ri­men­te sind jedoch nicht etwa fra­gi­le Trug­bil­der, die abhän­gig vom Betrach­ter­stand­punkt sich mal ent­fal­te­ten und dann wie­der zusam­men­brä­chen – ihre Kon­struk­tio­nen hal­ten jeder Prü­fung stand. Auf die­se Wei­se balan­cie­ren ihre Arbei­ten auf einem fei­nen Grat zwi­schen Foto­gra­fie und Skulp­tur und ver­har­ren somit in einem syn­the­ti­schen Zustand, der sich weder zur einen noch zur ande­ren Sei­te auf­lö­sen lässt.

Sinta Werner: "Off on a Tangent"; Foto: Matthias Planitzer

Sin­ta Wer­ner: »Off on a Tan­gent«; Foto: Mat­thi­as Planitzer

Mit der titel­ge­ben­den Werk­rei­he knüpft Sin­ta Wer­ner an bekann­te Wer­ke an, indem sie foto­gra­fi­sche Ansich­ten streng geglie­der­ter Archi­tek­tur in eine neue Räum­lich­keit über­führt. Für die Serie »Die Ope­ra­ti­on der Ver­schie­bung« greift sie Abbil­dun­gen aus dem Kata­log »Bau­meis­ter der Revo­lu­ti­on« der gleich­na­mi­gen Aus­stel­lung im Mar­tin-Gro­pi­us-Bau auf: Dar­aus ent­nimmt Wer­ner Foto­gra­fien rus­si­scher Avant­gar­de-Archi­tek­tur der frü­hen Sowjet­jah­re und bear­bei­tet sie mit dem Skal­pell, bis sie die hap­ti­sche Qua­li­tät eines Reli­efs erhal­ten. Dabei folgt die Künst­le­rin der sub­ti­len Logik jener Gebäu­de, wenn sie Pilas­ter vom Papier abhebt oder Brüs­tun­gen zu spie­le­ri­schen Kräu­seln verdreht.

Dar­in las­sen sich bereits die per­spek­ti­vi­schen Ver­schie­bun­gen erken­nen, die auch die wei­te­ren aus­ge­stell­ten Arbei­ten maß­geb­lich prä­gen. Für die Skulp­tur »Off on a Tan­gent« ver­zerrt Wer­ner den Bild­raum einer Foto­gra­fie, wel­che das Haus der Sta­tis­tik und das Haus der Gesund­heit abbil­det. Indem sie die geziel­te Krüm­mung der jewei­li­gen Geo­me­trien auf groß­for­ma­ti­ges Alu-Dibond über­trägt und die bei­den Frag­men­te mit­ein­an­der ver­schränkt, fügen sich unver­ein­bar schei­nen­de Lini­en­fluch­ten neu zusam­men. Auf die­se Wei­se gelingt ihr die Neu­ver­mes­sung einer zuvor kar­te­sisch wohl geord­ne­ten Bild­sphärei n eine skulp­tu­ra­le Anord­nung, die ein­zig durch die­se per­spek­ti­vi­schen Hand­grif­fe ihre hybri­de Räum­lich­keit gewinnt.

Eine ähn­li­che Bild­stra­te­gie ver­folgt auch »Das Maß der sta­ti­schen Unbe­stimmt­heit«, eine wei­te­re skulp­tu­ra­le Posi­ti­on ihrer Ein­zel­aus­stel­lung. Eben­so wie in ihrer älte­ren Serie »Schat­ten­fas­sa­den I‑IV« (2012) fin­det sie auch hier in den orna­men­ta­len Blech­ver­klei­dun­gen sozia­lis­ti­scher Waren­häu­ser die kom­ple­xen Struk­tu­ren, die sie mit Bedacht auf­bricht und aus ihrer räum­li­chen Ver­fas­sung löst. Ihre älte­ren, gerahm­ten Arbei­ten aus die­sem Werk­kom­plex mün­den hier nun erst­mals in eine raum­grei­fen­de Instal­la­ti­on, die zunächst an einen viel­glied­ri­gen Para­vent erin­nert. Dazu fer­tig­te sie ein Papp­mo­dell an, das sich von der Fas­sa­de eines Dresd­ner Kauf­hau­ses ablei­te­te, foto­gra­fier­te und repli­zier­te es in ver­grö­ßer­tem Maß­stab aus Alu-Dibond. Durch kom­ple­xe Fal­tun­gen und Schnit­te ent­lang der im Druck noch sicht­ba­ren Kan­ten über­führt die Künst­le­rin den Bild­raum erneut in einen skulp­tu­ra­len Raum. Die Situa­ti­on wird »auf­ge­dop­pelt«, wie Wer­ner sagt: Wäh­rend die Schat­ten des Modells in der Foto­gra­fie mit der Bild­ebe­ne ver­schwim­men, wer­den sie durch die neu­er­li­che Kon­fi­gu­ra­ti­on im Aus­stel­lungs­raum mit neu­en Schat­ten kon­fron­tiert. Auf die­se Wei­se ent­ste­hen nicht nur kom­ple­xe Per­spek­ti­ven, son­dern auch Licht- und Schat­ten­mus­ter, die die ursprüng­li­che Gestalt des Modells wie auch der Waren­haus­fas­sa­de so weit dekon­stru­ie­ren, daß bild­li­che und räum­li­che Kom­po­nen­ten nur mit Mühe unter­scheid­bar sind. Das Modell bleibt dank eini­ger fei­ner Papp­f­ran­sen erkenn­bar, wohin­ge­gen das archi­tek­to­ni­sche Vor­bild ledig­lich wegen sei­ner Form­ver­wandt­schaft zu erah­nen ist.

Sinta Wer­ner: »Das Maß der sta­ti­schen Unbe­stimmt­heit«; Foto: Mat­thias Planitzer

Sin­ta Wer­ner: »Das Maß der sta­ti­schen Unbe­stimmt­heit«; Foto: Mat­thias Planitzer

Sol­chen unge­nau­en Details ist es auch zu ver­dan­ken, daß die Gegen­über­stel­lung des Zen­trum Kreuz­bergs, einem Sozi­al­bau am Kott­bus­ser Tor, mit sei­nem Papp­mo­dell gelingt. Die mehr­tei­li­ge Foto­do­ku­men­ta­ti­on »Die sze­ni­sche Auf­lö­sung« nutzt ähn­li­che per­spek­ti­vi­sche Grö­ßen­ver­schie­bun­gen, um die Brü­che in die­sem insze­nier­ten Arran­ge­ment sicht­bar zu machen. Auch hier wird der syn­the­ti­sche Bild­raum durch klei­ne­re Imper­fek­tio­nen des Modells ad absur­dum geführt. Letzt­lich ent­tarnt Sin­ta Wer­ner aber sowohl »Das Maß der sta­ti­schen Unbe­stimmt­heit« als auch »Die sze­ni­sche Auf­lö­sung« mit­tels per­spek­ti­vi­scher Unge­reimt­hei­ten, die gera­de sub­til genug sind, um nicht sofort auf­zu­fal­len, aber doch bald als stö­rend emp­fun­den werden.

Sinta Werner: "Die Operation der Verschiebung"; Foto: Matthias Planitzer

Sin­ta Wer­ner: »Die Ope­ra­ti­on der Ver­schie­bung«; Foto: Mat­thi­as Planitzer

In die­ser Hin­sicht ver­eint »Opfer der Selbst­über­schrei­bung« vie­le die­ser Raum- und Bild­stra­te­gien in einer in-situ-Arbeit, die sich schließ­lich dem Aus­stel­lungs­raum, dem Gebäu­de und sei­nem Innen­hof wid­met. Sin­ta Wer­ner hat hier­zu die klei­ne­re Fens­ter­front der Gale­rie foto­gra­fiert und mit einem grö­ßen­ge­rech­ten Druck tape­ziert. Die vor­ge­fun­de­ne Situa­ti­on über­schreibt sie mit unzäh­li­gen Frag­men­ten eines mono­chro­men, kon­trast­rei­chen Abbilds, das auf­grund sei­ner Belich­tungs­cha­rak­te­ris­tik über­ra­schen­de Licht- und Schat­ten­spie­le auf­weist. Doch obwohl der Bild­raum zwei­fel­los dem phy­si­schen Raum ent­spricht, kommt es zu per­spek­ti­vi­schen Ver­schie­bun­gen und Krüm­mun­gen. Da die Kame­ra auf­grund ihrer Zen­tral­per­spek­ti­ve not­wen­di­ger­wei­se eine Tie­fen ver­kür­zen­de Abbil­dung gene­riert, weist das tape­zier­te, zudem etwas ver­klei­ner­te Abbild viel­fäl­ti­ge Ver­zer­run­gen auf: Fens­ter­rah­men, Knau­fe und Schar­nie­re kom­men nicht deckungs­gleich auf­ein­an­der zu lie­gen, Inter­fe­renz­mus­ter entstehen.

Sin­ta Wer­ner prä­sen­tiert in ihrer Ein­zel­aus­stel­lung »Die Ope­ra­ti­on der Ver­schie­bung« bei Alex­an­der Levy einen neu­en, inhalt­lich und for­mal dich­ten Werk­kor­pus, der erneut eine wei­te­re Rei­fung ihrer künst­le­ri­schen Stra­te­gien in der Erfor­schung von Raum- und Bild­fra­gen erken­nen lässt. Mit scharf­sin­ni­gen Unter­su­chun­gen und prä­zi­sen Werk­zeu­gen dringt sie wei­ter zu den Impli­ka­tio­nen per­spek­ti­vi­scher Ein­grif­fe in (Bild-)Räume vor und ergänzt so ihre bis­he­ri­gen Arbei­ten auf die­sem Feld um Wer­ke, die an die­sen Erfah­run­gen als Grund­la­ge noch wei­ter dif­fe­ren­zier­te­rer Ver­suchs­an­ord­nun­gen und Beob­ach­tun­gen anknüpfen.

Die­ser Arti­kel erschien auch als aus­stel­lungs­be­glei­ten­des Kurzkritik.

Ausstellungsansicht "Die Operation der Verschiebung", Sinta Werner in der Galerie Alexander Levy; Foto: Matthias Planitzer

Aus­stel­lungs­an­sicht »Die Ope­ra­ti­on der Ver­schie­bung«, Sin­ta Wer­ner in der Gale­rie Alex­an­der Levy; Foto: Mat­thi­as Planitzer