Das Berliner Kunstpublikum überrannte vor wenigen Tagen zweierlei Großveranstaltungen: Richtig, einmal das Gallery Weekend, das – wenig überraschend – erneut seinen Dreh- und Angelpunkt im Kunstkalender behauptete; sowie in der Alten Münze die Präsentation des zweiten und weitaus größeren Teils der Arbeiten, die infolge des Aufrufs der Deutschen Bank KunstHalle eingereicht wurden. Während also das eine Publikum über die Hotspots der hohen Kunst flanierte, suchte das andere Alt-Berlin auf. Man kam sich kaum in Berührung. Kunstmacht und »Macht Kunst« trennten Welten voneinander.
In einer Stadt, die im In- und Ausland gern als Welthauptstadt der Kunst gefeiert wird, zumindest aber als der Wallfahrtsort all jener in der Kunst bekannt ist, die etwas auf sich halten, könnte der Gegensatz nicht größer sein: An jenem Wochenende wurde auch der letzte Skeptiker davon überzeugt, daß sich in Berlin zwei Kunstsphären berühren, die zwar auch in der restlichen Welt koexistieren, aber vielleicht nur hier so hart aufeinandertreffen.
Ein alter Hut, wird man sagen. Insbesondere der Stadtteil Neukölln ist längst als Künstlerdorf bekannt, in das viele junge, hippe Menschen ziehen, die hier den Geist der Stunde wittern. Bisher musste man jedoch mit Blick auf das künstlerische Schaffen konstatieren, daß in diesem Viertel nicht viel los war (Das Großevent 48h Neukölln gab alljährlich ein unfreiwilliges Zeugnis ab). Bisher war man sich einig, daß diese jungen Kreativen zwar aus allen Weltgegenden in dieses Künstlerghetto schwärmten, jedoch kaum ein echtes Talent, kaum ein vielversprechender Individualist diesen nur auf Sparflamme brennenden Schmelztiegel wieder verließ. Was die Kunst anging, blieb das Stadtviertel bisher gesichts‑, laut- und schließlich auch bedeutungslos. Bisher: das heißt, nach alten Urteilskriterien. Das sollte sich nun ändern.
Mit einem Geschenk an die Berliner inszenierte die Deutsche Bank nun den Neubeginn ihrer KunstHalle: Ein jeder war eingeladen, ein Kunstwerk einzureichen, das dann auch ausgestellt würde. Man kann davon ausgehen, daß etliche aus Neukölln kamen. Immerhin reiste manch einer sogar aus Hamburg an. Denn vermutlich war dies für viele Kunstschaffende die einmalige Gelegenheit, eines ihrer Werke in einem Ausstellungsraum hängen zu sehen. Der Aufruf traf auf offene Ohren, so viel ist sicher. Die Bilanz beeindruckt: 2135 Bilder wurden gezeigt, 6000 Besucher kamen am ersten Tag, unzählige weitere zur kurzfristig anberaumten Verlängerung, die den beispiellosen Erfolg noch einmal in den Schatten stellte. Publikum und Fachjury zeichneten acht Künstler aus. Die KunstHalle konnte indes mit »Macht Kunst« auf eine wirksame PR-Aktion zurückblicken.
Diesen Erfolg, die Freude und die Begeisterung der Teilnehmer und Besucher kann keiner schmälern. Das Künstlerprekariat blühte auf. Doch im Schatten des Establishments, das zeitgleich auf dem Gallery Weekend Homo ludens spielte, trägt auch diese zarte Pflanze welke Blätter. Die Preisträger würden hier keine Sekunde bestehen. Zu ordinär, zu harmlos, formal ungesättigt.
Dieser Blick aus olympischen Sphären kann auch lohnend sein, denn er offenbart, in welcher Krise die Berliner Kunstszene schon seit Jahren steckt. Gewiss, die Stadt bringt noch immer Neues hervor, das sich weltweit durchsetzen kann. Im Morgenrot der im Fernen Osten aufgehenden Sonne mag ihr Licht schwinden, aber noch zeichnen sich die Tendenzen in Berlin früh ab. Doch davon kann hier nicht die Rede sein, denn die Krise der Kunst steckt in ihrem Kern. Berlin scheint wie ein heller Stern am Horizont, der sich auf dem zweiten Blick als ein Komet offenbart, in dessen Schweif er seine Anhängerschaft nach sich zieht.
Das Ansehen als Kunststadt ist aber auch ihr Verhängnis. Von überall her strömen die Leute an die Spree, sie hören das Versprechen und versuchen ihr Glück. Ein wahrer Goldrausch. Dann lassen sie sich an den Ufern des Kunst-Klondike nieder und beanspruchen ihren Teil. Vielleicht wird ein Galerist aufmerksam. Oder gar ein Sammler. Die meisten bleiben jedoch unbemerkt. Das Stadtbild Berlins wird auch durch sie mitgeprägt, die den Berliner Traum des Ganz-groß-Rauskommens hoffnungsvoll weiterspinnen und nach außen verbreiten. Dann werden die Biographien junger, talentierter Künstler angeführt, die schon früh in den höchsten Kreisen verkehrten, mit Lob und Preis überhäuft wurden und alsbald international ausstellten. Aber auch solche strahlenden Sterne lassen die Masse in keinem besseren Licht erscheinen.
Diese Botschaft ist sicherlich keine Neuigkeit. Sie wird vielen längst bekannt sein. In ihr findet sich vielleicht auch der Grund, warum man oben nicht viel von unten hält. Man geht sich aus dem Weg. Gefährlich wird es erst dann, wenn sich eine allgemeine Arroganz einstellt, die das künstlerische Schaffen der vielen Namenlosen in ihrem Kern angreift, wenn aus der Untauglichkeit für den Kunstmarkt die Untauglichkeit als Kunst abgeleitet wird. Wichtiger als das persönliche Urteil ist jedoch die Frage, was dies für die Stadt bedeutet. Denn wie man sich auch dazu positioniert, man wird nicht bestreiten können, daß die künstlerische Qualität im Berliner Kunstmekka seinem Ruf weit nachsteht. In anderen Bereichen verhält es sich mit dem Elitarismus nicht anders; zum Vergleich soll die Gastronomie dienen: Wenn das kleine Schwarzwaldstädtchen Baiersbronn die höchste Dichte an Michelin-Sternen aufweist, heißt das nicht, daß auch die Currywurstbude Haute Cuisine serviert. Das heißt: Nicht alles, was aus Berlin kommt, ist auch hervorragend. Das heißt aber auch: Vieles, was nicht hervorragend ist, hat trotzdem seine Berechtigung.
Die Marke Berlin kann im Ausland noch gut funktionieren, innerstädtisch muss man jedoch kritisch Blickes beobachten, wie schwindende Qualität eine Absonderung der Masse von den etablierten Galerien vorantreibt. Diese nehmen nämlich nach wie vor eine Gatekeeper-Rolle für die gehobenen Kreise wahr, sind Richter über Qualität und Relevanz. Außen vor bleibt jedoch das stetig wachsende Heer an Jungkünstlern, das sich in seiner Welt aus Pop-Up-Galleries, Ein-Tages-Ausstellungen und Atelierschauen immer weiter im Kreise dreht. Eine Parallelgesellschaft bildet sich aus, die an Größe längst das Establishment überragt, sich aber mangels Einfluss und Teilhabe immer weiter aufbläst und den Ruf der Stadt immer weiter hinaus trägt. Noch können die Kunst und jene, die Gewinn aus ihr schöpfen, dieses Image zu ihrem Vorteil nutzen. Das wird jedoch eines Tages vorbei sein.
Manch einer fürchtet die Kunstblase platzen, ein anderer reagiert gelassen und weiß: Alles hat seine Zeit. Berlin sah seine großen Tage und es wird auch seine ruhigen Tage sehen. Auch wenn der Hype eines Tages wieder abebbt, wird es in dieser Stadt Künstler geben, die gut und erfolgreich Kunst schaffen. Wer jedoch fragt, wohin die Reise geht, wer fragt: »Quo vadis, Berlin?«, der hat diese Zeit nicht verstanden. Denn nach dem Sterben der Avantgarde gibt es keine Richtung mehr, keine Gewissheiten, nur viele Fragen. Das, was wir heute sehen, ist nichts anderes als noch im letzten Jahrhundert – mit dem Unterschied, das heute nicht mehr im Salon, sondern auf dem Podium und im öffentlichen Raum debattiert wird. Diskurse und Stile entstehen und vergehen in der Kunst; in ihrer Nachhut folgt die kulturelle Aufarbeitung bis in den Laienbereich hinein. Zur Zeit der Avantgardisten galt dies als Kitsch. Heute jedoch, wo die Kunst keine Pioniere mehr kennt, wo Tendenzen sich über längere Zeit herausbilden, fällt es schwer, Kunst von Kitsch zu unterscheiden.
Kein Metanarrativ, aber auch keine eklektizistische Nostalgie können da noch einen Anhalt bieten. In einer Zeit, die seit der Jahrtausendwende jährlich neue tiefgreifenden Krisen sah – die öffentliche Sicherheit, Umwelt, Finanzen, die Arabischen Staaten, ja, das Konzept der Demokratie, aber auch unsere Medienkultur und das Internet waren und sind im Umbruch –, haben die alten Maximen ausgedient. Während die Wolkenwanderer noch immer stur den Formen und Konzepten nachsinnen, reagiert eine junge, vernetzte und hierarchielose Künstlerschaft mit einer Strategie des Fragens und Forschens, immer auf der Suche nach Lösungen, Auswegen und Gewissheiten. Wer noch vor fünfzehn Jahren dem überheblichen Irrtum aufsaß, daß Berlin der Mittelpunkt der Kunstwelt darstelle, wird heute einsehen müssen, daß diese Fragen nur global beantwortet, daß diese Probleme nur in der Weltöffentlichkeit gelöst werden können. Es bedeutet für die Kunst aber auch, daß sich die Eliten auf einen pragmatischen Dialog mit der Masse einstellen müssen, wenn sie weiterhin relevant sein möchten.
Vor diesem Hintergrund bleibt jedoch ungeklärt, ob die in Berlin gewachsenen Strukturen – das Kunstestablishment auf der einen und die mehrheitlich zugezogenen, jungen Künstlerscharen auf der anderen Seite – flexibel genug sind, um diesen Wandel gemeinsam zu bestreiten. Andernfalls droht dieser Stadt das, was man ihr mitunter auch wünschen möchte: Es würde bald sehr ruhig.