
Dieser Artikel erschien am 15. Februar im KUNST Magazin, in meiner Reihe Das Schlußwort.
Es ist schon fast eine Hieroglyphenschrift, die Gerwald Rockenschaub entwickelt hat: Mit Sinn für’s Wesentliche reduziert er die Abbilder verschiedenster Objekte, führt sie bis an die Grenze zur Abstraktion heran und gibt doch dabei Acht, daß sie noch immer lesbar bleiben. Manches dieser Piktogramme ist noch zweifelsfrei als Stuhl oder Trikot erkennbar, andere sind immerhin als Leitern oder Spiegeleier denkbar und wieder andere sind bestenfalls noch als Linienzüge oder Farbkleckse dechiffrierbar. Auf diese Weise erschuf er in seinem bisherigen, unüberschaubaren Werk ein Archiv der zeitgenössischen Bilder ohne jedoch ihre ikonographischen Implikationen außer Acht zu lassen. Seine Piktogramme und ihre Kraft, einen zeitlich definierten Bildkorpus zu destillieren und in ihrer reduzierten Form wiederzugeben, waren schon häufiger Gegenstand der kunsttheoretischen und ‑kritischen Literatur und haben bis heute nichts an ihrer Wirkung verloren.

Dennoch ist ein erneuter Blick auf Rockenschaubs bisheriges Werk angebracht. Nie wurde es in einer solchen Fülle unter einem Dach ausgestellt wie in seiner Schau »multidial«, die im vergangenen Sommer die große Halle des Kunstmuseums Wolfsburg ganz für sich einnahm. Auf insgesamt knapp 700 Quadratmetern gezimmerter MDF-Wand zwängte er seine Figuren so dicht beisammen, daß man nur erahnen konnte, wie viele Piktogramme es nicht in die engere Auswahl geschafft haben mochten. Dem Besucher stellte sich so ein überwältigender Fundus der Rockenschaubschen Bilderwelt dar, die er nur in geduldsamen Stunden überblicken konnte.
Diesen monumentale Einblick in Rockenschaubs Bilderwelt konnte jedermann bis zum September des vergangenen Jahres wagen, ehe »multidal« Mitte des Monats demontiert werden sollte. Die Installation verschwand jedoch keineswegs in den Archiven. Rockenschaub reiste eigens aus Berlin an um zehn Ausschnitte zu bestimmen, die der Wand entnommen und eigens konserviert werden sollten. Seit Mitte Januar werden diese Fragmente in der Folgeausstellung »Redial« in der Galerie Mehdi Chouakri ausgestellt: »stabile, mit weißer Dispersionsfarbe gestrichene MDF-Tafeln mit Bildmotiven aus dauerhaft selbstklebenden Farbfolien«, wie es mit feiner Poesie im Ausstellungstext heißt.

Nun lässt sich viel argwöhnen über die Motive, die den Entschluss zu »Redial« trugen. Der Archivierungszweck steht außer Frage: außer den zehn gezeigten Fragmenten existiert kein Überbleibsel der aufwändig angefertigten Installation aus »multidial«. Über die künstlerische, aber auch die unternehmerische Intention lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren – viel interessanter scheint da der konservatorische Aspekt und das Verhältnis zwischen dem Fragment als Exponat und dem Original als de facto zerstörter Kulturträger.
Die Ausschnitte aus Rockenschaubs »multidial«, die in der Galerie Mehdi Chouakri versammelt sind, drängen förmlich auf diese explizite Beziehung. Ohne das Wissen um ihre Herkunft imponieren die Signets zwar zunächst als eigenständige Werke, fallen jedoch umso schneller durch die Zeichen ihrer Imperfektion auf. Fugen und Spalten, Nagelungen und Splitter durchqueren die MDF-Platten und wirken so wie unglückliche Narben in der akkurat austarierten Komposition. Diese Fehlstellen beeinträchtigen die Strahlkraft der abstrahierten Figuren und verhindern wirkungsvoll, daß sie sich von ihrem materiellen Untergrund abheben können. Obgleich die Piktogramme ihren Effekt nicht völlig verfehlen, sind sie doch spürbar darin gehindert, eine Wirkung zu entfalten, wie man sie von Rockenschaub kennt.

Zwar löst sich das Mysterium schnell auf, wenn man erfährt, welchen Weg die zehn Arbeiten zurückgelegt haben. Daran schließen sich jedoch weitere Fragen an, die die Fragmentarität dieser Exponate betreffen. Schließlich ist aus den in »Redial« ausgestellten Bruchstücken nicht zu ersehen, welcher Gestalt das Original war, auch nicht, welche überwältigenden Dimensionen es einnahm. Allein die Größe lässt sich kaum annähernd erahnen, obgleich der eigenwillige Rhythmus der Fugen und Spalten implizit darauf hinweist. Einen konservatorischen Zweck kann »Redial« also nicht erfüllen, denn die hier ausgestellten Fragmente können genauso wenig das nicht mehr erhaltene Original erfassen wie die bunten Betonsplitter, die heute in deutschen Wohnzimmern an die Berliner Mauer erinnern.
Die Bruchstücke aus Rockenschaubs Großinstallation »multidial« sind also lediglich eine Memorabilie, die zwar noch die Erinnerung beflügeln, dem zugedachten Gegenstand allerdings nur noch einen Platz im Gedächtnis einräumen. Daß dieser notwendigerweise abstrahiert, subjektiviert und entfremdet ist, dürfte zu Rockenschaubs Kalkül gehören, schließlich hätte er sonst Ausschnitte wählen können, die keinen Hinweis auf ihre Fragmentarität in Form von genagelten Fugen geben. Tatsächlich mißachtet die Schnittführung im Falle manch eines Bruchstückes, wie etwa »Multi/Redial I«, die Ausmaße der dargestellten Piktogramme, durchtrennt sie und ordnet sie – nun ihrer Symbolwirkung beraubt – neu an. Die kontextuelle Einordnung in das ursprüngliche Gefüge wird dadurch nicht nur erschwert, sondern stellenweise auch unmöglich gemacht.

An dieser Stelle empfiehlt sich ein Hinweis auf die Diskussion, die sich um Cyprien Gaillards Installation »The recovery of discovery« entspann, die er als riesige Bierpyramide in den KW Berlin installierte. Am Beispiel des Pergamonaltares und der Biermarke Efes kritisierte Gaillard darin eine Kulturhegemonie, die durch den Export und Zurschaustellung fremder Kulturgüter außerhalb ihres ursprünglichen Zusammenhangs zu einer Entfremdung beiträgt. Die fragmentarische Entnahme von Exponaten aus ihrer Umgebung eliminiert in seiner Installation den Sinnzusammenhang, der sich in der Fremde nicht mehr herstellen lässt.
Ähnlich verhält es sich auch mit Rockenschaubs »Multi/Redial«, das zwar noch spürbar den Bezug der Exponate zum Original vermittelt, sie jedoch nicht zu einer sinnstiftenden Einheit verbinden kann. Allerdings muss dieser Aspekt nicht notwendigerweise eine Kritik an geltender Kulturpraxis sein. Rockenschaub, von dem bekannt ist, daß er sich nicht mit der rechten Deutung seiner Werke aufhält, sondern lieber nur den Anstoß liefert, hat vermutlich kein Lehrstück über Kulturkonservierung im Sinn gehabt. Dennoch, und das ist nicht von der Hand zu weisen, hat er wieder einmal das getan, was er mit seinen Piktogrammen seit jeher bewirkte: Er hat der Öffentlichkeit ihre Bilder gezeigt. Die Frage, ob diese darstellen, was sie versprechen, bleibt glücklicherweise offen.