Kurz nach 19 Uhr war es noch ruhig im Schinkel-Pavillon. Eine Handvoll Gäste war zu der Ausstellung gekommen, ein Teil machte es sich bereits mit kühlem Bier auf der Terrasse gemütlich. Wer nun wieder ging, hat sich mitunter gewundert, ob er sich nicht im Ort geirrt hatte. Denn der gefeierte Liebling der Berliner Kunstszene, der in der Hauptstadt ansässige Franzose Cyprien Gaillard zieht für gewöhnlich Besuchermassen an, deren Umfang nicht nur stetig wächst, sondern deren Fortbleiben längst undenkbar wären. So wirkte seine Ausstellung »What it does to your city« in jenen frühen Minuten tatsächlich unwirklich leer. Doch bereits wenig später – eine Performance des Jungstars war angekündigt – füllte der Besucherstrom Ausstellungsraum und Terrasse des Pavillons bis in alle Ecken aus. Jeder wollte einen Blick auf das jüngste Werk jener Lichtgestalt der Berliner Kunstszene legen, die erst im vergangenen Jahr den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst gewann und zuvor durch ihre Bierpyramide in den KW Berlin wenigstens stadtweite Bekanntheit erlangte. Die Verhältnisse nahmen bald absurde Züge an und so blieb die Frage: Worin besteht das Geheimnis um den Kult des Cyprien Gaillard?
Der gestrige Abend im Schinkel-Pavillon vermochte immerhin die Ausmaße des Phänomens verdeutlichen. Nun, zunächst zur Ausstellung: kann getrost vernachlässigt werden. Die Performance: bedarf ebenfalls keiner Worte, zumal man gleiches bereits von Anne Troake kennt. Der Höhepunkt des Abends bestand tatsächlich in dem Spektakel – für viele jenes, das Gaillard lieferte, für manch anderen das, welches der Anblick der Besuchermassen bot. Einzig Thomas Struth wurde vermisst. Solch eine Chance bietet sich schließlich selten.
Nachdem sich herumsprach, daß die Performance wie angekündigt auf dem Grund der benachbarten Baustelle stattfinden und ferner die Räumlichkeiten nicht ausreichen würden, um jedem einen unverdeckten Blick zu gönnen, kam es zu Szenen, die absurder nicht hätte sein können. Die Balustrade der erhöht gelegenen Terrasse war als erstes besetzt. Bald kletterten die Leute aus den Fenstern des Schinkel-Pavillons, ließen sich auf den Simsen nieder, bestiegen Stromkästen, Parkuhren und umherliegendes Tiefbaumaterial, brachen durch die blickdichten Zäune und erklommen sogar die Fassade der nahegelegenen Friedrichswerderschen Kirche – alles nur, um einen Blick auf die Performance des Gaillard erhaschen zu können. Einige Glückliche konnten sich einen Spalt am Bauzaun sichern, andere standen hierfür Schlange. Man sah nicht wenige, die in der Dunkelheit hastigen Schrittes über die Bordsteinkanten stolperten.
Ein beachtlicher Anteil des Who-is-who der örtlichen Kunstszene war zugegen. Doch ein Gaillard bittet nicht lange und so waren die besten Plätze auch unter ihnen nicht weniger umkämpft. Ob die Anstrengung sich gelohnt hat: daran scheiden sich die Geister. Fest steht: Das Spektakel war kurz, die Masse war erregt.
Die Werke Cyprien Gaillards wären massentauglich, gefällig gar – diese Behauptung hörte man im Gespräch immer wieder. Man kann es nicht ganz leugnen: Gaillard zieht die Massen an. Doch damit ist noch nicht geklärt, worauf sich der Hype um den jungen Franzosen begründet. Ist es die Poesie seiner Ästhetik des Artefakts? Die Melancholie des janusköpfigen Fragments? Ist es sein Talent, Kunst zur Show werden zu lassen?
Man mag mitunter in letzterem einen Grund für die Anziehungskraft Cyprien Gaillards erkennen. Wie auch schon andere Künstler seiner Zeit – etwa Janet Cardiff und George Bures Miller oder Olafur Eliasson – versteht er es, den Betrachter an seine Werke zu binden, sodaß er inne hält, eine Zeit lang damit in Kontakt tritt und so eine immersive Wirkung auf sich entfalten lassen kann. Dieser Zauber kann so weit gehen, daß die tiefen Bedeutungsebenen seiner Arbeiten, die letztlich einen Großteil ihrer Klasse ausmachen, gar nicht mehr bemerkt werden. So war »The recovery of discovery« für viele begeisterte Besucher vor allem ein gemeinschaftlicher Umtrunk, bei dem die Arbeit nach und nach abgetragen und zerstört wird. Die vielfältigen Sinnrelationen zum Pergamon-Altar und damit dem doppelten Artefakt, das Gaillard hier in einzigartiger Weise analog thematisierte, blieben oftmals unbeachtet.
So stand auch am gestrigen Abend das Spektakel im Vordergrund, während der Ausstellungstext dürftige Parallelen zu Walter de Marias minimalistischer Konzeptkunst zieht, statt den Ort der Performance vor dem Hintergrund seiner langen Historie aus Kaiser‑, Kriegs- und DDR-Zeiten zu würdigen. Hier sollen bald Townhouses entstehen, die die einstige Situation als Wohngebiet wieder herstellen – wenn auch die Einkommensstruktur der Anwohnerschaft verkehrt und dafür die benachbarte Friedrichswerdersche Kirche buchstäblich in den Schatten gestellt wird. Kritische Töne an dem fehlenden Umgang mit Artefakten als Teil einer bewussten und nachhaltigen Stadtentwicklung wurden hier jedenfalls nicht angestimmt, obwohl es nicht überraschen dürfte, wenn Gaillard bei der Ortswahl für seine Performance auch daran gedacht hätte. Die schaulustigen Besucher jedenfalls scheint es nicht zu kümmern: das Spektakel allein schien sehenswert genug, um die Köpfe in die Höhe zu strecken.
Am Ende des Abends konnten immerhin die Mitarbeiter des Schinkel-Pavillons zufrieden sein: Das Haus war voll und das Gespräch auf ihrer Seite. Doch zumindest noch einer weiteren, ganz besonderen Gruppe hatte der Abend viel Freude bereitet: Die Laiendarsteller der Performance, denen somit eine ungewohnte Aufmerksamkeit zuteil wurde, fanden sich später zum feierlichen Bier auf der Terrasse des Pavillons ein. Schon am nächsten Morgen würde ihr sie Alltag wieder haben.