Kunst und Wissenschaft liegen gar nicht so weit auseinander. Diesen Eindruck gewann man jedenfalls, wenn man das Berliner Ausstellungsprogramm der vergangenen Wochen aufmerksam beobachtete. Unter all den Kronjuwelen, die die Teilnehmer des Gallery Weekends ausstellten, aber auch im Vorfeld fand man einige Beispiele, die wissenschaftliche Themen, Methoden und Prozesse künstlerisch aufarbeiteten. Insbesondere die Naturwissenschaften standen im Fokus der Künstler, die das Berliner Publikum in diesen Wochen auf einen Exkurs einluden, welcher oftmals in musealer Qualität vorgetragen wurde.
Auf ihrer Führung durch die Wissenschaften setzten Tomás Saraceno, Ulrike Heise und Alicja Kwade Experimentalsysteme ein, die als Teil ihrer jeweiligen künstlerischen Praxis auf einem ungewohnt nüchternen Weg Erkenntnis über ihren Gegenstand hervorzubringen versuchten. Ergebnisoffen und frei arbeiteten sie auf Untersuchungsergebnisse hin, die als objektiv gelten konnten. Erstaunlich war jedoch, in welchem Umfang sie diesen wissenschaftlichen Blick instrumentalisierten, um ihrer künstlerischen Absicht Ausdruck zu verleihen.
Dieser Schlenker in höchst seriöse Gebiete gelang oftmals so überzeugend, daß man fast darüber hinweg getäuscht werden konnte, daß Kunst und Wissenschaft traditionell eigentlich Welten trennen. Dabei hatten doch beide stets dasselbe Ziel vor Augen, nämlich Erkenntnis über den Menschen und seine Umwelt zu erlangen. Die Ansätze waren jedoch grundverschieden: Während die Kunst (zumindest auf lange Zeit) durch den erleuchteten Genius Licht ins Dunkel brachte, sah sich die Wissenschaft im unverklärten Urteil des Logikers bestätigt. Eine emotionale, gelegentlich auch temperamentvolle Subjektivität war mit dem Anspruch an eine trockene, unbestechliche Objektivität schlicht nicht zu vereinbaren.
Ganz so einfach verhielt es sich dann aber doch wieder nicht, schließlich war keiner dieser Begriffe in Stein gemeißelt. So wandelte sich etwa die Vorstellung, was Objektivität begründe, in einem Jahrhunderte währenden Prozess, den man als echten Thriller bezeichnen kann. Was die Historie betrifft, war es der gründlichen Aufarbeitung Lorraine Dastons und Peter Galisons zwischen 19921 und 20072 zu verdanken, daß der mächtige Begriff der Objektivität als der wacklige Grundstein der Wissenschaftsgeschichte identifiziert und freigelegt wurde. Vom Expertenurteil über die aufmerksame Beobachtung, das Bild, das Experiment und schließlich bis hin zum vergleichenden, kontrollierten Testversuch zeichneten sie nicht weniger als eine Stilgeschichte der Wissenschaftstheorie nach, die den wilden Turbulenzen der neueren Kunstgeschichte in nichts nachsteht. In ihren mittlerweile berühmten Schriften lieferten sie für viele Künstler aber auch ein Repertoire und eine Anleitung zum methodischen Arbeiten nach wissenschaftlichen Maßstäben.
Nun waren Dastons und Galisons Ausführungen gewiss nicht die ausschlaggebenden Lehrmeister einer sich in wissenschaftlichen Methoden übenden Künstlergeneration. Wer genauer nachforscht, wird entdecken, daß der Kontakt beiderseits schon lange mehr gepflegt wurde, als man zunächst vermuten mag. Es dürfte bekannt sein, daß die Maler der Renaissance als erste eine Vermessung und Inventarisierung ihrer Umwelt vornahmen, um daraufhin unter Berücksichtigung damals teils bekannter, teil noch zu erforschender physikalischer und biologischer Gesetzmäßigkeiten Bilder zu erschaffen, die dem Physischen ebenbürtig waren. Auf der anderen Seite bedienten sich Naturwissenschaftler, insbesondere Anatomen, Astronomen und Kartographen schon früh den künstlerischen Methoden ihrer Zeit, um Bilder zu erschaffen, die durch ihre Klarheit, Unmissverständlichkeit, aber nicht zuletzt auch ihre ästhetische Qualität als eine epistemische Strategie der Beweisführung wirksam waren. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war es keine Seltenheit, daß Wissenschaftler und Institute gleich mehrere Zeichner, Maler, Kupferstecher und Bildhauer beschäftigten, um das Gesehene aus seiner subjektiven Verhaftung in ein kommunizierbares Objekt zu überführen. In einer Zeit, in der das Augenmaß noch nicht durch die Fotografie abgelöst, und in der das Sichtbare auch noch nicht im Zweifel an der Unbestechlichkeit der Fotografie kompromittiert wurde, stellte das Gesehene den Goldstandard einer objektiven, wissenschaftlichen Praxis dar. Die Kunst, die bis dato als einziger Bildproduzent das Monopol über alles Bildliche besaß, kam zu diesem Zeitpunkt der Wissenschaft so nahe, wie lange nicht mehr.
Diese Sonderstellung der Kunst ging spätestens mit der Bevorzugung des Gemessenen über das Gesehene an die Technologie über, die die unbestechlichen Apparate bereitstellte. Die von Geräten unterstützte Wissenschaft setzte die lange Tradition des Experiments fort, welches als Frage an die Natur eine epistemische Strategie darstellte, die mit dem Bildzeugnis als Erkenntnisgegenstand brach. Wenn nicht schon früher, dann war im Experiment der Grundstein für den Objektivitätsbegriff gelegt, der auch heute noch gilt. Das Bild gehörte wieder ganz der Kunst, die sich fortan von der Wissenschaft wieder entfernen musste. Nur Charcots fotografisch geführte Beschreibung der Hysterie zog so viele Köpfe aus Kunst und Gesellschaft in die Salpêtrière, daß eine bildliche Einflussnahme auf künstlerische Bilder in nennenswertem Umfang stattfand. Seines Schülers Freuds freilich viel weit reichender Effekt auf die Künste ging vom geschriebenen Wort auf das – auch hier muss man eine Unterscheidung treffen – zusehends abstrahierte Bild über. Das Bild war aber nicht auf ewig aus der Wissenschaft verbannt. Als die Apparate imstande waren, schwer verständliche Parameter und komplexe Datensätze in einer visuellen Form aufzubereiten, wurde Wissen wieder – aber eigentlich: erstmals – sichtbar.
Es wäre sicherlich kühn, zu behaupten, daß sich die Kunst fortan aus bildlichen, vielleicht auch aus allen Prozessen der Naturwissenschaften heraushielt. Unbestreitbar ist nur, daß der Einfluss naturwissenschaftlicher Themen und Methoden im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr so sichtbar war wie noch zuvor. Mit dem Pointilismus findet man noch einen Stil, der sich offen auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützte; doch spätestens im Zuge der fortschreitenden Abstraktionsbemühungen musste auch dieser Einfluss an Sichtbarkeit einbüßen.
Vor diesem Hintergrund mag es erstaunen, daß Künstler wissenschaftliche Methoden heute nicht nur kommentieren, sondern auch aufgreifen und selbst einsetzen. Man stößt jedoch in der Mehrzahl nicht etwa auf bildliche, sondern auf Experimentalsysteme, die als Teil künstlerischer Strategien zum Erkenntnisgewinn eingesetzt werden. Im Gedächtnis geblieben ist etwa Carsten Höllers Rentierversuch “Soma“, der das Prinzip der vergleichenden Untersuchung implementierte. Auch die ebenfalls im Hamburger Bahnhof gezeigte Ausstellung „db“ Ryoji Ikedas bediente sich der Form des Experiments, um Zahlengewalten zu erschließen.
Saraceno, Heise und Kwade gingen indes in ihrer Instrumentalisierung wissenschaftlicher Methoden weiter. Sie zitierten nicht nur einzelne Aspekte, die drei Künstler und Künstlerinnen implementierten jeweils ganze Experimentalsysteme. Dies ging gelegentlich sogar so weit, daß lediglich der Ausstellungskontext auf die künstlerische Komponente einer Arbeit hinwies.
Tomás Saraceno hüllte Esther Schippers Räume am Schöneberger Ufer in Dunkelheit, in denen er von Sockeln getragene, filigrane Gerüste installierte, die dann während der Ausstellungsdauer von ausgesetzten Spinnen zu komplexen Skulpturen ausgebaut wurden. Unterschiedliche Arten waren an der Struktur ihrer Netze zu unterscheiden: Manche bauten in konzentrischen Ringen, die sich spiralförmig in die Höhe verdichteten und schließlich dicht wie Watte wurden, während andere Spezies den Raum mit ihren Fäden in homogeneren Mustern durchzogen.
Saraceno sorgte für ausreichende Fütterung und ideale klimatische Bedingungen und ließ von hier an den Spinnen freien Lauf. Einige gesammelte Schriften und Aufsätze unterschiedlicher Autoren zur Architektur der Netze diverser Arten (etwa unter Mikrogravitationsbedingungen) lieferten den entsprechenden wissenschaftlichen Hintergrund, um den Versuch Saracenos nicht etwa als kurzsichtige Träumerei dastehen zu lassen. Sie dokumentierten und erklärten die lebendigen Skulpturen, welche gleichermaßen Experiment als auch ästhetischer Ausdruck (ja, wessen?) waren.
Ulrike Heise ging nur wenige hundert Meter entfernt bei Klosterfelde noch einen Schritt weiter, Experimente unter ästhetischen Gesichtspunkten zu führen. Neben einigen anderen Exponaten, die sie in ihrer „Reizarmen Umgebung“ an der Potsdamer Straße versammelt hat, befindet sich eine Videoprojektion, die die Sektion eines Käfers dokumentiert. Gleich einer entomologischen Untersuchung und Artbestimmung dringt sie unter dem sichtbar machenden Blick des Mikroskops unter den Chitinpanzer des Tieres, legt die Organe frei und macht sie dem examinierenden Blick der Künstlerin, aber auch des Betrachters zugänglich. Der Titel gibt das Stichwort: „Nah und fern“. Denn wie zum Vergleich liegt der präparierte und fixierte Leib in Reichweite bereit; allein, die vielfache Auflösung des Films vermag ungemein tiefer zu dringen. Im Dickicht aus spiralig gewundenen Organen, weißem Fleisch, feinsten Gefäßen und zerfranstem Gewebe kämpft Heise sich mit einer einfachen Nadel vor. Der Betrachter kann als Zeuge nur neugierig abwarten und raten, was dabei zutage gefördert wird, geschweige denn erahnen, wonach Heise in diesem Käferkadaver sucht.
Bereits hier drängt sich der Vergleich zu Saracenos Spinnenskulpturen auf. Während dort das Experiment aus seiner Ziellosigkeit und Ergebnisoffenheit Ästhetik gewinnt und sich in diesem Rahmen voll entfaltet, steht sie in Heises Sektionsfilm der wesentlich dominanteren wissenschaftlichen Kühle und Strenge merkbar nach. Heises Video ist aber nicht etwa trotz, sonder eben wegen dieses Mangels an Freiheit ästhetisch. Ihre Handlungen und ihr Blick, den sie dem Betrachter aufzwingt, engen den Gegenstand auf seinen wissenschaftlichen Wert ein. Daß etwa das spiralige Organ des Käfers besonders hübsch anzusehen ist, spielt dafür keine Rolle. Denn nicht die einmal aufgefundene Struktur, sondern die Suche nach ihr – eben: die Präparationsschritte, Sektionsbewegungen und der immer gegenwärtige Blick auf die Sache – machen diese Ästhetik aus, die den vormals wissenschaftlichen Gegenstand zur Kunst erhebt.
Alicja Kwade treibt diese Aufreinigung des wissenschaftlichen Aspekts indes noch weiter auf die Spitze. Sie installierte in St. Agnes ein Foucaultsches Pendel, das zu den Klassikern der Wissenschaftsgeschichte und Museumspädagogik gehört. Das Pendel vollzieht im Laufe eines Tages gemächlich, präzise und standortunabhängig (nur am Äquator funktioniert es nicht) die Erdbewegung nach. Anschaulich gesprochen, bewegt sich unter ihm die Erdoberfläche weg und zwingt es in eine eiernde Bewegung, die erst nach Ablauf einer Erdumdrehung zu ihrem Ursprungspunkt zurück findet.
Alicja Kwade reduziert im Vergleich zu Ulrike Heise und, noch deutlicher, Tomás Saraceno, den ästhetischen Aspekt auf ein Mindestmaß, während das wissenschaftliche Experiment ganz im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht. Mit Licht und Ton geschmückt sowie im eindrucksvollen Kirchenraum platziert, gelingt ihr zwar eine gewisse Ästhetisierung ihres Foucaultschen Pendels. An der Sache: nämlich dem Pendel und des durch ihn veranschaulichten Naturgesetzes, ändert dies aber freilich nichts. Was in jedem naturkundlichen Museum bestaunt werden kann, wird auch durch Kwades Hand nicht zur Kunst – aber das muss weder eine Absicht gewesen, noch an dieser Stelle ein Vorwurf sein. Es zeigt lediglich, daß auch eine Künstlerin eine Wissenschaftlerin sein kann.
Damit trifft Kwade – vielleicht unfreiwillig – genau den Kern dieser hier nur kurz skizzierten Reihe (um von keiner Tendenz zu sprechen): Der Künstler gibt immer mehr den Wissenschaftler, der neue, objektive Wege zur Erkenntnis in sein (künstlerisches) Schaffen einbezieht.
In einer metamodernen Zeit der Desorientierung, die den Umwelt- und Finanzkrisen, den politischen und medialen Revolutionen nur noch mit Fragen und Forschen begegnen kann, kann der Künstler auch seinem persönlichen Urteil nicht mehr uneingeschränkt vertrauen. Auf der Suche nach Klarheit in der Trübnis kann er sich nur noch den Fakten zuwenden, die ihm die Wissenschaft mit seinen Methoden verspricht. Seine Gewissheit nährt er aus dem Vertrauen auf die Wissenschaft, seine Erkenntnis gewinnt er aus dem Experiment, mit dem er seine Umwelt befragt.