
Sinta Werner: »Das Scheitern der Oberfläche II«, Foto: Sinta Werner
Bruce Bridgeman war 67 Jahre lang in einer flachen Welt gefangen. Denn räumliches Sehen war ihm nicht möglich. Wenn andere ihn beispielsweise auf eine Amsel auf einem Ast hinwiesen, konnte Bridgeman ihn nicht erkennen. Der Vogel war Teil einer sich vor ihm ausbreitenden, unübersichtlichen Fläche aus Bäumen, Wiesen und Wolken, schlicht nicht auszumachen. Der Amerikaner hatte sich an diese Einschränkung bereits längst gewöhnt, als er im vergangenen Jahr das örtliche Kino besuchte, wo ein 3D-Film gezeigt wurde. Er war zunächst skeptisch, doch dann erlebte er eine verblüffende Überraschung: Sobald die Vorstellung begann, sprangen die Bilder in einer Weise von der Leinwand auf ihn zu, die er nie kannte. Bridgeman war begeistert.
Der Effekt sollte sogar anhalten: Nachdem er aus dem Dunkel des Filmtheaters trat, sah er die Welt mit anderen Augen. Häuser, Ampeln, Autos, Passanten, selbst der Dreck im Rinnstein wirkten auf ihn so lebendig wie nie zuvor. Von da an bewegte er sich in einer räumlichen Welt; die Ärzte ließ er rätselnd zurück.
Bemerkenswert bleibt die Beobachtung, daß es in Bridgemans Fall ausgerechnet die Oberfläche der Filmleinwand war, die ihm ein Raumgefühl schenkte. Aus dem Alltag ist uns bekannt, daß Räume sich im objektiven Blick der Kamera oder im geschulten Blick des Künstlers in einer gewissen perspektivischen Einstellung abbilden und umgekehrt durch den Betrachter imaginiert werden können. Diese bildlichen Kodierungs- und Dekodierungsprozesse entstammen jedoch einer Erfahrung und Praxis, die Bridgeman nicht haben konnte. Im flach geglaubten Bild musste demnach mehr Raum enthalten sein als zuvor vermutet. Aber war es nicht eigentlich eine raffinierte Illusion, die dem einfachen Bild einen wundersamen Raum abgewann?
Die Oberfläche ist gescheitert. So würde Sinta Werner urteilen, die im Rahmen ihrer zweiten Einzelausstellung in der Galerie Christinger de Mayo neue Arbeiten vereint, die dem Raum im Bild nachspüren und dadurch ihre äußert fragile Beziehung offenbaren.

Sinta Werner: »Stehende Welle«, Foto: courtesy die Künstlerin
Gezielt deckt Sinta Werner die Unsicherheiten und Brüche auf, die sich zwischen Raum und Abbild auftun, um sie gegeneinander zu verschränken und letztlich in Widerspruch oder gar ad absurdum zu führen. Ihre Fotografien, Collagen und Installationen sind jedoch kein herkömmliches Trompe-l’œil, dessen wundersame Illusion in jedem Moment zusammenbrechen könnte. Werner führt den Betrachter hinters Licht, um ihn sogleich auf die gelungene Täuschung hinzuweisen und letztlich darüber zu verunsichern, welche der angebotenen Wahrheiten über Raum und Bild noch zu vertrauen ist: Sinta Werner konstruiert einerseits aus Fotografien neuartige Räume und dekonstruiert andererseits in ausgeklügelten Interventionen vorgefundene Räume zu verzerrten Flächen, bis schließlich die Begriffe von Ebene und Raum in einer gemeinsamen Unschärfe verschmelzen.
In ihrer titelgebenden Fotoserie »Das Scheitern der Oberfläche« löst Sinta Werner einzelne Strukturelemente von architektonischen Körpern ab und überführt sie in eine geringfügige räumliche Dimension. Gekrümmte Brüstungen brechen aus vormals ebenen Parkhausfassaden heraus, Pilasterreihen stechen vom Papier hervor und gitterartige Schlitze zerfurchen eine gesamte Gebäudefront: Sinta Werner transponiert und multipliziert diese strukturellen Versatzstücke in den tatsächlichen Raum vor der Bildfläche, sodass sie den imaginierten Raumverhältnissen des planen Abbildes trotzen, sich gegen sie aufbäumen und sie letztlich sogar erweitern. Die Künstlerin platziert diese Interventionen bedacht und geschickt im Bildraum, gerade subtil genug um nicht völlig mit den Bildinhalten zu brechen, jedoch deutlich genug um der Architektur und den von ihr umgebenen Raum auszuweiten und auszubauen. Schließlich treibt Werner diese Praxis in der Serie »Möglichkeit des Offensichtlichen« auf die Spitze, wenn sie den Bildraum so stark verzerrt, zerteilt und neu ausrichtet, daß kaum mehr erkennbar ist, welche der sich vom Papier lösenden Strukturen vorgefunden und welche erst durch Werners Hand entstanden. Der Raum konkurriert hier mit dem Bild um Wahrheitsansprüche.

Sinta Werner: »Ambitious Grades of Self-Transcendence«, Foto: courtesy die Künstlerin
Sinta Werner erreicht diese Verwirrung auch vom anderen Ende her: Beispielhaft für ihre Eingriffe in vorgefundene Räume, die sich häufig als ortsspezifische Installationen artikulieren, steht in »Das Scheitern der Oberfläche« ihre raumgreifende Arbeit »Ambitious Grades of Self-Transcendence«. In der Mitte des vorderen Ausstellungsraumes der Galerie Christinger de Mayo errichtete sie eine sich kontortionistisch zur Decke windende Säule, deren Seiten in einem spiraligen Muster aus Kanten und Falten zerfurcht sind. Die dadurch auf der Oberfläche entstehenden Schattierungen erscheinen jedoch zunächst ungewöhnlich kontrastreich ausgeprägt. Erst beim näheren Hinsehen erkennt man, daß sie teils auf einer entsprechenden Bedruckung des Untergrundes beruhen. Werner hat hierfür am Modell die natürlichen Schattenverhältnisse studiert und im Druck auf die Installation aufgebracht. Diese Verstärkung – Werner spricht selbst von einer Aufdopplung – räumlicher Faktoren wie Ansicht, Licht und Schatten durch Manipulation der Oberfläche ist in Werners Werken häufiger anzutreffen. Durch die Abbildung räumlicher Objekte auf sich selbst zielt sie ebenso wie in den primär fotografischen Arbeiten auf eine Unschärfe zwischen Ebene und Raum ab: In der ausgeklügelten Resonanz zwischen beiden unvereinbar scheinenden Dimensionen entsteht die Illusion dieser neuartigen Raumformen, die sich jedoch schnell an subtil eingebrachten Widersprüchen brechen. Ob Raum oder Ebene, das lässt sich in Sinta Werners Werken nicht abschließend feststellen. In beidem ist etwas von anderem enthalten. Denn nicht nur das herkömmliche Verständnis der Oberfläche, auch der Raum ist gescheitert.
Dieser Artikel erschien als ausstellungsbegleitender Text.