
Während im New Yorker Zucotti Park die wenigen fest entschlossenen Demonstranten ausharrten, versammelte sich am 20. Oktober in der West 53 Street eine Gruppe von sechzig Personen und skandierte Parolen, die die Occupy-Bewegung bis dato nicht kannte. Hier, vor der matt glänzenden Glasfront des Museum of Modern Art, proklamierten sie »eine neue Kunstära«, die sich auf »echtem Experimentiergeist außerhalb der engen Parameter des Kunstmarkts« stütze. Das MoMA war nur einer der drei »Tempel des kulturellen Elitarismus«, an die sich der Protest der Demonstranten richtete: Auch die Frick Collection und das New Museum gerieten ins Visier der aufgebrachten Menge.
Die New Yorker Kunstschaffenden sind empört. Ihre Vorstellung des 99%-Prinzips sieht eine Egalisierung der Kunstwelt und ihre Abkopplung vom Kunstmarkt vor. Ihre Luftschlösser sollen Hallen der Kunst sein, die jedem Künstler einen Platz an der Wand reservieren und jedem Besucher freien Eintritt gewähren. Denn die 25 Dollar, mit denen etwa ein Besuch im MoMA zu Buche schlägt, sind den Demonstranten zu viel. Doch auf die qualitätsfördernde und konservierende Kraft der Institutionen und des Kunstmarkts fällt kaum ein lobendes Wort: Der lange Arm der Stiftungen und Konzerne sei eben zu lang, Geschäftsinteressen mischten sich in ein Gebiet ein, das der Öffentlichkeit zustünde.

Die Kritik fällt auch in Berlin auf fruchtbaren Boden, wo die Initiatoren der Biennale unlängst ein Flugblatt verbreiteten, in dem sie Auswege aus der prekären Lage des öffentlichen Kultursektors suchten. Darin kam auch der New Yorker Künstler John Miller zu Wort, der über die Mechanismen des in dieser Hinsicht besonderen Kunstmarkts seiner Heimat aufklärt:
»In den Vereinigten Staaten stammt das Geld für alternative Projekte überwiegend von Privatpersonen, Stiftungen und Unternehmen. Öffentliche Geldgeber spielen in diesem Bereich so gut wie keine Rolle. Die Gefahr des US-amerikanischen Modells liegt darin, dass es marktliberale Vorstellungen vom gesellschaftlichen Status des Kunstwerks begünstigt. Zwar sind öffentliche und private Geldgeber gleichermaßen bedeutend. Doch der entscheidende Beitrag zum Diskurs kommt von Künstlerinitiativen.«
So bietet wieder einmal die Kunst selbst ihre stichhaltigsten und pointiertesten Antworten auf ihre eigenen Probleme. Während hierzulande Olaf Nicolais Performance-Reihe »Escalier du Chant« in der Pinakothek der Moderne trotz dezidiert politischer Programmatik keinen Ton zur weltweit um sich greifenden Occupy-Bewegung anstimmt, sind es die New Yorker Künstler, die auffallen. Es kehrt halt jeder vor seiner eigenen Haustüre.

Wie treffend und humorvoll dies sein kann, zeigte kürzlich Zefrey Throwell, der seinem Unmut auf ungewöhnliche Weise Luft machte: Er ließ fünfzig Nackedeis die Wall Street infiltrieren und dort etwa die Straße kehren, Hotdogs verkaufen oder eben auch geschäftig Aktien handeln. Nachdem Throwell eine Statistik erhob, in der er die Berufe der Passanten der Wall Street erfasste, legte er die Rollen seiner Freiwilligen entsprechend fest und kreierte so eine parallele Öffentlichkeit – nur eben nackt. »Wall Street Exposed«, wie Throwell es selbst nennt. Die Doppeldeutigkeit dieser Worte ist klar: Die undurchsichtigen Machenschaften hinter den dicken Fassaden dieser kurzen, eigentlich eher unauffälligen Straße haben sich längst von ihrer Haftung in der Realität gelöst. Sparer wie auch Anleger waren und sind immer noch von der Finanzkrise betroffen – doch an der Wall Street blüht schon wieder das Geschäft.
Mit »Ocularpation« rang Throwell mehr als einen Monat vor dem Beginn der Occupy-Proteste um mehr Transparenz im Börsenhandel und zeigte auf, daß auch hier nur ganz gewöhnliche Leute am Werk sind. Fünf Minuten dauerte die Performance, dann schritt die New Yorker Polizei ein: Handschellen klickten, drei der Unruhestifter wurden vorerst festgesetzt. »Ocularpation« hat seine Wirkung jedoch nicht verfehlt: New York Times, CNN, Washington Post und sogar das Wall Street Journal führten ein breites Medienecho an, das der kurzen Performance einen weit reichenden Nachhall bescherte.

Mehr als zwei Monate später hatte Throwell einen Weg gefunden, Nacktheit auch auf legalem Wege als Protestform einzusetzen. Für seine Performance »I’ll raise you one…« hielt er hinter dem Schaufenster der New Yorker Galerie Art in General ein anhaltendes Strip-Poker-Spiel ab. In wechselnder Besetzung ließen die Spieler unter den Augen der Öffentlichkeit ihre Kleider fallen. Sobald eine Runde beendet war, zogen sich die Teilnehmer wieder an, nur um gleich wieder die Karten zu mischen und ein neues Spiel zu beginnen. Eine Woche lang, siebeneinhalb Stunden täglich, flogen Karten gleichermaßen wie Kleider durch den Ausstellungsraum. Am Ende der Woche wurde ein Preis ausgelobt: für den schlechtesten Spieler.
Zefrey Throwell, der auch selbst an der Performance teilnahm, wählte mit »I’ll raise you one…« eine Metapher des Glücksspiels, die im kleinen Maßstab die kapitalistische Ordnung aufs Korn nahm. Die Spieler pokerten buchstäblich um ihr letztes Hemd. Nur mit reichlich Geschick ließ sich verhindern, daß man als nackter, besitzloser Verlierer vom Tisch ging. Trotzdem: Einen glücklichen Gewinner gab es nicht. Niemand ging mit mehr als seiner Würde aus einer Runde hervor. Dennoch war die Stimmung hemdsärmelig, beinahe apodiktisch in ihrer Freizügigkeit und Unbeschwertheit, denn: Was galt es schon zu verlieren?

Mit jeder Runde wurde diese Losung ein wenig wahrer, das Spiel ein wenig lächerlicher. Was galt es schon zu verlieren, wenn am Ende doch wieder alle Kleider eingesammelt werden und zu ihren Besitzern zurückkehren? Die bald absurd anmutende Performance hatte allerdings einen interessanten Nebeneffekt: Es stellte sich schnell eine Lust am Spiel ein, die zudem durch den Kitzel der Nacktheit angeheizt wurde. Wer die Gewinnaussichten einschätzen konnte und mit Geschick spielte, konnte seine Chancen erhöhen, möglichst wenig Kleidung ablegen zu müssen und nebenbei seine Mitspieler buchstäblich ausziehen. Das Poker-Spiel – so zeigte sich in »I’ll raise you one…« – begünstigt die Glücklichen und stellt sie als verheißungsvolles Beispiel den weniger erfolgreichen Spielern zur Schau. Das Glück, so heißt es, steht allen offen. Denn wer noch nicht sein letztes Hemd verloren hat, der kann es auch mit echtem Geld, etwa online mit Casino Spielen versuchen. Der strukturelle Transfer des realen Spiels auf Throwells Performance als Kommentar auf die Marktwirtschaft war gelungen.
Zefrey Throwell erzählte mit »I’ll raise you one…« eine Parabel auf die Börsenwelt, die nur wenige Blocks weiter die Öfen des Kapitalismus anfeuert und dort auf eine kleine Schar standhafter Demonstranten traf, die zu diesem Zeitpunkt schon zwei Monate unter dem Motto »Occupy Wall Street« ausharrten. Denn für Throwell stellt Kleidung in seiner Performance eine Quasi-Währung dar. Diejenigen, die am wenigsten davon haben, sind die ärmsten Spieler am Tisch, und auch wenn Geschick und Mathematik die Aussichten verbessern können, ist jeder einzelne dem Zufall unterworfen, der Glück verheißen, aber auch in den Ruin treiben kann.

Wenn einzelne Teilnehmer am Ende einer Spiels noch nicht einmal ihren Gürtel ablegen mussten und andere bereits nach wenigen Runden all ihre Kleider verloren haben, ist Throwells Parabel aber auch ein Hinweis auf die ungleiche Verteilung der Güter in einer kapitalistischen Gesellschaft. Während die einen gelassen agieren können, sehen sich die anderen einer gaffenden Öffentlichkeit gegenüber, die ihre Mittellosigkeit neugierig beäugt. Dennoch, so bemängelt der Künstler, müssten alle nach denselben Regeln spielen. Eine harte Kritik in einem Land, das jeden Versuch einer sozialer Marktwirtschaft im Keime erstickt.
Eine Kritik aber auch, die parallel zur Occupy-Bewegung ihre Wirkung nicht verfehlt. Die örtliche unterstreicht die inhaltliche Nähe und so ist »I’ll raise you one…« durchaus auch als humorvoller Schulterschluß mit den Demonstranten vom Zucotti Park zu verstehen. Der Künstler erhebt sich und solidarisiert sich mit der Protestbewegung, um seine Stimme ihren Zwecken zukommen zu lassen. Die Gesellschaftskritik wird wieder einmal als Domäne der Kunst behauptet, die dank ihrer ureigenen Mittel andere Effekte setzen kann, als Transparente und Sprechchöre sie je bewirken könnten.
Manche Künstlerkollegen Throwells vertrauen dann doch lieber diesen bewährten Instrumenten der demokratischen Grundordnung. Doch der kleine Protestzug, der sich Ende Oktober vor dem MoMA formierte, kam auch an die Grenzen dieser althergebrachten Demonstationsform: »Drei Museen könnten viel für einen Tag sein«, wie die teilnehmende Künstlerin Blithe Riley zugab: Sie schlug vor, daß man die Sammlung Frick überspringen und doch besser gleich zum New Museum vorrücken solle. So zog die Menge einstimmig weiter – den Umweg zum Central Park wollte sich dann wohl doch niemand zumuten.