Mehr als nur ein Bild

22. Dezember 2011 von Matthias Planitzer
Ute und Werner Mahler suchten die "Monalisen der Vorstädte"
Das Schlußwort

Die­ser Arti­kel erschien am 15. Dezem­ber im KUNST Maga­zin, in mei­ner Rei­he Das Schluß­wort.

In der Nacht vom zehn­ten auf den elf­ten Novem­ber 1619 hat­te René Des­car­tes drei Träu­me – so berich­tet es zumin­dest sein Bio­graph André Bail­let. Wäh­rend die ers­ten bei­den Träu­me den gera­de ein­mal 23-Jäh­ri­gen fürch­te­ten, wird der letz­te Traum die­ser Nacht von den Geschichts­schrei­bern gern als ein Moment der Erleuch­tung gese­hen, der den jun­gen Des­car­tes ent­schei­dend auf dem Weg zu sei­nem »Cogi­to ergo sum« brach­te. Eben­so wie alle ande­ren Ele­men­te des Trau­mes woll­te der Phi­lo­soph auch »eine Rei­he von Kup­fer­sti­chen mit Por­träts« deu­ten, die sich ihm in einem Gedicht­band prä­sen­tier­ten. Doch »er brauch­te kei­ne Erklä­rung mehr dafür, als ihn am nächs­ten Tag ein ita­lie­ni­scher Maler besuch­te und ihm die Erklä­rung lie­fer­te«. Über deren Inhalt gibt Bail­lets Aus­füh­rung kei­nen Auf­schluß, doch offen­sicht­lich hat­te Des­car­tes in sei­nem Traum Bil­der gese­hen, die er zwar nicht deu­ten konn­te, die aber als Teil sei­ner Erin­ne­rung zur Ima­gi­na­ti­on wur­den. Hans Bel­ting schreibt hierzu:

»In die­ser Kor­re­spon­denz, wie immer sie auch zustan­de gekom­men war, schien der Dua­lis­mus auf­ge­ho­ben, der die kol­lek­ti­ve Wahr­heit von den sub­jek­ti­ven Phan­tas­men unter­schied.« (in »Bild-Anthro­po­lo­gie«, 2001)

Der Kör­per als Ort der Bil­der und der Traum als Mani­fes­ta­ti­ons­form der Ima­gi­na­ti­on, d.h. der sub­jek­ti­ven Aus­ge­stal­tung kol­lek­tiv bewahr­ter Bil­der, wer­den im Fol­gen­den wei­ter aus­ge­führt. Bel­ting fragt an sel­ber Stelle:

»Aber woher kom­men die Bil­der, die wir im Traum erle­ben? Sind es wirk­lich unse­re eige­nen Bil­der und sind sie nicht auch die Spu­ren der kol­lek­ti­ven Bil­der, die in einer Kul­tur domi­nie­ren, wozu natür­lich auch die Erin­ne­run­gen zählen?«

Ute und Werner Mahler: "Adda, Reykjavík, 2008", © Ute und Werner Mahler, courtesy Dittrich & Schlechtriem, BerlinUte und Wer­ner Mahler: »Adda, Reykja­vík, 2008«, © Ute und Wer­ner Mahler, cour­te­sy Dittrich & Schlech­triem, Berlin

Vier­hun­dert Jah­re nach Des­car­tes bedeu­tungs­schwan­ge­rem Traum gilt Bel­tings Beob­ach­tung nach wie vor. Einen Ein­druck davon gibt Ute und Wer­ner Mahlers Aus­stel­lung »Mon­a­li­sen der Vor­städ­te« bei Dittrich & Schlech­triem. Das Künst­ler­paar arran­gier­te an den Wän­den der Gale­rie eine Aus­wahl Por­träts und Stadt­an­sich­ten, die sie bei Besu­chen in den Vor­städ­ten von Reykja­vík und Liver­pool, Ber­lin, Flo­renz und Minsk foto­gra­fier­ten. Jedes der Por­träts wird einer Stadt­auf­nah­me gegen­über gestellt, die die Hei­mat der jun­gen Frau­en festhalten.

Die Mahlers hiel­ten gezielt Aus­schau nach Model­le, die »nicht mehr Kind, noch nicht ganz Frau« waren und baten sie, für ein Foto Platz zu neh­men. Mit einer Bal­gen­ka­me­ra und den dazu­ge­hö­ri­gen Foto­plat­ten, Drei­bein­sta­tiv und schwar­zem Tuch lich­te­ten sie die Frau­en ab. Für ihre tech­nisch ein­wand­frei­en Foto­gra­fien gaben sie ihren Model­len nur einen Hin­weis: sie soll­ten die Pose der berühm­ten Mona Lisa annehmen.

Die Mahlers konn­ten davon aus­ge­hen, daß die Aus­er­ko­re­nen das Gemäl­de ken­nen wür­den. Sie wür­den sich ver­mut­lich an die Kör­per­hal­tung erin­nern, auch an das Lächeln der Gio­con­da. Viel­leicht wür­den sie auch die Kopf­stel­lung nach­ah­men kön­nen und ihre Hän­de auf die­sel­be – oder wenigs­tens ähn­li­che – Wei­se in ein­an­der legen. In jedem Fal­le aber, und dar­in konn­ten sich Ute und Wer­ner Mahler sicher sein, wür­den sie sich an die Wür­de und Leich­tig­keit der Mona Lisa erin­nern und mit allem schau­spie­le­ri­schen Talent umset­zen versuchen.

Ute und Werner Mahler: "Sian, Liverpool, 2009", © Ute und Werner Mahler, courtesy Dittrich & Schlechtriem, BerlinUte und Wer­ner Mahler: »Sian, Liver­pool, 2009«, © Ute und Wer­ner Mahler, cour­te­sy Dittrich & Schlech­triem, Berlin

Kaum eines der Model­le ahm­te das berühm­te Vor­bild so gut nach, daß die Ähn­lich­keit auf­fäl­lig wäre. Den­noch weist die durch­gän­gig wür­de­vol­le Erschei­nung der Frau­en dar­auf hin, daß jede von ihnen die Gio­con­da vor Augen hat­te, als die Mahlers ihre Anwei­sun­gen gaben. War­um also sind die Abwei­chun­gen vom Ori­gi­nal v.a. in der Pose und Hal­tung der Hän­de so groß?

Man kann die­se Fra­ge leicht als neben­säch­lich abtun und die ubi­qui­tä­re Schön­heit und Anmut ganz gewöhn­li­cher Frau­en her­vor­he­ben. Dies ist bereits durch eini­ge Kri­ti­ken und Ankün­di­gun­gen zu genü­ge gesche­hen. Man kann auch das alte Wider­spiel der Vor­stadt zur Metro­po­le durch­ex­er­zie­ren, schließ­lich geben es ja die »Mon­a­li­sen der Vor­städ­te« bereits so vor. Obgleich dar­in tat­säch­lich der Anstoß der bei­den Grün­der der Ost­kreuz­schu­le zur Rea­li­sie­rung der Foto­se­rie lag, erschei­nen ande­re Aspek­te inter­es­san­ter. Etwa die Impli­ka­tio­nen, die das Medi­um der Foto­gra­fie in Bezug zur zugrun­de lie­gen­den Male­rei schafft. Oder die Per­sön­lich­kei­ten, die sich aus gerin­gen Details in Hal­tung, Aus­druck und Blick lesen las­sen – und durch­aus auch der Anteil der Kulis­se dar­an. Vor­dring­li­cher schei­nen mir aller­dings die Imper­fek­tio­nen, die sich gera­de als »Per­sön­lich­keit« manifestieren.

Ute und Werner Mahler: "Tanja, Minsk, 2009", © Ute und Werner Mahler, courtesy Dittrich & Schlechtriem, BerlinUte und Wer­ner Mahler: »Tan­ja, Minsk, 2009«, © Ute und Wer­ner Mahler, cour­te­sy Dittrich & Schlech­triem, Berlin

Denn letzt­lich sind sie das Pro­dukt des ima­gi­na­ti­ven Pro­zes­ses, der das welt­be­kann­te Gemäl­de aus einem per­sön­li­chen Bild­ge­dächt­nis und nach inten­tio­nel­ler Adjus­tie­rung repro­du­ziert. Abge­se­hen von schau­spie­le­ri­schen Unzu­läng­lich­kei­ten stellt sich die­se »per­sön­li­che Note« als die Fol­ge einer lücken­haf­ten Erin­ne­rung dar. Wohin­ge­gen Des­car­tes einem kla­ren Bild einen Sinn geben woll­te, ist es im Fal­le der Mon­a­li­sen der Bild­sinn, der nach einer kla­ren, d.h. mög­lichst ori­gi­nal­ge­treu­en Dar­stel­lung ver­langt. Den Phi­lo­so­phen ver­blüff­te der Umfang des kol­lek­tiv getra­ge­nen Anteils an sei­nem Traum­ge­bil­de, das ihm zuvor so per­sön­lich und unge­trübt erschien. Die Frau­en jedoch ver­su­chen, die­se sub­jek­ti­ve Kom­po­nen­te wei­test­ge­hend zu redu­zie­ren um eine mög­lichst unver­fälsch­te Dar­stel­lung zu erreichen.

Durch die Ver­viel­fäl­ti­gung und Kumu­la­ti­on die­ser sub­jek­ti­ven Teil­bil­der ent­steht ein kol­lek­ti­ves Gesamt­bild, das durch Erzäh­lun­gen und Anek­do­ten ergänzt und wei­ter ver­formt wird. Die Hete­ro­ge­ni­tät die­ses kul­tu­rel­len Bil­des bestimmt sei­ne Fähig­keit zur selb­stän­di­gen Exis­tenz und damit die Mög­lich­keit der Unter­scheid­bar­keit vom phy­sisch prä­exis­ten­ten Vor-bild. Bel­ting gibt an ande­rer Stel­le das Bei­spiel der Indi­os, die von den christ­li­chen Erobe­rern durch Madon­nen­bil­der mis­sio­niert wer­den soll­ten, aller­dings auf­grund ihrer kul­tu­rel­len Prä­gung einen eige­nen, syn­the­ti­schen Bild­ty­pos erschu­fen. Auf ähn­li­che Wei­se, wenn auch in gerin­ge­rem Aus­maß, wird in den Por­träts der Mahlers das kol­lek­ti­ve Gesamt­bild der »Mona Lisa« exem­pla­risch dargestellt.

Die »Mon­a­li­sen der Vor­städ­te« stel­len also vor allem einen Sach­ver­halt fest: Das kul­tu­rel­le Bild der Gio­con­da ist trotz sei­ner bei­spiel­lo­sen Ver­brei­tung inhalt­lich auf­fal­lend unscharf. Nur ein Merk­mal sticht klar her­aus: die anmu­ti­ge Wir­kung, die die Lisa auf uns hat. Wüss­te Leo­nar­do davon, es wür­de ihn wohl freuen.