»Isla en la isla«, © Gabriel Orozco
Im Jahre 2007 lebte laut UNO mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, im Jahre 1800 waren es gerade einmal 3%. Diese drastische Verstädterung, die insbesondere in den Schwellen- und Entwicklungsländern in einer unglaublichen Geschwindigkeit vorangetrieben wird, bringt unweigerlich eine Vielzahl von neuen Herausforderungen mit sich, von agrarökonomischen Problemen bishin zu energiewirtschaftlicher Leistungssteigerung. Aber vor allen Dingen auch sozio-psychologische und soziale Probleme entwachsen dieser rasanten Entwicklung, die häufig zu einer großen Kluft zwischen den Bevölkerungsschichten der Stadt führen.
Hier sind es die Favelas und Slums der leuchtenden Metropolen Südamerikas und Südostasiens, dort ist es die wachsende Obdachlosenrate nordamerikanischer und anderer westlicher Großstädte, die im scharfen Kontrast zu den hochaufragenden Bürotürmen der schönen, neuen Welt stehen.
Und wie so oft ziehen gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen auch hier das Interesse zeitgenössischer Künstler auf sich, die in diesem Fall die vielen Facetten dieser urbanen Dissonanz erfassen und oftmals auch erst publik machen.
So etwa Gabriel Orozcos in seinem Werk »Isla en la isla«: Da trifft die New Yorker Skyline von 1993 auf ihr Pendant aus modrigen Brettern und Straßenmüll, voneinander nur durch einen leeren Parkplatz und einige hundert Meter Luftlinie getrennt. Während die Bürotürme aus Stahl und Glas aufrecht in den Himmel stechen und den Stolz und die Pracht der modernen Gesellschaft verkörpern, muss das leidige Gegenstück im Vordergrund an einen Betonklotz gelehnt stehen um sich überhaupt vom dreckigen, kalten Boden abzuheben.
Der Neue Turm Babel aus »Metropolis«
Es ist die unüberwindbare Kluft von Metropolis, die die Unterstadt von der Oberstadt, dem Klub der Söhne trennt, die Orozco hier zitiert. Ähnlich wie bei Fritz Lang thront hier der Neue Turm Babel, das in Stahlbeton gegossene Wahrzeichen der Oberklasse, über der Stadt und überschattet die Welt zu ihren Füßen, an denen die Ausgestoßenen der Gesellschaft sich ihr Leben verdingen.
Das Foto verrät aber noch mehr. Obgleich die Perspektive ihren Mittelpunkt im World Trade Center findet, bäumt sich doch die Bretterskyline gegen dieses sonst im Bild innewohnende Prinzip auf. Laternenmasten, Parkplatzumrandung, Wohn- und Geschäftshäuser laufen perspektivisch auf die Wolkenkratzer im Bildmittelpunkt zu, wogegen diese Ordnung im Vordergrund durchbrochen wird. Hier verläuft die Parkplatzumrandung in einer Bildtiefe, trennt nicht nur Bildvorder- und ‑hintergrund, sondern bietet der Bretterskyline einen zweiten, einen neuen Horizont, über den nicht Himmel und Wolken, sondern Beton und Dreck ihr Firmament ausbreiten.
Dieser Horizont stützt nicht etwa den weltvergessenen, himmelsstürmerischen Blick der Oberklasse, er ist eine Stütze für die urbanen Träume und Realitäten der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Ein harter Horizont zwar, der keine Himmelsflüge zulässt, doch einer, der im besten Sinne bodenständige Wünsche erlaubt. Und doch bleiben in »Isla en la isla« diese beiden Welten unvereinbar in Koexistenz getrennt.
»Untitled (Man sleeping in boxes)«, © Teun Hocks
Gabriel Orozcos »Isla en la isla« erinnerte mich sofort an Teun Hocks‹ »Untitled (Man sleeping in boxes)«, eine handkolorierte Fotografie aus dem Jahre 2008, die übrigens Thema meines allerersten Artikels bei Castor und Pollux war (wo ich mein Credo zum Bloggen über Kunst noch nicht entwickelt hatte). Wenngleich hier die Subtilität Orozcos fehlt und einer fast schon plakativen Direktheit weicht, ist doch dasselbe Thema eingefangen worden. Auch bei Hocks gleicht die Stadt, wie wir sie kennen, jener Parallelgesellschaft, die zu ihren Füßen wohnt. Auch bei Hocks wird eine strikte Zentralperspektive genutzt, um diesen Vergleich herbeizuführen und auch hier liegt der Fokus dennoch auf dem Vordergrund.
Hocks führt das Motiv allerdings noch weiter aus als Gabriel Orozco, zeigt uns sogar den obdachlosen Mann, einen Anzugträger, den man eher der Stadt im Hintergrund zugeordnet hätte. Auch den Wecker an seiner Seite hätte man mitunter nicht erwartet und so hat diese Figur weniger von einem Obdachlosen, als wir uns gemeinhin vorstellen.
Auffällig ist jedoch, dass Hocks ihm kein Pendant zur Seite stellt. Jedenfalls keines, das direkt abgebildet ist. Der Obdachlose bleibt einzige Figur des Bildes und steht doch einem unsichtbaren Gegenspieler gegenüber, der die Bewohner der Häuser im Hintergrund verkörpert. So wie der Obdachlose seine Pappbehausung bewohnt, finden die übrigen Stadtbewohner in ihren Wohnburgen Obdach.
Auch die Entstehung des Werks ist bemerkenswert: Hocks fertigt nach Vorzeichnungen ein Modell in seinem Studio an, nimmt seinen Platz darin ein, fotografiert sich darin und koloriert anschließend das Schwarz-Weiß-Foto. Ebenso wie in vielen seiner anderen Arbeiten wird Hocks somit zum Hauptdarsteller einer sisyphotisch-trostlosen Welt.
Die Ähnlichkeit zwischen »Isla en la isla« und »Untitled (Man sleeping in boxes)« ist offensichtlich. Man könnte meinen, Hocks habe Orozcos Werk fünfzehn Jahre nach seiner Entstehung neu interpretiert und auf seine eigene Art und Weise wiedergegeben. Ob man dem zustimmt oder nicht, ist eine Sache; in jedem Fall lässt sich aber sagen, dass beide die urbanen Dissonanzen, die wir in unserer westlichen Welt heutzutage erleben, durch dieselbe Parabel in ihren Werken thematisiert haben.
Kannte man bisher vor allen Dingen 360°-Aufnahmen aus dem Inneren von südostasiatischen Slumbaracken und Ähnliches, wenn es um das Leben in den Armenvierteln geht, beschäftigen sich »Isla en la isla« und »Untitled (Man sleeping in boxes)« doch mit den urbanen Dissonanzen direkt vor unseren Haustüren. Für manch einen mögen die Favelas und Slums dieser Welt fern scheinen, doch kennt jeder die Ausmaße der Armut im heimischen Europa, was womöglich auch zur Eindrücklichkeit jener Arbeiten beiträgt.
Derzeit zeigt die Akademie der Künste mit »Wiederkehr der Landschaft« eine Ausstellung, in der das Entstehen neuer Metropolen aus dem Nichts dokumentiert wird. Im Gegensatz zum mehr oder minder schnellen Wachstum der Urbanisierung vieler Städte entstehen die hier dargestellten Siedlungen aus dem Nichts und bringen ungeahnte Konsequenzen für die Umwelt mit sich.