Wer die anhaltende, zusehends deprimierende Wetterlage zum Anlass nimmt, sein Gemüt durch Kunst aufzuheitern, kann dies dieser Tage vielleicht am besten bei einem ungestörten Galerienmarathon durch die Ausstellungsräume rund um die Koch- und Lindenstraße tun. Trotz des Sommerlochs, das auch vor dem Kunstkalender nicht Halt macht, findet man doch noch einige Ausstellungen, die es zu besuchen lohnt.
So kann man sich in der LEVY Galerie noch bis zum 27. August ein Bild von der Ausstellung »Shifting the everyday« machen, welche Künstler präsentieren will, die »die Rahmenbedingungen unseres Alltagslebens hinterfragen und unterwandern«. Wenig konkret formuliert versteckt sich dahinter dennoch eine Schau, die sehenswerte Einzelpositionen vereint. Neben einer Installation John von Bergens und Felix Kiesslings Arbeiten mit dem Medium Zeit sind dies v.a. drei Werke Marc Lüders’, die im Gedächtnis bleiben.
Die vermeintlichen Fotografien zeigen in schnappschussartiger Amateurhaftigkeit eine triste Umgebung aus kaltem Beton und dürftigem Putz, verdreckten Türen, einem staubigen Deckenventilator – kurz: ein wenig einladender Ort, der sonst keine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wenn man sich wieder von diesen Fotografien abwenden will, erkennt man jedoch, daß einige Bildteile übermalt wurden; daß hier etwas versteckt liegt, was dem Betrachter zunächst verheimlicht wurde.
Marc Lüders: »AG_93«
Marc Lüders arbeitet in einer Technik, die er »Photopicturen« nennt: Indem er direkt auf die gedruckte Fotografie Farbe aufträgt, werden Malerei und Fotografie verschränkt. Die drei ausgestellten Arbeiten fallen zunächst nicht als ein solches synthetisches Medium ins Auge, sind sie doch als Retuschen gedacht, die erst beim zweiten Blick als solche erkennbar werden. Lüders übertünchte Teile des Bildes mit Ölfarbe, die, wenn man sie erst einmal bemerkt hat, Umrisse von Personen offenbaren. Dann erst realisiert man, daß es sich um Fotos aus Abu Ghraib handelt.
Lüders nutzte als Grundlage für »AG_03«, »AG_40« und »AG_93« dieselben Aufnahmen, die 2004 publik wurden und für weltweites Aufsehen sorgten. Bis auf das Akronym im Titel weist nichts auf diese Herkunft hin. Die Arbeiten funktionieren allein auf Grundlage des kollektiven Gedächtnisses, das auch nach mehr als acht Jahren noch frisch genug ist, um diese Assoziation zuverlässig hervorzurufen.
Die verpixelten, dadurch leicht abstrahierten Fotografien wurden durch einen ebenso diffusen Farbauftrag retuschiert, wodurch nicht nur die Ikonologie des Motivs zutage gefördert wird, sondern im selben Zug auch die Sehgewohnheiten aufgedeckt werden. Indem Lüders den Blick Lynndie Englands, aber auch den der medialen Öffentlichkeit mit seinen Produzenten und Rezipienten annimmt, übt er Kritik an allen Beteiligten. Der Fokus bleibt auf den Delinquenten, führt aber bei Lüders ins Leere. Blindheit und Ignoranz, Verharmlosung und Bagatellisierung sind die Kritikpunkte an der Öffentlichkeit.
Marc Lüders: »AG_03«Die Botschaft lautet: »Seht, was ihr nicht seht« und betont, daß in der hitzigen öffentlichen Debatte über die Foltervorwürfe im Irak die Opfer vergessen wurden. Bereits auf den Originalaufnahmen ist keiner der Gefangenen zu erkennen, doch erst durch Lüders’ Photopicture wird die Identität der Delinquenten vollkommen überdeckt. Lüders zeigt offen die Anonymität, jedoch nicht, indem er den Opfern ein Gesicht gibt, sondern indem er sie auf die Spitze treibt. Dadurch unterstreicht die Serie die Obszönität der Berichterstattung, die um den Imageschaden der USA kreiste statt die Schicksale der Opfer zu rekonstruieren.
Lüders’ Kritik schlägt schnell in eine Belehrung um. Dieser Appell bewirkt allerdings eben so wenig einen Affekt wie eine Bilderserie über das Hungerelend in der Dritten Welt. Marc Lüders setzt auf die recht antiquierte, appellative Macht des Bildes, auf die nicht etwa Einsicht und Besinnung, sondern Desinteresse und Schulterzucken folgen. Daher bleiben die verfremdeten – oder besser: weiter entfremdeten – Darstellungen aus Abu Ghraib nur eines: zahnlos. Aber gut gemeint.