Von New York nach Rio de Janeiro

06. Januar 2014 von Matthias Planitzer
Die EXPO 1 widmet sich brasilianischen Befindlichkeiten. Sie bleibt informativ und anschaulich. Doch ein Wermutstropfen bleibt.

Halil Altindere: "Wonderland" (Standbild, 2013)

Wenn der Rei­sen­de aus der Abfer­ti­gungs­hal­le von Galeão tritt und im tro­pi­schen Schat­ten des sich über ihm aus­span­nen­den Bal­dach­ins auf ein Taxi hofft, wenn er sodann über die geschwun­ge­nen Hoch­stra­ßen Rio de Janei­ros glei­tet, brei­tet sich vor ihm die über die all­seits auf­ra­gen­den Hän­ge aus­ge­streck­te Stadt aus. So treibt er über die in sanf­ten Wogen aus­lau­fen­den Auto­bah­nen, schwebt im bestän­di­gen Auf und Ab an glän­zen­den Wol­ken­krat­zern und hek­ti­schen Häfen, an brach dar­nie­der­lie­gen­den Lager­hal­len und düs­te­ren Armuts­vier­teln vor­bei, bis er schließ­lich die her­aus­ge­putz­ten Magis­tra­len und wei­ßen Strän­de von Copa­co­ba­na und Ipan­e­ma erreicht. Auf die­se gewun­de­nen Wege wird die Stadt den Rei­sen­den ent­füh­ren und sich ihm immer wie­der als das janus­köp­fi­ge Rio de Janei­ro offen­ba­ren, das sich nur im Wider­spruch erken­nen, nur im Zwie­spalt ent­fal­ten kann. Nur in ihren Träu­men ist sie ein har­mo­ni­sches Gan­zes. Jedoch ent­geht dem Rei­sen­den nicht, daß sie am Vor­abend der sport­li­chen Groß­ereig­nis­se aus ihrem Tief­schlaf erwacht ist, um sich für die bald ein­fal­len­den Besu­cher­strö­me zu rüs­ten. So wach­sen halb­fer­ti­ge Brü­cken aus den Gewäs­sern empor, neue U‑Bahn-Tun­nel gra­ben sich durch den fel­si­gen Unter­grund, Fave­las wer­den gewalt­sam befrie­det und bewaff­ne­te Ein­satz­kräf­te patrouil­lie­ren über die Strän­de, um die neu gewon­ne­ne Anse­hen der Gast­freund­lich­keit vor den die­bi­schen Ban­den zu schützen.

Rio de Janei­ro macht sich für sei­ne Gäs­te zurecht. Doch so sehr sie sich auch bemüht, ihre erdrü­cken­den Gegen­sät­ze zu ver­schlei­ern, umso deut­li­cher tre­ten sie zu Tage. Wäh­rend die schwer bewaff­ne­ten Frei­korps die Bewoh­ner der Fave­las schi­ka­nie­ren und teils sogar ent­füh­ren, leben die­se in Angst und Armut und wol­len von den kom­men­den Spie­len nichts wis­sen. Jeder Drit­te lebt in einem die­ser Slums, doch kann kaum einer von ihnen sich bei einem durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men von knapp 250€ eines der teu­ren Tickets leis­ten. Für sie sind Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft und Olym­pia schon jetzt eine her­be Ent­täu­schung. So kün­dig­ten die mäch­ti­gen Ban­den­bos­se bereits an, die Meis­ter­schaf­ten mit Ter­ror zu über­zie­hen, nach­dem die aus­ge­dehn­ten Kra­wal­le am Ran­de des letzt­jäh­ri­gen Leh­rer­streiks einen ers­ten Ein­druck gaben, was dies zu bedeu­ten hat. Denn wäh­rend sich Stadt und Land nach Kräf­ten für die Welt­öf­fent­lich­keit her­aus­put­zen wol­len, wächst die Kluft in jener Gesell­schaft, die immer noch kei­nen Mit­tel­stand kennt. Nur in den geho­be­ne­ren Vier­teln Ipan­e­ma, Leblon oder Bar­ra da Tiju­ca tref­fen sie auf ein­an­der: Die einen decken hier ihren stän­di­gen Bedarf nach bes­se­rem Wohn­raum und bil­li­gen Arbeits­kräf­ten, die meis­ten ande­ren fah­ren all­mor­gend­lich aus den Stadt­rand­ge­bie­ten an, die­sen Hun­ger zu stil­len. So chao­tisch Rio de Janei­ro auf den euro­päi­schen Besu­cher wirkt, so viel Ord­nung erkennt man doch in die­sem Sys­tem der Segre­ga­ti­on, das sich quer durch die Gesell­schaft zieht, Wohn- und Lebens­räu­me von ein­an­der trennt, die Teil­ha­be an Bil­dung, Kul­tur und öffent­li­chem Leben immer weni­ger Men­schen ermög­licht. Die kom­men­den Groß­ereig­nis­se wer­den dar­an nichts ändern. Im Gegen­teil, sie wer­den das Pro­blem noch wei­ter ver­stär­ken. Rio will sich für sei­ne Gäs­te her­aus­put­zen. Schon seit vie­len Mona­ten bran­den die immer mäch­ti­ge­ren Wel­len von Pro­tes­ten und Demons­tra­tio­nen gegen Mili­tär­po­li­zei, Stadt und Staat an: Die Unter­schicht begehrt gegen das wach­sen­de Unrecht auf, das im Schat­ten der Meis­ter­schaf­ten an ihnen began­gen wird.

Inmit­ten die­ser ange­spann­ten Stim­mung gas­tiert die vom Muse­um of Modern Art ent­wor­fe­ne Aus­stel­lung »EXPO 1« im Museu de Arte Moder­na (MAM), wo sie sich erneut dem »Span­nungs­feld und den Wech­sel­wir­kun­gen von Öko­lo­gie und Öko­no­mie in Hin­sicht auf die revo­lu­tio­nä­ren Ver­än­de­run­gen der letz­ten Jah­re« wid­met. Nach­dem die Schau im Mai des ver­gan­ge­nen Jah­res als Teil einer Part­ner­schaft mit Volks­wa­gen in New York eröff­net wur­de, dabei vor dem Hin­ter­grund des Hur­ri­kan San­dy den Fokus auf den Kli­ma­wan­del leg­te, soll sie sich nun in auf ihrer Welt­tour­nee auf loka­le Aspek­te kon­zen­trie­ren. Bevor die »EXPO 1« jedoch nach Peking und zum Abschluß nach Ber­lin zieht, stand Rio de Janei­ro auf dem Programm.

Klaus Biesenbach und Mikhael Subotzky: "Samuel (Walking), Vaalkoppies (Beaufort West Rubbish Dump)" (2006)

Klaus Bie­sen­bach und Mik­ha­el Subotz­ky: »Samu­el (Wal­king), Vaal­kop­pies (Beau­fort West Rub­bish Dump)« (2006)

Dabei ver­folg­te die Schau bereits von Beginn an heh­re Absich­ten. Die Expo sieht sich im Erbe der Welt­aus­stel­lun­gen, jedoch beton­te der sich ver­ant­wort­lich zeich­nen­de Klaus Bie­sen­bach, daß es dabei »nicht um frem­de Kul­tu­ren und neus­te Tech­no­lo­gien, son­dern um die Her­aus­for­de­run­gen und Fra­gen unse­rer Zeit« gin­ge. Neben dem bis­he­ri­gen Schwer­punkt auf öko­lo­gi­sche The­men gehör­ten dazu auch die Umbrü­che im urba­nen Lebens­raum sowie die ungleich­mä­ßi­gen wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen. Für Rio de Janei­ro bedeu­te dies ins­be­son­de­re, den Kon­trast zwi­schen dem wirt­schaft­li­chen Fort­schritt des Lan­des und sei­ner künf­ti­gen Sport­groß­ereig­nis­se auf der einen, sowie den »sozia­len, infra­struk­tu­rel­len und öko­lo­gi­schen Pro­ble­men« auf der ande­ren Sei­te auf­zu­be­rei­ten. Sowohl Bie­sen­bach als auch sein Kol­le­ge Luiz Camil­lo Oso­rio, Chef­ku­ra­tor am Museu de Arte Moder­na, unter­stri­chen bei einem Pres­se­ge­spräch mehr­fach, daß die­se the­ma­ti­sche Umori­en­tie­rung ein Eck­pfei­ler ihrer Zusam­men­ar­beit gewe­sen sei. Die Koope­ra­ti­on sei für das MAM »fun­da­men­tal«, schließ­lich kön­ne man dadurch »über die Ent­wick­lung nach­den­ken, die wir wol­len«. Oso­rio sieht daher in »EXPO 1: Rio« nicht etwa nur eine wei­te­re Edi­ti­on der ursprüng­li­chen New Yor­ker Schau, son­dern eine gänz­lich ande­re Ausstellung.

Ein Blick in die Künst­ler­lis­te ver­mit­telt jedoch zunächst einen ande­ren Ein­druck: Wäh­rend in New York sie­ben Kura­to­ren allein für das Aus­stel­lungs­pro­gramm mehr als fünf­zig Künst­ler ver­sam­mel­ten, mehr als halb so vie­le wei­te­re Teil­neh­mer ein umfang­rei­ches Pro­gramm aus Lesun­gen und Work­shops gestal­te­ten, sind von den drei­ßig im MAM ver­tre­te­nen Künst­lern nur ein Drit­tel neu hin­zu­ge­sto­ßen. Es kann also allen­falls von einer ver­klei­ner­ten und erwei­ter­ten, wohl aber kaum von einer völ­lig neu­en Aus­stel­lung gere­det wer­den. Den­noch sind es gera­de die­se weni­gen neu­en Arbei­ten, die »EXPO 1: Rio« erst mit ihrer gast­ge­ben­den Stadt ver­bin­den. So lag es in Hin­blick auf die sich in Rio häu­fen­den Groß­ereig­nis­se nahe, die­se als Ideen­ge­ber für die Aus­stel­lung zu inte­grie­ren: Mit dem Con­fed-Cup und dem Welt­ju­gend­tag im ver­gan­ge­nen Som­mer, der Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft in die­sem und den Fei­er­lich­kei­ten zum 450. Stadt­ju­bi­lä­um im kom­men­den Jahr, sowie schließ­lich den olym­pi­schen Spie­len 2016 grup­pie­ren sich genü­gend Anläs­se, dem Phä­no­men auf die Spu­ren zu kom­men. Bie­sen­bach und Oso­rio unter­su­chen aber nicht etwa sport­li­che Groß­ereig­nis­se, sie stel­len ihnen die vie­len Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen und ‑para­den gegen­über, die hier zeit­gleich abge­hal­ten wer­den und, so die unaus­ge­spro­che­ne Behaup­tung, in ästhe­ti­scher Ver­wandt­schaft zu ihnen ste­hen. Ein rhe­to­ri­scher Kniff, der hohe Erwar­tun­gen weckt.

Liu Wei: "Hopeless lands" (2008) und Rivane Neuenschwander, Cao Guimarães: "Quarta-Feira da Cinzas/Epilogue

Liu Wei: »Hope­l­ess lands« (2008) und Riva­ne Neu­en­sch­wan­der, Cao Gui­marães: »Quar­ta-Fei­ra da Cinzas/Epilogue

Dem­entspre­chend sorgt ein bra­si­lia­ni­scher Kar­ne­vals­um­zug für das obli­ga­to­ri­sche Lokal­ko­lo­rit, das Matthew Bar­ney in »De Lama Lâmi­na« (2004) jedoch mit sei­nem typi­schen bit­ter-süßen Pathos unter­wan­dert, mit­hin ver­dirbt, wenn er einen Bull­do­zer einen ent­wur­zel­ten Ama­zo­nas­baum durch die Stra­ßen fah­ren lässt. Mit­hil­fe die­ser zudem scha­ma­nisch geweih­ten Mons­tranz deu­tet Bar­ney den Kar­ne­val von Sal­va­dor de Bahia in eine indi­ge­ne Pro­zes­si­on, in ein zyni­sches Frucht­bar­keits­ri­tu­al um und mar­kiert damit wohl die poli­ti­sche Poin­te in »EXPO 1: Rio«. Damit stimmt die­ser spit­ze Kom­men­tar in einem erz­ka­tho­li­schen Land wie Bra­si­li­en, in dem Indi­os noch immer dis­kri­mi­niert wer­den, einen schar­fen Ton an, der jedoch in der rest­li­chen Aus­stel­lung bedau­er­li­cher­wei­se schnell ver­stummt. Noch im sel­ben Raum neh­men Clau­dia Andu­jars zwar hübsch anzu­se­hen­de, aber doch harm­lo­se, fast nai­ve Foto­gra­fien aus einem Ama­zo­nas-Dorf Bar­neys for­schem Vor­stoß so viel Ener­gie, daß es schon eine Pro­vo­ka­ti­on dar­stellt, das unge­stör­te Indio-Idyll neben einem solch hef­ti­gen Pro­test zu präsentieren.

Daher ist es an die­ser Stel­le wohl zweck­mä­ßi­ger, der Aus­stel­lung in die ande­re Rich­tung zu fol­gen, denn so gelangt man zu Amal Kena­wys beein­dru­cken­der Doku­men­ta­ti­on auto­ri­tä­rer Gewalt in Nah­ost. Die Ägyp­te­rin heu­er­te ein gutes Dut­zend Män­ner an, um mit ihr und eini­gen ande­ren Leu­ten auf den Knien durch Kai­ros Innen­stadt zu krie­chen. »Silence of the lambs« (2009) doku­men­tiert die­se Per­for­mance, aber vor allem auch den sich bald for­mie­ren­den Pro­test, der die Ehre der betei­lig­ten Män­ner wie des ägyp­ti­schen Vol­kes beschmutzt sieht und schließ­lich in der Ver­haf­tung der Künst­le­rin und etli­cher ande­rer Betei­lig­ter gip­felt. So sind es erst die pro­vo­zier­ten Reak­tio­nen, die Belei­di­gun­gen und die Hand­greif­lich­kei­ten sowie Kena­wys gedul­dig vor­ge­tra­ge­ne Argu­men­te, die das Video zu einem Zeit­do­ku­ment der ägyp­ti­schen Gesell­schaft, die Künst­le­rin zur Akti­vis­tin machen. Wo sich Bar­ney noch kei­ner Kri­tik aus­ge­setzt sieht, ist es Kena­wy, die sich selbst in die Löwen­gru­be wirft und wie durch ein Wun­der unver­sehrt wie­der aus ihr her­aus­tritt. Das Kura­to­ren­ge­spann gab sich sogar der­art von der Stand­kraft der Ägyp­te­rin beein­druckt, daß es ihr eine beson­de­re Ehrung aus­sprach, indem es ihr die Aus­stel­lung wid­me­te. Schließ­lich sei für Bie­sen­bach zwar nicht jeder Bür­ger ein Künst­ler, aber in Hin­blick auf Kena­wy sei immer­hin jeder Künst­ler ein Bürger.

Ganz befreit sich die Schau von Beuys dann doch nicht (Bie­sen­bach: »Wegen Joseph Beuys bin ich Kura­tor gewor­den«). Das muss­te sie auch nicht, denn jener ist auch im MAM mit einer Vide­oper­for­mance ver­tre­ten, die die Pro­test­for­men in Kena­wys und Bar­neys Arbei­ten gut ergänzt. Beuys räumt hier erneut die Abfäl­le einer Ber­li­ner Mai­de­mons­tra­ti­on ab (»Aus­fe­gen«, 1972) und trifft dabei auf Micha­el Subotz­kys Müll­samm­ler Samu­el, der sich eben­so wie die emsi­gen Arbei­ter in Liu Weis »Hope­l­ess Lands« (2008) in der grau­si­gen Dys­to­pie einer Müll­hal­den­land­schaft wie­der­fin­det. Weis Abfall­bri­ga­den wüh­len sich durch die immer wie­der neu auf­ge­schüt­te­ten Müll­ber­ge, die die Pekin­ger Bevöl­ke­rung vor den Toren ihrer Stadt depo­niert. Eben­so wie ihren Abfall ver­gaß die­se Gesell­schaft auch die Bau­ern, die nun auf ihrem Land statt Reis und Soja Plas­tik­müll und Elek­tro­schrott ern­ten. Daß deren geschäf­ti­ges Getüm­mel jedoch wie­der zum kura­to­ri­schen The­ma der Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen und ‑para­den zurück­fin­det, ist einer gleich dane­ben gezeig­ten Video­pro­jek­ti­on von Riva­ne Neu­en­sch­wan­der und Cao Gui­marães zu ver­dan­ken. Die Bra­si­lia­ner lie­ßen ein Amei­sen­volk gezu­cker­tes Kon­fet­ti durch ihr Revier tra­gen, das hier eben­so emsig abge­räumt wur­de wie der­einst chi­ne­si­scher Haus­halts­müll. Die Papier­schnip­sel waren beim letz­ten Kar­ne­val lie­gen­ge­blie­ben; und damit das auch deut­lich wird, läuft im Hin­ter­grund lei­se der Sam­ba, wäh­rend auch der Titel dar­auf hin­weist, das nun die Fas­ten­zeit anbricht: »Quar­ta-Fei­ra da Cinz­as« (2006), Aschermittwoch.

Cin­thia Mar­cel­le: »475 Vol­ver« (2009)

Abge­se­hen von zwei wei­te­ren Doku­men­ta­tio­nen zeit­ge­nös­si­scher Pro­test­for­men war damit der bra­si­lia­ni­sche Trumpf größ­ten­teils aus­ge­spielt. Ledig­lich Cin­thia Mar­cel­les Video­ar­beit »475 Vol­ver« (2009) konn­te noch einen vor­erst letz­ten Glanz­punkt für sich ver­bu­chen. Wäh­rend für die­se bestechend simp­le Kri­tik an der Urwald­ab­hol­zung im MoMA PS1 nur ein klei­ner Bild­schirm zur Ver­fü­gung stand, wur­de das Werk in der Hei­mat der Künst­le­rin end­lich in einer ange­mes­se­nen Grö­ße gezeigt: Eine Bull­do­zer frisst sich durch frisch abge­ro­de­ten Urwald­bo­den, trägt ihn wech­sel­wei­se ab und schüt­tet ihn in einer sich ewig wie­der­ho­len­den Acht auf, bis er schließ­lich sei­ne eige­ne Fahr­bahn ein­ge­eb­net hat. In einer ähn­li­chen, im MAM jedoch nicht gezeig­ten Video­ar­beit (»Fon­te 193″, 2007) fährt ein Lösch­zug in eben­so mono­to­nen Kreis­bah­nen und bewäs­sert dabei das glei­che bra­che Land. Mar­cel­les Bei­trag fügt sich hier so ver­blüf­fend gut ein, daß man sich innig wünscht, sie möge doch mit Matthew Bar­ney die gero­de­ten Urwald­flä­chen aufforsten.

Schließ­lich war mit Halil Alt­in­de­res Rap-Video »Won­der­land« (2013), das sich gegen die Räu­mung tür­ki­scher Armen­vier­tel erhob und bereits auf der ver­gan­ge­nen Istan­bul-Bien­na­le mit viel Lob bedacht wur­de, das bra­si­lia­ni­sche The­ma der sich wan­deln­den urba­nen Lebens­räu­me in Zei­ten pres­ti­ge­träch­ti­ger Groß­ereig­nis­se abge­schlos­sen. Damit wur­de der kura­to­ri­sche Fokus auf die par­al­lel abge­hal­te­nen Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen zwar als rhe­to­ri­sche Stra­te­gie deut­lich, doch fehl­te es an Nach­druck, um aus der bis dahin rein ästhe­ti­schen Gegen­über­stel­lung sol­cher Ereig­nis­se die ent­spre­chen­den Aus­sa­gen, Bekennt­nis­se oder gar For­de­run­gen abzu­lei­ten. Trotz der poli­ti­schen Trag­wei­te, die eine solch groß ange­leg­te Aus­stel­lung zu die­sen The­men allein durch ihre Prä­senz ent­fal­tet, hielt sich »EXPO 1: Rio« in die­sem Punkt erstaun­lich zurück. So war die New Yor­ker Edi­ti­on noch von einer mit­rei­ßen­den Auf­bruch­stim­mung getra­gen, die nicht zuletzt in den unzäh­li­gen Lesun­gen und Work­shops zum Aus­druck kam, für wel­che das Muse­um sich als zeit­ge­mä­ßes Dis­kus­si­ons­fo­rum zur Ver­fü­gung stell­te. Schließ­lich war es gera­de auch der VW Dome, der den Bewoh­nern von Rocka­way Beach ein Gemein­de­zen­trum bereit­stell­te, nach­dem dort Hur­ri­kan San­dy jeg­li­ches Gemein­de­le­ben aus­lösch­te. Obwohl sich das Museu de Moder­na Arte auf eine »Tra­di­ti­on als leben­di­ges Labo­ra­to­ri­um für Künst­ler« beruft, fin­den hier sol­che aus­stel­lungs­be­glei­ten­den und ‑erwei­tern­den Ver­an­stal­tun­gen nicht statt oder wur­den zumin­dest noch nicht angekündigt.

Ein Blick in den Hauptsaal. Foto: Volkswagen, MoMA und MAM

Ein Blick in den Haupt­saal. Foto: Volks­wa­gen, MoMA und MAM

Man soll­te sich jedoch hüten, den New Yor­ker Taten­drang in eine Erwar­tungs­hal­tung gegen­über den wei­te­ren Aus­ga­ben der »EXPO 1« zu über­tra­gen. Es bleibt anzu­zwei­feln, ob die gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Infra­struk­tur Rio de Janei­ros ein solch umfas­sen­des Pro­gramm über­haupt tra­gen könn­te, geschwei­ge denn woll­te. Selbst wenn sich die betei­lig­ten Initia­to­ren und Kura­to­ren dazu ent­schlos­sen hät­ten, sich etwa durch den Bau eines wei­te­ren VW Domes in einer der Fave­las mit den dor­ti­gen Bewoh­nern zu soli­da­ri­sie­ren, selbst wenn die Finan­zie­rung eines sol­ches Pro­jekts gesi­chert wäre, könn­te man wohl nicht so sicher mit der Unter­stüt­zung der Behör­den und der Gesell­schaft rech­nen, die all dies in New York nach Kräf­ten mit­ge­tra­gen hät­ten. Daher bleibt »EXPO 1: Rio« dar­auf beschränkt, Aus­stel­lung zu sein. Vor Kri­tik an der Kura­ti­on schützt das jedoch nicht. Denn wie bereits bemerkt, geht bis auf eini­ge der genann­ten künst­le­ri­schen Bei­trä­ge auch von der Aus­stel­lung kei­ne nen­nens­wer­te Stel­lung­nah­me zur bra­si­lia­ni­schen Pro­ble­ma­tik aus. Statt­des­sen wird die­ses Kon­vo­lut an Pro­test­for­men mit jenem Kun­ter­bunt aus umwelt­kri­ti­schen, Nach­hal­tig­keit for­dern­den Arbei­ten auf­ge­füllt, die noch im MoMA PS1 als not­wen­di­ge Stich­wort­ge­ber dien­ten. Hier erfül­len die durch­aus für sich allein schon sehens­wer­ten Arbei­ten von Ansel Adams, Chris Bur­den, Peter Bug­gen­hout, Agnes Denes, Ste­ve McQueen und Katha­ri­na Sie­ver­ding jedoch kaum einen ande­ren Zweck, als auch dem bra­si­lia­ni­schen Publi­kum einen kur­zen Ein­druck der New Yor­ker Mut­ter­aus­stel­lung zu geben. Wenn schon nicht der damals über­aus popu­lä­re Rain Room, auch nicht Olaf­ur Eli­as­sons Eis­kam­mer gezeigt wer­den konn­ten, so waren es doch die­se Expo­na­te, die die Chro­nik der Aus­stel­lungs­rei­he nach­zu­voll­zie­hen ver­such­ten. Letzt­lich geht die­ses Ungleich­ge­wicht zwi­schen neu­en und alten Arbei­ten jedoch dar­auf zurück, daß letz­te­re im gro­ßen Haupt­saal, die spe­zi­ell für Rio de Janei­ro aus­ge­wähl­ten Wer­ke jedoch in zwei klei­nen Neben­räu­men aus­ge­stellt wur­den. Ledig­lich die ein oder ande­re Sicht­ach­se konn­te die­se Tren­nung über­brü­cken und künst­le­ri­sche Kon­tras­te her­stel­len. Mög­li­cher­wei­se ist dar­in aber auch das for­ma­le Erschei­nungs­bild eines Dia­lo­ges zwei­er Kura­to­ren zu erken­nen. Dies wäre immer­hin ein schö­ner Gedan­ke: Bie­sen­bach gibt vor, Oso­rio legt nach. Schließ­lich wer­den ähn­lich spie­le­ri­sche Aus­stel­lungs­for­ma­te aller­orts immer popu­lä­rer. Dies wür­de für die »EXPO 1« immer­hin bedeu­ten, daß sich tat­säch­lich nicht nur als Edi­ti­ons­rei­he, son­dern als eine sich ste­tig neu erfin­den­de Aus­stel­lung begreift.

Eine der Trümmerplastiken von Peter Buggenhout vor Klara Lidéns Mülltonneninstallation und einer Fotografie aus Agnes Denes' "Wheatfield"-Serie

Eine der Trüm­mer­plas­ti­ken von Peter Bug­gen­hout vor Kla­ra Lidéns Müll­ton­nen­in­stal­la­ti­on und einer Foto­gra­fie aus Agnes Denes‹ »Wheatfield«-Serie

Nach­dem die »EXPO 1« damit ihre Iden­ti­tät zwi­schen Wan­der­aus­stel­lung und Aus­stel­lungs­for­mat womög­lich genau­er ver­or­tet hat, darf man neu­gie­rig in die Zukunft bli­cken. Mit den bei­den wei­te­ren Gast­spie­len in Peking und Ber­lin ste­hen zwei wei­te­re Metro­po­len auf dem Tour­nee­plan, die vor dem Hin­ter­grund ihrer ganz eige­nen Pro­ble­me auch ganz eige­ne Fra­gen auf­wer­fen. Weder die Fol­gen des Kli­ma­wan­dels noch der Wan­del des an sei­ne Gren­zen geführ­ten urba­nen Lebens­raums wer­den hier die bestim­men­den The­men sein kön­nen. In Peking wird man das dor­ti­ge mas­si­ve Pro­blem der Umwelt­ver­schmut­zung bei wach­sen­der Kon­sum­kraft nicht umge­hen kön­nen (Liu Weis »Hope­l­ess Lands« wird man dort sicher­lich wie­der begeg­nen), in Ber­lin wer­den an sei­ner Stel­le die Gen­tri­fi­zie­rung und ihre Bedro­hung einer Kul­tur­me­tro­po­le ste­hen müs­sen. Mög­li­cher­wei­se wer­den aber auch aktu­el­le Ereig­nis­se eine zügi­ge Reak­ti­on erfor­dern; das dies einer Aus­stel­lung mög­lich sein kann, wur­de ja bereits ein­drucks­voll demonstriert.

Für das Gelin­gen auch der kom­men­den Gast­spie­le wäre es zu begrü­ßen, wenn Volks­wa­gen wie schon in New York und Rio de Janei­ro kei­nen (sicht­ba­ren) Ein­fluss auf die Gestal­tung die­ser Aus­stel­lun­gen neh­men wür­de. Der Auto­bau­er betreibt in allen betei­lig­ten Län­dern wich­ti­ge Pro­duk­ti­ons­stät­ten, hat zudem zeit­gleich zur Eröff­nung der »EXPO 1« ein Werk im US-ame­ri­ka­ni­schen Chat­ta­noo­ga eröff­net und hat­te auch zuletzt in Bra­si­li­en anhal­ten­de Erfol­ge erzielt. In den chi­ne­si­schen Städ­ten Ning­bo, Urum­qi und Fos­han lief im ver­gan­ge­nen Jahr die nach Kon­zern­an­ga­ben umwelt­scho­nen­de Fer­ti­gung ver­schie­de­ner Model­le an, 2015 soll in einem wei­te­ren Werk in Chang­sha die Pro­duk­ti­on auf­ge­nom­men wer­den. Immer­hin war trotz der groß­zü­gi­gen För­de­run­gen bis­her kei­ne Ein­fluss­nah­me erkenn­bar. Der Kon­zern hielt sich auf­fäl­lig zurück, was man ande­ren Pro­jek­ten die­ser Grö­ßen­ord­nung lei­der nicht immer aner­ken­nen kann.

Wie sich auch Expo und Spon­sor auf die kom­men­den Sta­tio­nen vor­be­rei­ten wer­den, man darf wohl gespannt sein, wie die Kura­to­ren die Kunst für ihren Auf­ruf zu mehr Umwelt­be­wus­stein und Nach­hal­tig­keit ein­span­nen wer­den. Eine noch stär­ke­re Kon­zen­tra­ti­on auf die loka­le Situa­ti­on, die den Ver­gleich mit der gelun­ge­nen Erst­aus­ga­be in New York nicht zu scheu­en braucht, wäre so för­der­lich wie wün­schens­wert. Sie ist gewiss kein Ding der Unmöglichkeit.

João Maria Gusmão und Pedro Paiva: "Falling Cat" (2011)

João Maria Gus­mão und Pedro Pai­va: »Fal­ling Cat« (2011)

Diese Berichterstattung ist im Rahmen einer von Volkswagen gesponserten Pressereise entstanden.