Vielleicht knallten dieser Tage im Fridericianum die Sektkorken, als man spontan entschied, die seit Herbst laufende Ausstellung »Speculations on anonymous materials« um einen Monat zu verlängern. Schließlich war die Schau bisher ein voller Erfolg: Denn nicht nur die Wochenendbesucher, auch das Kunst- und Fachpublikum verfolgte die Ausstellung aufmerksam, die als erste institutionelle Übersicht über eine noch junge, aber bereits erfrischend pioniergeistige Künstlerriege gilt, welche bisher zumeist unter die überstrapazierte Kategorie der Post-Internet Art oder gar der »New Aesthetic« untergeordnet wurde. Zuletzt lockte sogar ein parallel abgehaltenes Symposium internationale Redner und Gäste nach Kassel, wo es sich über die philosophischen, theoretischen und praktischen Hintergründe dieses künstlerischen Phänomens verständigte. Für einen kurzen Moment war das verschlafene Städtchen wieder einmal der Nabel der Kunstwelt. Aufwendig orchestrierte Gruppenfotos bezeugen diesen Augenblick, als sei er schon jetzt für die Chroniken der Kunstgeschichte bestimmt.
So fiel es auch bisher jedem Beobachter leicht, die Schau als das beachtliche Antrittswerk der künstlerischen Direktorin Susanne Pfeffer zu deuten, der hier die behutsame Vermittlung einer sonderbaren Kunst gelungen sei, welche zuvor lediglich Eingeweihten bekannt gewesen war. Tatsächlich spürt Pfeffer mit einer bewundernswerten Akribie dem künstlerischen Zeitgeist nach, um ihm einer breiten Öffentlichkeit erstmals mit derselben Behutsamkeit vorzuführen, die auch der Exotik eines fremden Naturvolkes gerecht würde. Doch obgleich die Feuilletons die schillerndsten Metaphern bemühten, um ihrer einhelligen Begeisterung über diese frische Ästhetik Ausdruck zu verliehen, vernahm man bisher keine Kritik an den jetzt schon offensichtlichen Hürden und Herausforderungen, die diese höchst vergeistigte Kunst noch zu nehmen hat. Denn trotz oder gerade wegen des reichhaltigen Angebots aus Begriffen, Konzepten und Ideen, auf das »Speculations on anonymous materials« zurückgreift, um die hier versammelte Kunst zu erklären, zu positionieren und teils auch zu legitimieren, herrscht noch viel Verwirrung.
So zeichneten sich die ersten Widerstände ab, wenn man versuchte, die 25 hier vertretenen Künstler und ihre Werke auf ein gemeinsames Programm, auf eine gemeinsame Stoßrichtung oder wenigstens ein gemeinsames Interesse zu vereinigen. Ja, man sollte sich hüten, die zarte Entwicklung, die daher im Fridericianum umso scharfsinniger herausgearbeitet wurde, auf den Rang einer Bewegung zu erheben. Denn so eng der Kontakt zwischen diesen größtenteils in New York und Berlin ansässigen Akteuren auch ist, so konträr sind ihre Standpunkte, Absichten und Stile. Wenn eines sie eint, dann ist es ihre Verbundenheit mit den Konzepten der zeitgenössischen Philosophie und gegenwärtiger Alltagsästhetik.
Ein solches Musterbeispiel kann man etwa gleich zu Beginn der Ausstellung studieren: Yngve Holen bediente sich eines 3D-Scanners, um in einer Berliner Metzgerei grob geschnittene Fleischbrocken in ein virtuelles Abbild zu überführen, das im Anschluss von einem veronesischen Steinmetz aus dem ortstypisch roten Marmor gehauen wurde. Die plumpen Brocken bahrt der Norweger auf metaphorischen Schlachtbänken auf, die er aus Bühnenelementen konstruiert, welche mit Teppich und Fluchtwegleuchtbändern beklebt sind, die man aus jedem Flugzeug kennt. »Extended operations« (2013) bedient sich einer Ästhetik, die aus der Verschmelzung von Online- und Offline-Welten hervorgeht – was allerdings ohnehin ein untrennbares Ganzes darstellt –, um Virtualität und Physis als zwei gleichberechtigte Formen derselben Faktualität zu bekräftigen. Konkret gesprochen: Das Fleischstück, der gleichgestaltige Marmorblock sowie der Datensatz, welcher ihre Geometrien beschreibt, sind nicht etwa identisch, also ein und dasselbe Objekt in verschiedenen Ausformungen, sondern stellen verschiedene Ausformungen ein und derselben Idee eines Objekts dar, welche jedoch untereinander gleichberechtigt sind. Holen bedient sich dieses ontologischen Kniffs, um in dieser anekdotischen Anordnung der Dissoziation von Körper, Wesen und Raum nachzuspüren, die uns im Alltag zunehmend begegnen, etwa wenn Google Streetview die virtuelle Navigation im physischen Raum ermöglicht, wenn Menschen zu Bild- und Datenkörpern transformiert1 oder eben Gegenstände les- und druckbar werden.
Damit nimmt »Extended operations« bereits manches vorweg, das Holen mit vielen seiner Künstlerkollegen teilt. Zum einen ist es die ausgiebige Verwendung relativ neuartiger Technologien, welche die digitale Modellierung virtueller, oftmals aber explizit physischer Materialien zum Zweck haben: 3D-Druck und ‑Scan, Photoshop und CGI. Zum anderen ist es das Bewusstsein für eine Ästhetik, die aus der gesteigerten Präsenz des Internets heraus die physische Welt längst ergriffen hat, wechselseitig aber auch in virtuelle Gefilde eindringt oder gar dazwischen pendelt: Zu ihren Stilmitteln und Phänomenen gehören formelhafte Stockfotografie und die utopischen Bildreiche der Werbe-Industrie, Chroma Key und karierte Transparenz, visueller Overkill und Verfremdung. Die Kunstszene hat dafür bereits einen Namen gefunden: „Post-Internet Art“.
Die New Yorker Künstlerin Maria Olson prägte diesen Begriff vor kaum mehr als fünf Jahren, um diese Ästhetik von den Werken der Net.Art abzugrenzen, welche bis dahin noch von einem Technologiefetischismus angetrieben wurde, mit dem ihre Künstler nie so recht umzugehen wussten. Für Olson bedeutete dieses Post eben nicht die Abkehr vom Internet, sondern von der Vorstellung, daß online und offline von einander getrennt vorliegende Sphäre seien. Internetkultur, so die wertvolle Einsicht, ist nicht etwa eine spezifische Kultur des Internets, sondern eine Kultur, die nicht zuletzt auch durch das Internet geprägt ist. In einem Interview mit We Make Money no Art brachte Olson die Notwendigkeit dieser umfassenderen Betrachtung auf den Punkt:
„I think it’s important to address the impacts of the internet on culture at large, and this can be done well on networks but can and should also exist offline.“2
Doch mitnichten kann Olson als die Pionierin eines völlig neuen Stils angesehen werden. Stattdessen verweist sie auf eine Ästhetik, die Teil der Alltagskultur war ehe sie durch Künstler entdeckt und in ihre Arbeit aufgenommen wurde. Wie so häufig ziehen technologische Entwicklungen zunächst alltägliche, profane und soziale Effekte nach sich, ehe die Kunst auf diese Auswirkungen aufmerksam wird. Olsons Kollege Artie Vierkant führte die Merkmale dieses „impacts of the internet“ weiter aus:
„Post-internet is defined as a result of the contemporary moment: inherently informed by ubiquitous authorship, the development of attention as currency, the collapse of physical space in a networked culture, and the infinite reproducibility and mutability of digital materials.“3
All diese Merkmale findet man ebenso in Yngve Holens „Extended Operations“ wie auch in vielen anderen der in Kassel versammelten Arbeiten wieder: Sachin Kaeley überführt die übermäßig realistische Ästhetik jener Bilder auf das Tafelbild, wie man sie aus der HDR-Fotografie kennt oder wie sie mit Photoshops Relief-Werkzeug kreiert werden. Dazu knetet Kaeley ein üppiges Impasto, um seine Plastizität anschließend mit Sprühfarbe, Lack oder Farbfolie noch weiter zu überhöhen. Antoine Catala bespannt Werbeflächen mit auf Latex gedruckten Stock-Fotografien, um ihnen per Vakuum-Pumpe fremde Formen aufzuzwingen. Avery Singer erstellt mithilfe rudimentärer Grafiksoftware dreidimensionale Motive der klassischen Moderne, die sie im Anschluss auf Leinwände aufbringt.
Jedoch wirkt dieser Grenzgang zwischen digitaler Ästhetik und materieller Haptik oftmals gezwungen, konstruiert oder gar dem Selbstzweck bestimmt. Sei es in Kassel, Berlin oder New York: Diesen starren Konzepten wird man häufiger begegnen; und es scheint, wo nicht der unsägliche Formalismus herrscht, der stets mit einer frischen Ästhetik einherzugehen pflegt, findet man kaum ausbalancierte Kunstwerke, die sie mit Intelligenz und Witz zu nutzen wissen. So ist es auch keine Überraschung, daß manch ein Künstler, der sich nicht gänzlich von dieser Ästhetik zu distanzieren vermag, das mittlerweile schon zum Schlagwort gewordene Etikett der Post-Internet Art vehement von sich weist. Denn einigen von ihnen geht es um mehr als nur digitale Ästhetik. Sie sind vor allem an den Konzepten der zeitgenössischen Philosophie inspiriert: Spekulativer Realismus und Neuer Materialismus waren schließlich auch die titelgebenden Ideengebäude der Kasseler Überblicksausstellung. Doch hier fangen die Probleme an: „Speculations on anonymous materials“ kann trotz aller Bemühungen weder einen sinnvollen Zusammenhang zum Alltag herstellen, noch plausibel darlegen, wie sich die hier versammelten Künstler dieser Konzepte bedienen, nicht um sie bloß zu illustrieren, sondern um sie als Instrument für aussagekräftige Positionen zu gebrauchen.
»Speculations on anonymous materials« fordert ein fundiertes Verständnis dieser philosophischen Begriffe und Konzepte ein, um sich verständlich und nachvollziehbar zu machen. Daher wird es zunächst notwendig sein, diese Ideen, welche Künstler und Kuratorin für sich entdeckt haben, etwas ausführlicher darzustellen.
Der spekulative Realismus bezeichnet eine lose, oftmals noch inkohärente Idee, nach der nicht-menschliche Objekte und Subjekte grundsätzlich auch außerhalb der Korrelation von Gedanken und Sein existieren. In seiner Kritik am post-Kant’schen Korrelationismus – grob: was nicht gedacht werden kann, ist nicht erkennbar – bezieht sich Quentin Meillassoux, einer der meistzitiertesten Verfechter des spekulativen Realismus, explizit auf wissenschaftliche Beweiskulturen4. Demnach zeige bereits die Forschung über sog. ancestrale Gegenstände, also solche Dinge, die vor der evolutionären Entwicklung bewusster Lebewesen liegen, daß Erkenntnis nicht an die Kopplung von Denken und Sein gebunden ist: Seine Kritik an einer korrelationistischen Ontologie legt Meillassoux explizit anhand der Forschung über den Ursprung des Universums, das Alter der Erde usw. dar. Er möchte seine elegante Argumentation jedoch ausdrücklich auf epistemologische Wissenschaftskulturen bezogen wissen, keineswegs erhebt er den Anspruch, damit auch anderen Formen der Erkenntnis zu genügen. Jedoch kommt er ebenso wie eine Vielzahl weiterer Philosophen zu dem Schluß, daß ein anthropozentrisches Privileg über belebte und unbelebte Objekte nicht aufrecht erhalten werden kann: Wenn die Dinge ungeachtet des denkenden Individuums sein können, steht ihnen eine Realität unabhängig von fremder Wahrnehmung, Beobachtung und Denken zu.
Diese Nachricht trifft freilich in einer Zeit und einer Kultur auf offene Ohren, die sich dem Umwelt- und dem Tierschutz verschrieben, die einen Popularitätsschub von Vegetarismus und Veganismus erlebt, die aber auch die erschütternden Erkenntnisse der Quantenphysik über die Probalibistik der Dinge in sich aufgenommen hat.
Der gleichen Denkschule entstammt der Begriff des Neuen Materialismus, dessen Kerngedanke in der Erweiterung der herkömmlichen Materialismus liegt, der Stofflichkeit als das Prinzip aller Gedanken, Gefühle und Ideen ansieht. Demnach sei Materie freilich auch die Grundlage aller physikalischer Phänomene, ob sie nun technologisch oder biologisch genutzt werden oder nicht. Dies schließt insbesondere nicht-feste Dinge wie elektro-magnetische Felder und Wellen, also im einfachsten Falle etwa Licht, im speziellen aber gerade auch WiFi, Satellitenfernsehen oder das Internet ein. Daher sei es nicht nur prinzipiell möglich, daß diese Medien Sinn generieren, Gedanken und Ideen entwickeln können, es stünde ihnen sogar zu, untereinander dieselben Relationen auszubilden, wie es der Mensch mit ihnen zu tun pflegt. Dahinter verbirgt sich dieselbe Grundannahme, die automatisierte Netzwerke, den Hochfrequenzhandel oder künstliche Intelligenz ermöglicht, die eine Ethik und Soziologie der Roboter prognostiziert oder Schwarmdenken und ‑intelligenz als die gemeinsame Grundlage von Ameisenvölkern wie auch des Internets ansieht.
Dadurch zeichnen sich diese beiden Gedanken über Materialismus und Realismus als Teil der objekt-orientierten Ontologie aus, die, grob vereinfacht alle Qualitäten eines Objekts in sich begründet, sodaß alle Relationen zwischen zwei oder mehr Objekten nur aus diesen Qualitäten folgen können, jedoch aus ihren Relationen nicht notwendigerweise auf die Gesamtheit der zugrunde liegenden Qualitäten geschlossen werden kann. Daraus folgt nicht weniger als die Emanzipation aller nicht-menschlicher Objekte und Materialen als selbständige Dinge, unter denen der Mensch als nur eines unter vielen sei.
Mit diesem philosophischen Rüstzeug lässt sich Timur Si-Qins »Axe Effect« als Suche nach der Maskulinität als inhärente Materialeigenschaft solch stark aufgeladener Dinge wie Samurai-Schwertern oder Shampoo-Flaschen auffassen (welche schließlich im regenbogenbunten Brei verloren geht). So kann man auch in seinen gebackenen Yoga-Matten die tragischen Narben einer gewaltvollen Auseinandersetzung zwischen zwei Objekten erkennen. Simon Dennys Dokumentation einer in diversen Medien propagierten, aber wissenschaftlich nicht haltbaren Entdeckung zur Behandlung des Chronischen Müdigkeitssyndroms wird demnach als das sinnstiftende, sich selbst perpetuierende Produkt eines Informationsnetzwerks aus Magazinen und Internetforen lesbar. Und Aleksandra Domanovićs Film »From Yu to me« verfolgt das virtuelle Überleben Jugoslawiens in seiner Top-Level-Domain-Domain .yu, die erst 2010, gut zwanzig Jahre nach dem Zerfall des Staates abgeschaffen wurde.
Doch wie so häufig schließt sich an solch neue ästhetische Konzepte die Frage nach der Herkunft an. Schließlich sucht Susanne Pfeffer in „Speculations on anonymous materials“ auch nach den Bedingungen, Ursachen und Gründen, welche die Entstehung dieser Kunst vorantrieben. Sie hat sie schnell gefunden: Die Ausstellung sieht sich in der Nachfolge einer fundamental veränderten Bildpraxis, aus welcher die hier vorgestellten künstlerischen Positionen als Teil einer notwendigen Entwicklung hin zu einem neuen Materialismus hervorgingen. So heißt es im Ausstellungspamphlet:
„In einer Welt voll von generierten Bildern verändert sich der Auftrag der Kunst. Ein Nachdenken über diese oft hoch psychologisierten Bildwelten, die Formen der Bildwiedergabe und Bildrepräsentation ist zwingend. […] Während die originäre Bildgenese als primäre Aufgabe der Kunst entfällt, wird das Arbeiten mit bereits existierenden Bildern, Objekten und Räumen zum entsubjektivierten Ort der Reflektion.“5
Damit kann nichts anderes als der iconic turn gemeint sein, der zunächst jedoch nichts anderes beschreibt als die seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gesteigerte Präsenz aller Arten von Bildern im Alltag wie in der Kommunikation, in den Wissenschaften wie in der Unterhaltungsindustrie. Der Bildbegriff wird hierbei von vielen Autoren sehr großzügig ausgelegt: Ein Bild ist, was der Mensch gestaltet hat.6 Damit sind also nicht nur herkömmliche Bilder, also etwa Gemälde, Tafelbilder, Zeichnungen und Fotografien gemeint, sondern auch Diagramme, Piktogramme, Film, Werbung, Grafik, visuelle Interfaces, sowie eine Fülle an technischen Bildern aus den Wissenschaften. Im engeren Sinne werden mit dem Begriff des Bildes weiterhin all jene menschlichen Artefakte bezeichnet, die in Hinblick auf ihren visuellen Sinngehalt gestaltet wurden.
Im Fridericianum sieht man jedoch lediglich in „generierten Bildern“ das Potential, den Auftrag der Kunst neu zu verhandeln. Tatsächlich verlor die Kunst das Bildmonopol – doch das geschah nicht erst gestern, sondern bereits mit der Erfindung und anschließenden Verbreitung der Fotografie. „Generierte Bilder“ – ob man darunter nun alle digitalen Bildformen im Allgemeinen, oder Visualisierungen, vollständig am oder vom Computer entworfene Bilder im Speziellen versteht – stellen dabei nur die jüngste Erscheinung dar, welche dennoch auf eine viele Jahre lange Geschichte zurückblickt. Die Kunst reagierte bereits frühzeitig auf solche Identitätskrisen. Die Ergebnisse dieser rigorosen Selbstinventur kennen wir heute als die Werke der Moderne und Postmoderne: Nachdem anfänglich in der Abstraktion die Grenzparameter des Bildes bestimmt wurden, konnten anschließend im Geiste der Appropriation potentiell alle Bilder zur Kunst erhoben werden. Bald wurde ihnen mit der Performance, der Video- oder der Soundkunst neue Medien zur Seite gestellt, die nicht auf das Visuelle beschränkt waren, um sie schließlich ebenso wie die Bilder als Werkzeuge aufzufassen, die den Konzepten unterworfen werden konnten. Diese Entwicklung wäre vor dem Hintergrund der herkömmlichen Bildpraxis wohl kaum möglich gewesen.
Dementsprechend ist es fraglich, welchen Umbruch „generierte Bilder“ nach sich gezogen haben könnten. Die Suche nach dem künstlerischen Meilenstein wird nicht zuletzt dadurch erschwert, daß nicht einmal klar ist, ob es sich bei diesen (vermeintlich) neuen Bildern um von Menschen gemachte oder eben um Dinge handelt, die beispielsweise von Tieren, Pflanzen, unbelebten Materialien, insbesondere aber Computern und Netzwerken geschaffen wurde, die für ihresgleichen gedacht sind. Das bekannteste Beispiel wäre also jene Gesichtserkennungstechnologie, die es ermöglicht, aus automatisiert gewonnenen Kameraaufnahmen ohne Zutun der menschlichen Urteilskraft Rückschlüsse über die dargestellten Personen hinsichtlich Identität, Emotionen oder ethnischer Zugehörigkeit zu gewinnen. Ob hier jedoch noch der Bildbegriff nützlich sein kann, ist zweifelhaft, zumal es sich der Natur nach um algorithmisch aufbereitete Messdaten optischer Instrumente handelt, die nur für einen besonderen Zweck als echte Bilder aufbereitet werden, nämlich der Handhabe durch einen Menschen. „Speculations on anonymous materials“ lässt diese wesentliche Unterscheidung leider aus, denn nur diese Bilder oder eben Nicht-Bilder wären es wert, vor dem Hintergrund der so aufwendig referenzierten objekt-orientierten Ontologie verhandelt zu werden. Da es jedoch derer Beispiele nur wenige gibt, wird man wohl kaum von einer »Welt voll von generierten Bildern« sprechen können, sodaß es wohl die Gesamtheit der digitalen Bilder sein dürfte, auf welche die in »Speculations on anonymous materials« ausgestellten Exponate mit einer diffusen Zuwendung zu Material und Objekt antworten. So drängt sich die Frage auf, ob diese Reaktion überhaupt so neuartig sein kann, wie es im Fridericianum zumindest suggeriert wird.
In der jüngeren Kunstgeschichte finden sich immerhin einige bedeutende Beispiele für materialbetonte Arbeiten: Einen regelrechten Stahl- und Bleifetisch kann man von Richard Serra über Anselm Kiefer bis hin zu Antony Gormley verfolgen, während Beuys’ Vorliebe für Fett und Filz ebenso bekannt wie Meret Oppenheims pelziges Teeservice oder Dieter Roths Schokoladenskulpturen ist. So ging also von diesen Stoffen bereits vor einigen Jahrzehnten eine Bedeutung aus, die im Sinne einer umfassenden Materialikonographie gedeutet werden kann. Deren Interesse am Material gründete sich jedoch gerade deswegen genau auf jene korrelationistischen Tendenzen, die Meillassoux und andere Philosophen ablehnen. Man wird sich naturgemäß schwertun, diese Kritik auch in der Kunst schlüssig nachzuvollziehen. So wird man trefflich darüber streiten können, ob Yngve Holens fleischroter Marmor und Timur Si-Qins testosteronstrotzendes Shampoo sich nicht vielleicht doch noch auf die Lesart des herkömmlichen anthropozentrischen Realismus beschränken.
So wirft »Speculations on anonymous materials« notgedrungenermaßen noch mehr Fragen auf, als es Antworten geben kann. Die Ausstellung schickt sich an, einen Überblick über eine noch junge künstlerische Tendenz zu geben, deren weiterer Verlauf wohl kaum absehbar ist. Ihre Ideen und Konzepte sind bereits abgesteckt, allein bleibt unklar, wie stichhaltig sie diese noch verfolgen wird. Dem Fridericianum kommt daher immerhin der Verdienst zu, die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Künstlergeneration frühzeitig gelenkt und damit den Weg für eine Auseinandersetzung aufgezeigt zu haben, die fortan nicht nur im eklektischen Zirkel einer Handvoll Galerien und Projekträume in New York geführt wird. Das große Medieninteresse sowie die erfreulichen Besucherzahlen bestätigen dies. Dennoch bleibt bisher nicht viel mehr festzustellen, als daß diese neuartige Ästhetik samt ihres inhaltlichen Überbaus naturgemäß noch überaus diffus, aber auch formbar ist. So fehlt es einerseits noch an einem schlüssigen Formenkreis, anderseits aber vor allem auch an der Fähigkeit, die trotz ihrer enormen Tragweite so verworrenen philosophischen Hintergründe sorgfältig aufzubereiten, um sie schließlich in der Kunst zur Anwendung zu führen, sie als Werkzeug einer Untersuchung oder gar Kritik zu gebrauchen. Man spürt jedoch paradoxerweise auch eine gewisse Müdigkeit gegenüber sachlich und methodisch vorgehender Konzeptkunst, sodaß eine derartige Instrumentalisierung der in »Speculations on anonymous materialis« so aufwendig aufbereiteten Philosophien möglicherweise ganz ausbleiben wird. Letztlich wird man diese noch etwas exotisch wirkende Kunst daran messen, ob sie den Erfahrungen und Fragen des heutigen Alltags die notwendigen Erklärungen und Antworten liefern konnte, ob sie als ein Akteur gehört wurde, der sich aktiv und nachhaltig in die reflexive Diskussion gegenwärtiger kultureller, sozialer und politischer Umbrüche einbrachte. Bisher sind die neuen Materialisten auf einem guten Weg. Es dürfte spannend bleiben.
- Catherine Waldby: »The Visible Human Project: Informatic Bodies and Posthuman Medicine«. New York und London: Routledge 2000. ↩
- Regine Debatty: „Interview with Maria Olson“. We Make Money not Art 2008. ↩
- Artie Vierkant: „The Image Object Post-Internet“. Jstchillin 2010. ↩
- Quentin Meillassoux: »After Finitude: An Essay on the Necessity of Contingency«. London: Continuum 2009. ↩
- Susanne Pfeffer: „Speculations on anonymous materials“, ausstellungsbegleitendes Booklet. ↩
- Horst Bredekamp: »Theorie des Bildakts«. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010. S. 34 ↩