Kaum Spekulationen über anonyme Materialien

22. Januar 2014 von Matthias Planitzer
Post-Internet, spekulativer Realismus, neuer Materialismus: große Worte, große Ambitionen.

Josh Kline: »Crea­tive hands« (Detail: DJ/Designerhand mit iPhone (Jon San­tos), 2013)

Viel­leicht knall­ten die­ser Tage im Fri­de­ri­cia­num die Sekt­kor­ken, als man spon­tan ent­schied, die seit Herbst lau­fen­de Aus­stel­lung »Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als« um einen Monat zu ver­län­gern. Schließ­lich war die Schau bis­her ein vol­ler Erfolg: Denn nicht nur die Wochen­end­be­su­cher, auch das Kunst- und Fach­pu­bli­kum ver­folg­te die Aus­stel­lung auf­merk­sam, die als ers­te insti­tu­tio­nel­le Über­sicht über eine noch jun­ge, aber bereits erfri­schend pio­nier­geis­ti­ge Künst­ler­rie­ge gilt, wel­che bis­her zumeist unter die über­stra­pa­zier­te Kate­go­rie der Post-Inter­net Art oder gar der »New Aes­the­tic« unter­ge­ord­net wur­de. Zuletzt lock­te sogar ein par­al­lel abge­hal­te­nes Sym­po­si­um inter­na­tio­na­le Red­ner und Gäs­te nach Kas­sel, wo es sich über die phi­lo­so­phi­schen, theo­re­ti­schen und prak­ti­schen Hin­ter­grün­de die­ses künst­le­ri­schen Phä­no­mens ver­stän­dig­te. Für einen kur­zen Moment war das ver­schla­fe­ne Städt­chen wie­der ein­mal der Nabel der Kunst­welt. Auf­wen­dig orches­trier­te Grup­pen­fo­tos bezeu­gen die­sen Augen­blick, als sei er schon jetzt für die Chro­ni­ken der Kunst­ge­schich­te bestimmt.

So fiel es auch bis­her jedem Beob­ach­ter leicht, die Schau als das beacht­li­che Antritts­werk der künst­le­ri­schen Direk­to­rin Susan­ne Pfef­fer zu deu­ten, der hier die behut­sa­me Ver­mitt­lung einer son­der­ba­ren Kunst gelun­gen sei, wel­che zuvor ledig­lich Ein­ge­weih­ten bekannt gewe­sen war. Tat­säch­lich spürt Pfef­fer mit einer bewun­derns­wer­ten Akri­bie dem künst­le­ri­schen Zeit­geist nach, um ihm einer brei­ten Öffent­lich­keit erst­mals mit der­sel­ben Behut­sam­keit vor­zu­füh­ren, die auch der Exo­tik eines frem­den Natur­vol­kes gerecht wür­de. Doch obgleich die Feuil­le­tons die schil­lernds­ten Meta­phern bemüh­ten, um ihrer ein­hel­li­gen Begeis­te­rung über die­se fri­sche Ästhe­tik Aus­druck zu ver­lie­hen, ver­nahm man bis­her kei­ne Kri­tik an den jetzt schon offen­sicht­li­chen Hür­den und Her­aus­for­de­run­gen, die die­se höchst ver­geis­tig­te Kunst noch zu neh­men hat. Denn trotz oder gera­de wegen des reich­hal­ti­gen Ange­bots aus Begrif­fen, Kon­zep­ten und Ideen, auf das »Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als« zurück­greift, um die hier ver­sam­mel­te Kunst zu erklä­ren, zu posi­tio­nie­ren und teils auch zu legi­ti­mie­ren, herrscht noch viel Verwirrung.

So zeich­ne­ten sich die ers­ten Wider­stän­de ab, wenn man ver­such­te, die 25 hier ver­tre­te­nen Künst­ler und ihre Wer­ke auf ein gemein­sa­mes Pro­gramm, auf eine gemein­sa­me Stoß­rich­tung oder wenigs­tens ein gemein­sa­mes Inter­es­se zu ver­ei­ni­gen. Ja, man soll­te sich hüten, die zar­te Ent­wick­lung, die daher im Fri­de­ri­cia­num umso scharf­sin­ni­ger her­aus­ge­ar­bei­tet wur­de, auf den Rang einer Bewe­gung zu erhe­ben. Denn so eng der Kon­takt zwi­schen die­sen größ­ten­teils in New York und Ber­lin ansäs­si­gen Akteu­ren auch ist, so kon­trär sind ihre Stand­punk­te, Absich­ten und Sti­le. Wenn eines sie eint, dann ist es ihre Ver­bun­den­heit mit den Kon­zep­ten der zeit­ge­nös­si­schen Phi­lo­so­phie und gegen­wär­ti­ger Alltagsästhetik.

Yngve Holen: "Extended operations" (2013); Foto: Achim Hatzius, courtesy der Künstler, Johan Breggren Gallery und Neue Alte Brücke

Yng­ve Holen: »Exten­ded ope­ra­ti­ons« (2013); Foto: Achim Hat­zi­us, cour­te­sy der Künst­ler, Johan Breg­gren Gal­lery und Neue Alte Brücke

Ein sol­ches Mus­ter­bei­spiel kann man etwa gleich zu Beginn der Aus­stel­lung stu­die­ren: Yng­ve Holen bedien­te sich eines 3D-Scan­ners, um in einer Ber­li­ner Metz­ge­rei grob geschnit­te­ne Fleisch­bro­cken in ein vir­tu­el­les Abbild zu über­füh­ren, das im Anschluss von einem vero­ne­si­schen Stein­metz aus dem orts­ty­pisch roten Mar­mor gehau­en wur­de. Die plum­pen Bro­cken bahrt der Nor­we­ger auf meta­pho­ri­schen Schlacht­bän­ken auf, die er aus Büh­nen­ele­men­ten kon­stru­iert, wel­che mit Tep­pich und Flucht­weg­leucht­bän­dern beklebt sind, die man aus jedem Flug­zeug kennt. »Exten­ded ope­ra­ti­ons« (2013) bedient sich einer Ästhe­tik, die aus der Ver­schmel­zung von Online- und Off­line-Wel­ten her­vor­geht – was aller­dings ohne­hin ein untrenn­ba­res Gan­zes dar­stellt –, um Vir­tua­li­tät und Phy­sis als zwei gleich­be­rech­tig­te For­men der­sel­ben Fak­tua­li­tät zu bekräf­ti­gen. Kon­kret gespro­chen: Das Fleisch­stück, der gleich­ge­stal­ti­ge Mar­mor­block sowie der Daten­satz, wel­cher ihre Geo­me­trien beschreibt, sind nicht etwa iden­tisch, also ein und das­sel­be Objekt in ver­schie­de­nen Aus­for­mun­gen, son­dern stel­len ver­schie­de­ne Aus­for­mun­gen ein und der­sel­ben Idee eines Objekts dar, wel­che jedoch unter­ein­an­der gleich­be­rech­tigt sind. Holen bedient sich die­ses onto­lo­gi­schen Kniffs, um in die­ser anek­do­ti­schen Anord­nung der Dis­so­zia­ti­on von Kör­per, Wesen und Raum nach­zu­spü­ren, die uns im All­tag zuneh­mend begeg­nen, etwa wenn Goog­le Street­view die vir­tu­el­le Navi­ga­ti­on im phy­si­schen Raum ermög­licht, wenn Men­schen zu Bild- und Daten­kör­pern trans­for­miert1 oder eben Gegen­stän­de les- und druck­bar werden.

Damit nimmt »Exten­ded ope­ra­ti­ons« bereits man­ches vor­weg, das Holen mit vie­len sei­ner Künst­ler­kol­le­gen teilt. Zum einen ist es die aus­gie­bi­ge Ver­wen­dung rela­tiv neu­ar­ti­ger Tech­no­lo­gien, wel­che die digi­ta­le Model­lie­rung vir­tu­el­ler, oft­mals aber expli­zit phy­si­scher Mate­ria­li­en zum Zweck haben: 3D-Druck und ‑Scan, Pho­to­shop und CGI. Zum ande­ren ist es das Bewusst­sein für eine Ästhe­tik, die aus der gestei­ger­ten Prä­senz des Inter­nets her­aus die phy­si­sche Welt längst ergrif­fen hat, wech­sel­sei­tig aber auch in vir­tu­el­le Gefil­de ein­dringt oder gar dazwi­schen pen­delt: Zu ihren Stil­mit­teln und Phä­no­me­nen gehö­ren for­mel­haf­te Stock­fo­to­gra­fie und die uto­pi­schen Bild­rei­che der Wer­be-Indus­trie, Chro­ma Key und karier­te Trans­pa­renz, visu­el­ler Over­kill und Ver­frem­dung. Die Kunst­sze­ne hat dafür bereits einen Namen gefun­den: „Post-Inter­net Art“.

Die New Yor­ker Künst­le­rin Maria Olson präg­te die­sen Begriff vor kaum mehr als fünf Jah­ren, um die­se Ästhe­tik von den Wer­ken der Net.Art abzu­gren­zen, wel­che bis dahin noch von einem Tech­no­lo­gie­fe­ti­schis­mus ange­trie­ben wur­de, mit dem ihre Künst­ler nie so recht umzu­ge­hen wuss­ten. Für Olson bedeu­te­te die­ses Post eben nicht die Abkehr vom Inter­net, son­dern von der Vor­stel­lung, daß online und off­line von ein­an­der getrennt vor­lie­gen­de Sphä­re sei­en. Inter­net­kul­tur, so die wert­vol­le Ein­sicht, ist nicht etwa eine spe­zi­fi­sche Kul­tur des Inter­nets, son­dern eine Kul­tur, die nicht zuletzt auch durch das Inter­net geprägt ist. In einem Inter­view mit We Make Money no Art brach­te Olson die Not­wen­dig­keit die­ser umfas­sen­de­ren Betrach­tung auf den Punkt:

„I think it’s important to address the impacts of the inter­net on cul­tu­re at lar­ge, and this can be done well on net­works but can and should also exist off­line.“2

Doch mit­nich­ten kann Olson als die Pio­nie­rin eines völ­lig neu­en Stils ange­se­hen wer­den. Statt­des­sen ver­weist sie auf eine Ästhe­tik, die Teil der All­tags­kul­tur war ehe sie durch Künst­ler ent­deckt und in ihre Arbeit auf­ge­nom­men wur­de. Wie so häu­fig zie­hen tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen zunächst all­täg­li­che, pro­fa­ne und sozia­le Effek­te nach sich, ehe die Kunst auf die­se Aus­wir­kun­gen auf­merk­sam wird. Olsons Kol­le­ge Artie Vier­kant führ­te die Merk­ma­le die­ses „impacts of the inter­net“ wei­ter aus:

„Post-inter­net is defi­ned as a result of the con­tem­po­ra­ry moment: inher­ent­ly infor­med by ubi­qui­tous aut­hor­ship, the deve­lo­p­ment of atten­ti­on as cur­ren­cy, the col­lap­se of phy­si­cal space in a net­work­ed cul­tu­re, and the infi­ni­te repro­du­ci­bi­li­ty and muta­bi­li­ty of digi­tal mate­ri­als.“3

Sachin Kaeley, Installationsansicht

Sachin Kae­ley, Installationsansicht

All die­se Merk­ma­le fin­det man eben­so in Yng­ve Holens „Exten­ded Ope­ra­ti­ons“ wie auch in vie­len ande­ren der in Kas­sel ver­sam­mel­ten Arbei­ten wie­der: Sachin Kae­ley über­führt die über­mä­ßig rea­lis­ti­sche Ästhe­tik jener Bil­der auf das Tafel­bild, wie man sie aus der HDR-Foto­gra­fie kennt oder wie sie mit Pho­to­shops Reli­ef-Werk­zeug kre­iert wer­den. Dazu kne­tet Kae­ley ein üppi­ges Impas­to, um sei­ne Plas­ti­zi­tät anschlie­ßend mit Sprüh­far­be, Lack oder Farb­fo­lie noch wei­ter zu über­hö­hen. Antoine Cata­la bespannt Wer­be­flä­chen mit auf Latex gedruck­ten Stock-Foto­gra­fien, um ihnen per Vaku­um-Pum­pe frem­de For­men auf­zu­zwin­gen. Avery Sin­ger erstellt mit­hil­fe rudi­men­tä­rer Gra­fik­soft­ware drei­di­men­sio­na­le Moti­ve der klas­si­schen Moder­ne, die sie im Anschluss auf Lein­wän­de aufbringt.

Jedoch wirkt die­ser Grenz­gang zwi­schen digi­ta­ler Ästhe­tik und mate­ri­el­ler Hap­tik oft­mals gezwun­gen, kon­stru­iert oder gar dem Selbst­zweck bestimmt. Sei es in Kas­sel, Ber­lin oder New York: Die­sen star­ren Kon­zep­ten wird man häu­fi­ger begeg­nen; und es scheint, wo nicht der unsäg­li­che For­ma­lis­mus herrscht, der stets mit einer fri­schen Ästhe­tik ein­her­zu­ge­hen pflegt, fin­det man kaum aus­ba­lan­cier­te Kunst­wer­ke, die sie mit Intel­li­genz und Witz zu nut­zen wis­sen. So ist es auch kei­ne Über­ra­schung, daß manch ein Künst­ler, der sich nicht gänz­lich von die­ser Ästhe­tik zu distan­zie­ren ver­mag, das mitt­ler­wei­le schon zum Schlag­wort gewor­de­ne Eti­kett der Post-Inter­net Art vehe­ment von sich weist. Denn eini­gen von ihnen geht es um mehr als nur digi­ta­le Ästhe­tik. Sie sind vor allem an den Kon­zep­ten der zeit­ge­nös­si­schen Phi­lo­so­phie inspi­riert: Spe­ku­la­ti­ver Rea­lis­mus und Neu­er Mate­ria­lis­mus waren schließ­lich auch die titel­ge­ben­den Ideen­ge­bäu­de der Kas­se­ler Über­blicks­aus­stel­lung. Doch hier fan­gen die Pro­ble­me an: „Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als“ kann trotz aller Bemü­hun­gen weder einen sinn­vol­len Zusam­men­hang zum All­tag her­stel­len, noch plau­si­bel dar­le­gen, wie sich die hier ver­sam­mel­ten Künst­ler die­ser Kon­zep­te bedie­nen, nicht um sie bloß zu illus­trie­ren, son­dern um sie als Instru­ment für aus­sa­ge­kräf­ti­ge Posi­tio­nen zu gebrauchen.

Installationsansicht. Ryan Trecartin: "Item Falls", Ken Okiishi: "gesture/data", Katja Novitskova: "Approximation V Chamäleon"; Foto: Achim Hatzius

Instal­la­ti­ons­an­sicht. Ryan Tre­car­tin: »Item Falls«, Ken Oki­i­shi: »gesture/data«, Kat­ja Novits­ko­va: »Appro­xi­ma­ti­on V Cha­mä­le­on«; Foto: Achim Hatzius

»Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als« for­dert ein fun­dier­tes Ver­ständ­nis die­ser phi­lo­so­phi­schen Begrif­fe und Kon­zep­te ein, um sich ver­ständ­lich und nach­voll­zieh­bar zu machen. Daher wird es zunächst not­wen­dig sein, die­se Ideen, wel­che Künst­ler und Kura­to­rin für sich ent­deckt haben, etwas aus­führ­li­cher darzustellen.
Der spe­ku­la­ti­ve Rea­lis­mus bezeich­net eine lose, oft­mals noch inko­hä­ren­te Idee, nach der nicht-mensch­li­che Objek­te und Sub­jek­te grund­sätz­lich auch außer­halb der Kor­re­la­ti­on von Gedan­ken und Sein exis­tie­ren. In sei­ner Kri­tik am post-Kant’schen Kor­re­la­tio­nis­mus – grob: was nicht gedacht wer­den kann, ist nicht erkenn­bar – bezieht sich Quen­tin Meil­las­soux, einer der meist­zi­tier­tes­ten Ver­fech­ter des spe­ku­la­ti­ven Rea­lis­mus, expli­zit auf wis­sen­schaft­li­che Beweis­kul­tu­ren4. Dem­nach zei­ge bereits die For­schung über sog. ances­tra­le Gegen­stän­de, also sol­che Din­ge, die vor der evo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lung bewuss­ter Lebe­we­sen lie­gen, daß Erkennt­nis nicht an die Kopp­lung von Den­ken und Sein gebun­den ist: Sei­ne Kri­tik an einer kor­re­la­tio­nis­ti­schen Onto­lo­gie legt Meil­las­soux expli­zit anhand der For­schung über den Ursprung des Uni­ver­sums, das Alter der Erde usw. dar. Er möch­te sei­ne ele­gan­te Argu­men­ta­ti­on jedoch aus­drück­lich auf epis­te­mo­lo­gi­sche Wis­sen­schafts­kul­tu­ren bezo­gen wis­sen, kei­nes­wegs erhebt er den Anspruch, damit auch ande­ren For­men der Erkennt­nis zu genü­gen. Jedoch kommt er eben­so wie eine Viel­zahl wei­te­rer Phi­lo­so­phen zu dem Schluß, daß ein anthro­po­zen­tri­sches Pri­vi­leg über beleb­te und unbe­leb­te Objek­te nicht auf­recht erhal­ten wer­den kann: Wenn die Din­ge unge­ach­tet des den­ken­den Indi­vi­du­ums sein kön­nen, steht ihnen eine Rea­li­tät unab­hän­gig von frem­der Wahr­neh­mung, Beob­ach­tung und Den­ken zu.

Die­se Nach­richt trifft frei­lich in einer Zeit und einer Kul­tur auf offe­ne Ohren, die sich dem Umwelt- und dem Tier­schutz ver­schrie­ben, die einen Popu­la­ri­täts­schub von Vege­ta­ris­mus und Vega­nis­mus erlebt, die aber auch die erschüt­tern­den Erkennt­nis­se der Quan­ten­phy­sik über die Pro­ba­li­bis­tik der Din­ge in sich auf­ge­nom­men hat.

Der glei­chen Denk­schu­le ent­stammt der Begriff des Neu­en Mate­ria­lis­mus, des­sen Kern­ge­dan­ke in der Erwei­te­rung der her­kömm­li­chen Mate­ria­lis­mus liegt, der Stoff­lich­keit als das Prin­zip aller Gedan­ken, Gefüh­le und Ideen ansieht. Dem­nach sei Mate­rie frei­lich auch die Grund­la­ge aller phy­si­ka­li­scher Phä­no­me­ne, ob sie nun tech­no­lo­gisch oder bio­lo­gisch genutzt wer­den oder nicht. Dies schließt ins­be­son­de­re nicht-fes­te Din­ge wie elek­tro-magne­ti­sche Fel­der und Wel­len, also im ein­fachs­ten Fal­le etwa Licht, im spe­zi­el­len aber gera­de auch WiFi, Satel­li­ten­fern­se­hen oder das Inter­net ein. Daher sei es nicht nur prin­zi­pi­ell mög­lich, daß die­se Medi­en Sinn gene­rie­ren, Gedan­ken und Ideen ent­wi­ckeln kön­nen, es stün­de ihnen sogar zu, unter­ein­an­der die­sel­ben Rela­tio­nen aus­zu­bil­den, wie es der Mensch mit ihnen zu tun pflegt. Dahin­ter ver­birgt sich die­sel­be Grund­an­nah­me, die auto­ma­ti­sier­te Netz­wer­ke, den Hoch­fre­quenz­han­del oder künst­li­che Intel­li­genz ermög­licht, die eine Ethik und Sozio­lo­gie der Robo­ter pro­gnos­ti­ziert oder Schwarm­den­ken und ‑intel­li­genz als die gemein­sa­me Grund­la­ge von Amei­sen­völ­kern wie auch des Inter­nets ansieht.
Dadurch zeich­nen sich die­se bei­den Gedan­ken über Mate­ria­lis­mus und Rea­lis­mus als Teil der objekt-ori­en­tier­ten Onto­lo­gie aus, die, grob ver­ein­facht alle Qua­li­tä­ten eines Objekts in sich begrün­det, sodaß alle Rela­tio­nen zwi­schen zwei oder mehr Objek­ten nur aus die­sen Qua­li­tä­ten fol­gen kön­nen, jedoch aus ihren Rela­tio­nen nicht not­wen­di­ger­wei­se auf die Gesamt­heit der zugrun­de lie­gen­den Qua­li­tä­ten geschlos­sen wer­den kann. Dar­aus folgt nicht weni­ger als die Eman­zi­pa­ti­on aller nicht-mensch­li­cher Objek­te und Mate­ria­len als selb­stän­di­ge Din­ge, unter denen der Mensch als nur eines unter vie­len sei.

Timur Si-Qin: "Axe Effect" (2013); Foto: Achim Hatzius, courtesy der Künstler und Société

Timur Si-Qin: »Axe Effect« (2013); Foto: Achim Hat­zi­us, cour­te­sy der Künst­ler und Société

Mit die­sem phi­lo­so­phi­schen Rüst­zeug lässt sich Timur Si-Qins »Axe Effect« als Suche nach der Mas­ku­li­ni­tät als inhä­ren­te Mate­ri­al­ei­gen­schaft solch stark auf­ge­la­de­ner Din­ge wie Samu­rai-Schwer­tern oder Sham­poo-Fla­schen auf­fas­sen (wel­che schließ­lich im regen­bo­gen­bun­ten Brei ver­lo­ren geht). So kann man auch in sei­nen geba­cke­nen Yoga-Mat­ten die tra­gi­schen Nar­ben einer gewalt­vol­len Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen zwei Objek­ten erken­nen. Simon Den­nys Doku­men­ta­ti­on einer in diver­sen Medi­en pro­pa­gier­ten, aber wis­sen­schaft­lich nicht halt­ba­ren Ent­de­ckung zur Behand­lung des Chro­ni­schen Müdig­keits­syn­droms wird dem­nach als das sinn­stif­ten­de, sich selbst per­p­etu­ie­ren­de Pro­dukt eines Infor­ma­ti­ons­netz­werks aus Maga­zi­nen und Inter­net­fo­ren les­bar. Und Alek­san­dra Doma­no­vićs Film »From Yu to me« ver­folgt das vir­tu­el­le Über­le­ben Jugo­sla­wi­ens in sei­ner Top-Level-Domain-Domain .yu, die erst 2010, gut zwan­zig Jah­re nach dem Zer­fall des Staa­tes abge­schaf­fen wurde.

Doch wie so häu­fig schließt sich an solch neue ästhe­ti­sche Kon­zep­te die Fra­ge nach der Her­kunft an. Schließ­lich sucht Susan­ne Pfef­fer in „Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als“ auch nach den Bedin­gun­gen, Ursa­chen und Grün­den, wel­che die Ent­ste­hung die­ser Kunst vor­an­trie­ben. Sie hat sie schnell gefun­den: Die Aus­stel­lung sieht sich in der Nach­fol­ge einer fun­da­men­tal ver­än­der­ten Bild­pra­xis, aus wel­cher die hier vor­ge­stell­ten künst­le­ri­schen Posi­tio­nen als Teil einer not­wen­di­gen Ent­wick­lung hin zu einem neu­en Mate­ria­lis­mus her­vor­gin­gen. So heißt es im Ausstellungspamphlet:

„In einer Welt voll von gene­rier­ten Bil­dern ver­än­dert sich der Auf­trag der Kunst. Ein Nach­den­ken über die­se oft hoch psy­cho­lo­gi­sier­ten Bild­wel­ten, die For­men der Bild­wie­der­ga­be und Bild­re­prä­sen­ta­ti­on ist zwin­gend. […] Wäh­rend die ori­gi­nä­re Bild­ge­ne­se als pri­mä­re Auf­ga­be der Kunst ent­fällt, wird das Arbei­ten mit bereits exis­tie­ren­den Bil­dern, Objek­ten und Räu­men zum ent­sub­jek­ti­vier­ten Ort der Reflek­ti­on.“5

Damit kann nichts ande­res als der ico­nic turn gemeint sein, der zunächst jedoch nichts ande­res beschreibt als die seit den letz­ten Jahr­zehn­ten des 20. Jahr­hun­derts gestei­ger­te Prä­senz aller Arten von Bil­dern im All­tag wie in der Kom­mu­ni­ka­ti­on, in den Wis­sen­schaf­ten wie in der Unter­hal­tungs­in­dus­trie. Der Bild­be­griff wird hier­bei von vie­len Autoren sehr groß­zü­gig aus­ge­legt: Ein Bild ist, was der Mensch gestal­tet hat.6 Damit sind also nicht nur her­kömm­li­che Bil­der, also etwa Gemäl­de, Tafel­bil­der, Zeich­nun­gen und Foto­gra­fien gemeint, son­dern auch Dia­gram­me, Pik­to­gram­me, Film, Wer­bung, Gra­fik, visu­el­le Inter­faces, sowie eine Fül­le an tech­ni­schen Bil­dern aus den Wis­sen­schaf­ten. Im enge­ren Sin­ne wer­den mit dem Begriff des Bil­des wei­ter­hin all jene mensch­li­chen Arte­fak­te bezeich­net, die in Hin­blick auf ihren visu­el­len Sinn­ge­halt gestal­tet wurden.
Im Fri­de­ri­cia­num sieht man jedoch ledig­lich in „gene­rier­ten Bil­dern“ das Poten­ti­al, den Auf­trag der Kunst neu zu ver­han­deln. Tat­säch­lich ver­lor die Kunst das Bild­mo­no­pol – doch das geschah nicht erst ges­tern, son­dern bereits mit der Erfin­dung und anschlie­ßen­den Ver­brei­tung der Foto­gra­fie. „Gene­rier­te Bil­der“ – ob man dar­un­ter nun alle digi­ta­len Bild­for­men im All­ge­mei­nen, oder Visua­li­sie­run­gen, voll­stän­dig am oder vom Com­pu­ter ent­wor­fe­ne Bil­der im Spe­zi­el­len ver­steht – stel­len dabei nur die jüngs­te Erschei­nung dar, wel­che den­noch auf eine vie­le Jah­re lan­ge Geschich­te zurück­blickt. Die Kunst reagier­te bereits früh­zei­tig auf sol­che Iden­ti­täts­kri­sen. Die Ergeb­nis­se die­ser rigo­ro­sen Selbstin­ven­tur ken­nen wir heu­te als die Wer­ke der Moder­ne und Post­mo­der­ne: Nach­dem anfäng­lich in der Abs­trak­ti­on die Grenz­pa­ra­me­ter des Bil­des bestimmt wur­den, konn­ten anschlie­ßend im Geis­te der Appro­pria­ti­on poten­ti­ell alle Bil­der zur Kunst erho­ben wer­den. Bald wur­de ihnen mit der Per­for­mance, der Video- oder der Sound­kunst neue Medi­en zur Sei­te gestellt, die nicht auf das Visu­el­le beschränkt waren, um sie schließ­lich eben­so wie die Bil­der als Werk­zeu­ge auf­zu­fas­sen, die den Kon­zep­ten unter­wor­fen wer­den konn­ten. Die­se Ent­wick­lung wäre vor dem Hin­ter­grund der her­kömm­li­chen Bild­pra­xis wohl kaum mög­lich gewesen.

Dem­entspre­chend ist es frag­lich, wel­chen Umbruch „gene­rier­te Bil­der“ nach sich gezo­gen haben könn­ten. Die Suche nach dem künst­le­ri­schen Mei­len­stein wird nicht zuletzt dadurch erschwert, daß nicht ein­mal klar ist, ob es sich bei die­sen (ver­meint­lich) neu­en Bil­dern um von Men­schen gemach­te oder eben um Din­ge han­delt, die bei­spiels­wei­se von Tie­ren, Pflan­zen, unbe­leb­ten Mate­ria­li­en, ins­be­son­de­re aber Com­pu­tern und Netz­wer­ken geschaf­fen wur­de, die für ihres­glei­chen gedacht sind. Das bekann­tes­te Bei­spiel wäre also jene Gesichts­er­ken­nungs­tech­no­lo­gie, die es ermög­licht, aus auto­ma­ti­siert gewon­ne­nen Kame­ra­auf­nah­men ohne Zutun der mensch­li­chen Urteils­kraft Rück­schlüs­se über die dar­ge­stell­ten Per­so­nen hin­sicht­lich Iden­ti­tät, Emo­tio­nen oder eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keit zu gewin­nen. Ob hier jedoch noch der Bild­be­griff nütz­lich sein kann, ist zwei­fel­haft, zumal es sich der Natur nach um algo­rith­misch auf­be­rei­te­te Mess­da­ten opti­scher Instru­men­te han­delt, die nur für einen beson­de­ren Zweck als ech­te Bil­der auf­be­rei­tet wer­den, näm­lich der Hand­ha­be durch einen Men­schen. „Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als“ lässt die­se wesent­li­che Unter­schei­dung lei­der aus, denn nur die­se Bil­der oder eben Nicht-Bil­der wären es wert, vor dem Hin­ter­grund der so auf­wen­dig refe­ren­zier­ten objekt-ori­en­tier­ten Onto­lo­gie ver­han­delt zu wer­den. Da es jedoch derer Bei­spie­le nur weni­ge gibt, wird man wohl kaum von einer »Welt voll von gene­rier­ten Bil­dern« spre­chen kön­nen, sodaß es wohl die Gesamt­heit der digi­ta­len Bil­der sein dürf­te, auf wel­che die in »Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als« aus­ge­stell­ten Expo­na­te mit einer dif­fu­sen Zuwen­dung zu Mate­ri­al und Objekt ant­wor­ten. So drängt sich die Fra­ge auf, ob die­se Reak­ti­on über­haupt so neu­ar­tig sein kann, wie es im Fri­de­ri­cia­num zumin­dest sug­ge­riert wird.

In der jün­ge­ren Kunst­ge­schich­te fin­den sich immer­hin eini­ge bedeu­ten­de Bei­spie­le für mate­ri­al­be­ton­te Arbei­ten: Einen regel­rech­ten Stahl- und Blei­fe­tisch kann man von Richard Ser­ra über Anselm Kie­fer bis hin zu Ant­o­ny Gorm­ley ver­fol­gen, wäh­rend Beuys’ Vor­lie­be für Fett und Filz eben­so bekannt wie Meret Oppen­heims pel­zi­ges Tee­ser­vice oder Die­ter Roths Scho­ko­la­den­skulp­tu­ren ist. So ging also von die­sen Stof­fen bereits vor eini­gen Jahr­zehn­ten eine Bedeu­tung aus, die im Sin­ne einer umfas­sen­den Mate­ria­li­ko­no­gra­phie gedeu­tet wer­den kann. Deren Inter­es­se am Mate­ri­al grün­de­te sich jedoch gera­de des­we­gen genau auf jene kor­re­la­tio­nis­ti­schen Ten­den­zen, die Meil­las­soux und ande­re Phi­lo­so­phen ableh­nen. Man wird sich natur­ge­mäß schwer­tun, die­se Kri­tik auch in der Kunst schlüs­sig nach­zu­voll­zie­hen. So wird man treff­lich dar­über strei­ten kön­nen, ob Yng­ve Holens fleisch­ro­ter Mar­mor und Timur Si-Qins tes­to­ste­ron­strot­zen­des Sham­poo sich nicht viel­leicht doch noch auf die Les­art des her­kömm­li­chen anthro­po­zen­tri­schen Rea­lis­mus beschränken.

So wirft »Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als« not­ge­drun­ge­ner­ma­ßen noch mehr Fra­gen auf, als es Ant­wor­ten geben kann. Die Aus­stel­lung schickt sich an, einen Über­blick über eine noch jun­ge künst­le­ri­sche Ten­denz zu geben, deren wei­te­rer Ver­lauf wohl kaum abseh­bar ist. Ihre Ideen und Kon­zep­te sind bereits abge­steckt, allein bleibt unklar, wie stich­hal­tig sie die­se noch ver­fol­gen wird. Dem Fri­de­ri­cia­num kommt daher immer­hin der Ver­dienst zu, die öffent­li­che Auf­merk­sam­keit auf die­se Künst­ler­ge­nera­ti­on früh­zei­tig gelenkt und damit den Weg für eine Aus­ein­an­der­set­zung auf­ge­zeigt zu haben, die fort­an nicht nur im eklek­ti­schen Zir­kel einer Hand­voll Gale­rien und Pro­jekt­räu­me in New York geführt wird. Das gro­ße Medi­en­in­ter­es­se sowie die erfreu­li­chen Besu­cher­zah­len bestä­ti­gen dies. Den­noch bleibt bis­her nicht viel mehr fest­zu­stel­len, als daß die­se neu­ar­ti­ge Ästhe­tik samt ihres inhalt­li­chen Über­baus natur­ge­mäß noch über­aus dif­fus, aber auch form­bar ist. So fehlt es einer­seits noch an einem schlüs­si­gen For­men­kreis, ander­seits aber vor allem auch an der Fähig­keit, die trotz ihrer enor­men Trag­wei­te so ver­wor­re­nen phi­lo­so­phi­schen Hin­ter­grün­de sorg­fäl­tig auf­zu­be­rei­ten, um sie schließ­lich in der Kunst zur Anwen­dung zu füh­ren, sie als Werk­zeug einer Unter­su­chung oder gar Kri­tik zu gebrau­chen. Man spürt jedoch para­do­xer­wei­se auch eine gewis­se Müdig­keit gegen­über sach­lich und metho­disch vor­ge­hen­der Kon­zept­kunst, sodaß eine der­ar­ti­ge Instru­men­ta­li­sie­rung der in »Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ria­lis« so auf­wen­dig auf­be­rei­te­ten Phi­lo­so­phien mög­li­cher­wei­se ganz aus­blei­ben wird. Letzt­lich wird man die­se noch etwas exo­tisch wir­ken­de Kunst dar­an mes­sen, ob sie den Erfah­run­gen und Fra­gen des heu­ti­gen All­tags die not­wen­di­gen Erklä­run­gen und Ant­wor­ten lie­fern konn­te, ob sie als ein Akteur gehört wur­de, der sich aktiv und nach­hal­tig in die refle­xi­ve Dis­kus­si­on gegen­wär­ti­ger kul­tu­rel­ler, sozia­ler und poli­ti­scher Umbrü­che ein­brach­te. Bis­her sind die neu­en Mate­ria­lis­ten auf einem guten Weg. Es dürf­te span­nend bleiben.

  1. Cathe­ri­ne Wald­by: »The Visi­ble Human Pro­ject: Infor­ma­tic Bodies and Post­hu­man Medi­ci­ne«. New York und Lon­don: Rout­ledge 2000.
  2. Regi­ne Debat­ty: „Inter­view with Maria Olson“. We Make Money not Art 2008.
  3. Artie Vier­kant: „The Image Object Post-Inter­net“. Jst­chil­lin 2010.
  4. Quen­tin Meil­las­soux: »After Fini­tu­de: An Essay on the Neces­si­ty of Con­tin­gen­cy«. Lon­don: Con­ti­nu­um 2009.
  5. Susan­ne Pfef­fer: „Spe­cu­la­ti­ons on anony­mous mate­ri­als“, aus­stel­lungs­be­glei­ten­des Book­let.
  6. Horst Bre­de­kamp: »Theo­rie des Bild­akts«. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2010. S. 34