Tobias Zielony ist Fotograf. Seine dokumentarisch anmutenden Bilder von zumeist jungen Protagonisten haben ihre ganz eigensinnige Ästhetik und Poesie. Sie wirken unmittelbar und mit wenig Distanz aufgenommen. Die Geschichte die dabei entstehen, bleiben jedoch über längere Zeit im Kopf. Ich traf den Wahlberliner auf einen Kaffee, um mit ihm über seine Arbeit und seine aktuelle Ausstellung »Jenny Jenny« in der Berlinischen Galerie zu sprechen.
Elisa Brinkmann: Tobias, du hast in Newport England an der University of Wales drei Jahre lang Dokumentarfotografie studiert und 2001 abgeschlossen. Heute bewegt sich dein Schaffen in einem Kunstkontext. Ich glaube zu verstehen, dass dieser dokumentarische Ansatz in deiner Arbeit noch immer sehr präsent ist und bestimmt auch eine Basis dafür bildet. In verschieden Interviews, z. B. in der Zeit, wurde geschrieben, dass du in deiner Arbeit den Ansatz der dokumentarischen Fotografie dekonstruierst, indem du die fiktionalen Anteile von Bildern im Allgemeinen thematisierst und offen infrage stellst. Konnte dich dein Studium in Newport erst zu deinem heutigen, künstlerischen Ansatz bringen?
Tobias Zielony: In Newport sind sehr viele wichtige Dinge passiert, die mich bis heute in meiner Arbeit prägen. Ich bewegte mich tatsächlich zuerst in einer dokumentarischen Tradition – die in Großbritannien vor allem eine politische ist – doch schon während des Studiums begann ich, diese Tradition zu hinterfragen. Man könnte sagen, dass aus der Beschäftigung mit der Frage was sozialdokumentarische Fotografie bedeutet, der Gedanke entstandt: „Wie kann man diese heute noch praktizieren und weiterführen? Wie kann man als Fotograf kritisch mit der Fotografietradition umgehen?“ Erst aus diesem Ansatz heraus ist ein künstlerisches Projekt entstanden, das dokumentarische Elemente beinhaltete. Es war sozusagen Teil dieses Projekts, mich auf die dokumentarische Fotografie zu beziehen und sie als Referenz zu benutzen, ohne, dass ich „das Dokumentarische“ dogmatisch vor mir hertrug.
Siehst du im künstlerischen Kontext größere Freiräume für deine Arbeit?
Bildjournalisten hätten diese Freiräume eigentlich auch, aber sie bewegen sich zumeist in bestimmten Auftragszusammenhängen. Natürlich ist die eigene gestalterische Freiheit viel begrenzter, wenn man von einer Zeitung losgeschickt wird, und der Kontext, oder sogar das Motiv, von der Redaktion schon festgelegt ist.
Für mich beinhaltet diese (welche?) Herangehensweise von dir, dass du von einem kritischen Standpunkt aus »dokumentierst«. Waren das Studium und die Erlebnisse dort, die Grundlage und der Antrieb für dich, neue Formen der Fotografie zu finden, die nicht konstruiert oder voyeuristisch von oben herab abbilden?
Jede Form von Fotografie ist konstruiert. Es geht mir auch nicht um das einfache Dokumentieren oder Abbilden. Einer der Grundideen in Newport war die Idee der Bildergeschichte. Ein Dozent hatte in den Siebziger Jahren analysiert, wie bildjournalistische Narrationen funktionieren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es immer wiederkehrende Bildgenres gibt, die montiert werden: ein Mensch bei der Arbeit, Landschaftsaufnahmen, Portraits usw. Ganz ähnlich den verschiedenen Einstellungen und Perspektiven eines Films. Im Studium war eine unserer ersten Aufgaben eine Geschichte mit drei Bildern zu erzählen, später mit fünf, dann mit sieben und schließlich mit so vielen Bildern wie wir wollten.
Interessant, es wurde also nicht von vielen Motiven auf immer weniger reduziert, sondern andersherum, eine Steigerung der Motivanzahl. Das stelle ich mir schwierig vor.
Es ist viel schwieriger mit drei Bildern eine Geschichte zu erzählen, da in diesem Moment die Konstruktion der Geschichte und ihrer Motive viel klarer erscheint. Du musst radikale Entscheidungen treffen: Was zeige ich bei nur drei Bildern und was nicht? Damals war natürlich die Idee auf möglichst viele der klassischen journalistischen Fragen eine Antwort zu geben: Wo bin ich, worum geht es, wer ist das, wie sehen die Akteure aus, in welcher Situation befinden sie sich, welches Verhältnis haben die Menschen zueinander usw. Wir sollten lernen, uns schon im Vorhinein zu überlegen, wie wir ein bestimmtes Thema mit drei oder fünf Bildern umsetzen können. Es ist klar, dass eine solche Arbeit nicht nur konstruiert war, sondern starke fiktionale Elemente enthielt. Diese Herangehensweise konnte nur deshalb funktionieren, weil die Motive in einen größeren Kontext der journalistischen Informationsvermittlung eingebettet waren. In einem politischen Kontext ging es auch darum die Aufmerksamkeit auf Missstände zu lenken.
Ich fand sehr interessant, dass auch in Bezug auf die Ausstellung „Jenny Jenny“ deine Arbeit immer wieder an die »Ränder der Gesellschaft« angeordnet wird.
Ja, dass würde ich selbst aber nicht so formulieren.
Wie wichtig ist es Dir, deine Ausstellungen ohne reguläre Informationstexte zu gestalten, die womöglich neben deinen Bildern hängen und ein Wo/Wie/Wann/Wer erklären?
Ich arbeite sehr exakt mit den Texten, die meine Ausstellungen begleiten. Dazu gibt es bei allen neuen Serien aber auch ergänzende oder eigenständige mediale Arbeiten: Videos, Animationen, Sound- oder Textinstallationen. Die Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen meiner Arbeiten sollen nicht durch einen Informationstext wieder aufgelöst werden. Man sollte der Neugierde des Publikums nicht mit Fakten begegnen.
Das finde ich interessant. Dein Anspruch ist es also, das Publikum in dieser Ausstellungssituation auch ein bisschen ins Unbekannte eintauchen zu lassen. Sich mit etwas zu konfrontieren, ohne vorher zu wissen, wohin es führt und dann darüber zu reflektieren, was dies eigentlich mit der eigenen Wahrnehmung und Interpretation macht. Trotzdem existiert doch immer ein Vorwissen, ohne die eine Fotografie-Ausstellung nicht verständlich zu sein scheint.
Der Kontext gibt immer eine gewisse Form der Leseweise vor. Das Museum ist eine relativ offene Form von Kontext. Wenn man dagegen den Stern aufschlägt, erwartet man andere Dinge. Interessant ist in diesem Zusammenhang Martha Roslers Arbeit »Bringing the War Home«. Sie war eine der ersten Kritikerinnen der „klassischen“ Reportagefotografie. Zur Zeit des Vietnamkriegs, war es noch möglich, als Fotograf dort relativ unabhängig zu agieren und der Welt aufzuzeigen was dort für ein Unrecht passiert. Es entstand eine Vielzahl von ikonischen Zeugnissen des Krieges. Rosler begann, die Wirkung dieser Bilder zu hinterfragen, indem sie Bildcollagen aus den im Life-Magazin publizierten Kriegsfotografien und den im selben Heft abgedruckten Werbeanzeigen erstellt hat. Dabei hat sie Kriegsszenen buchstäblich in die Werbung für amerikanische Wohnzimmermöbel montiert. Eine drastische Vermischung von zwei Bildwelten, die in der Publikation von vornherein schon nebeneinander gestanden haben. Sie hat mit dieser Arbeit deutlich gemacht, dass wir diese schrecklichen Bilder in einem von Werbung durchbrochenen Magazin zu Hause auf der Couch durchblättern. Es geht darum, wie sehr der jeweilige Rahmen unsere Lesart vorgibt.
Ist das ein Thema an dem du dich generell abarbeitest, oder das vielleicht sogar die Grundlage deines künstlerischen Schaffens bildet?
Es geht um beide Seiten: Man kann die inhaltlichen Fragen schlecht von ihrer Form trennen. Wichtige Fragen sind für mich: Wer oder was interessiert mich, wo gehe ich dafür hin, wen lerne ich dort kennen, was hat das für eine Bedeutung im Kontext meiner anderen Arbeiten? Was verbindet beispielsweise Jugendliche aus Amerika mit Jugendlichen aus Italien? Mich interessiert gleichzeitig auch die generelle Frage: Wie kann man mit Fotografie oder Kunst, wenn es überhaupt eine solche Unterscheidung gibt, über die Welt sprechen? Meine Arbeit ist genauso ein künstlerisches Projekt, wie es ein dokumentarisches Projekt ist. Gerade weil ich mich mit konkreten Menschen und damit auch mit bestimmten gesellschaftlichen Zuständen beschäftige.
Es wurde bereits oft festgestellt, dass du dich sehr mit Jugendkultur auseinander setzt. Das interessiert mich ebenfalls: Was bedeutet Identifizierung bzw. Identitätsbildung bei Jugendlichen. Es geht dabei um die Frage, wie sich Jugendliche innerhalb ihrer Gruppe darstellen und wie sie das von der anderen Generation unterscheidet? Ich empfinde deine Fotografie als romantisierend in dem Sinne, auf das deutend, was die Jugend ist: Das ist ihre Freiheit, das ist ihr Kleidungsstil und so verbringen sie ihre Freizeit. Was ist das Romantische daran? „Romantisierend“ ist dabei nicht als negatives Attribut gemeint. Für mich entsteht diese Romantik dadurch, dass es ästhetische Fotos sind, die in diesem Moment eine neue Sichtweise auf etwas bisher marginalisiertes öffnen.
Bei der Serie »Trona«, die ebenfalls in der Berlinischen Galerie ausgestellt ist, erkenne ich dieses romantische Potenzial: das Rebellische, die Auflehnung. Jedoch werden diese Bilder sehr verschieden wahrgenommen. Romantik ist ein komplizierter Begriff und es kann auch sehr schnell zu einem Schlagwort werden. Ich finde die klassische Idee von Romantik interessant, die heutzutage eigentlich ihre Zuflucht in der Populärkultur sucht. Sie blitzt nur noch in den verschiedensten Formen der Soap Opera und Spielfilmkultur im Sinne von Hollywood auf. Das sind sozusagen die Rückzugsgebiete der Romantik. Das sind aber bestimmt auch die Dinge mit denen sich Jugendliche leichter identifizieren und sich mehr dafür interessieren, da es dort eine Widerspiegelung ihrer eigenen Themen und Realitäten gibt. Natürlich ist es auch so, dass von Anfang an Jugend und Romantik miteinander in Verbindung gebracht wurden. Die Zeit der Jugend wird als eine besondere Lebenszeit wahrgenommen. Das ist allerdings ein relativ junges Phänomen, das sich erst in den 1950er Jahren entwickelt hat. Vorher war man entweder Kind oder erwachsen.
Was es bedeutet, aus der Unterschicht zu kommen, erfährt in der letzten Zeit eine Popularisierung und Romantisierung. Es existiert ein Spannungsverhältnis der Jugend- und Popkultur in Bezug auf Trendsetting. Als Beispiel: Der Nike Airmax war ursprünglich ein Schuh für den Bösewicht im Film, für den Einbrecher, der auf leisen Sohlen verschwindet. Zwanzig Jahre später trägt jedes coole Kid, dessen Eltern sich für hundert Euro ein Paar Turnschuhe leisten können, diesen Schuh in neonfarben auf dem Schulhof zur Schau. Dort passiert doch eine Umdeutung von etwas vormals Geächtetem.
Das ist absolut etwas was mich sehr interessiert, wie wir uns unsere Identität durch Populärkultur oder im weitesten Sinne Konsumkultur zusammenbauen können. Dadurch können wir auch klassische Ideen von Arm und Reich oder Rand und Mitte auflösen. Das heißt, ich stehe vielleicht irgendwo am Ende der Welt rum, sehe aber sau-cool aus. Weil ich mir gewisse Gesten und Elemente zusammenbaue oder irgendwo abgucke.
Warum genau dieses Milieu? Was ist deine persönliche Nähe dazu, was macht deine Faszination aus?
Mit Warum-Fragen kommt man bei mir leider nie so weit. Und auch mit dem Begriff Milieu habe ich ein Problem. Ganz genau kann ich das wirklich nicht beantworten, aber das hat auch etwas damit zu tun, dass ich mich bewusst in einer dokumentarischen Tradition bewege. Mich interessiert folgende Fragestellung: Wie kann man über soziale Ungerechtigkeit reden, oder Leute, die aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen sind, sogar in einen größeren kulturellen Kontext mit einbeziehen? Ich glaube nicht, dass Fotografen von Anfang an eine Trennung zwischen »uns und den Anderen« errichtet haben, sondern diese eher überwinden wollten. Aber die berechtigte Kritik ist trotzdem gewesen, dass die (dokumentarische) Fotografie den Unterschied zwischen denen die fotografieren und denen die fotografiert werden noch einmal verstärkt hat. Man fühlt sich sozusagen noch mehr hier, wenn man Leute in einem anderen, fremden Kontext sieht. Der Kontrast wird dann plötzlich einfach deutlich. Zu Beginn meiner Arbeit hatte ich sicherlich auch noch einen stärkeren politischen Impetus, da ich zuvor auch politisch aktiv war und diese Trennung gar nicht so wahrnahm. Ich hatte eher das Gefühl, dass junge Leute mir näher sind und ich gut mit ihnen auskomme.
Es fällt dir also leicht mit jungen Menschen aus diesem marginalisierten Milieu in Kontakt zu treten?
Absolut.
Bei deiner aktuellen Ausstellung »Jenny Jenny« ist für mich die Frage aufgekommen, wie du als Mann und Fotograf damit umgingst, deine Protagonistinnen über diese längere Zeit so intim an ihrem Arbeitsplatz zu begleiten. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande? Gab es dort eine Form von Austausch?
Ich glaube, dass grundsätzlich immer ein Austausch stattfindet. Es wird erst problematisch, wenn man versucht diesen Austausch zu quantifizieren, wenn man sich die Frage stellt, ob etwas im Bezug auf Gerechtigkeit monetär angemessen ist oder nicht. Ich glaube, der Austausch findet auf sehr viel mehr Ebenen statt. Auf ganz simplen und persönlichen Ebenen, wie Freundschaft oder Aufmerksamkeit. Im Moment der Begegnung, des Fotografierens, wird etwas Neues geschaffen. Für mich, aber auch für die Protagonistinnen. Und wenn es nur ein ganz kurzer Moment ist, oder ein Bild, was über den Alltag hinausgeht — die Arbeit hält unzählige neue Situationen bereit. Dies Situation mit den Frauen hatte ich noch nicht erlebt oder gekannt. Natürlich sage ich immer, dass ich Fotograf bin und ich agiere als solcher. Trotzdem bleibt ich als Privatperson nicht außen vor. Es passieren ja die ganze Zeit Dinge, und man unterhält sich. Das sind Sachen, die in den Bildern nicht mehr so eindeutig zu erkennen sind.
Planst du solche Projekte im Voraus? Weißt du von Vornherein schon wo du am Ende hin willst, oder lässt du dich ganz auf die Situation ein?
Bei diesem Projekt hat es mit einem Zufall angefangen und ich wusste zu Beginn überhaupt nicht, wo es hinführen würde. Ich hatte wirklich keine Idee davon, wie das am Ende aussieht. Aber natürlich fange ich ja nicht bei Null an, ich habe ja schon viele andere Arbeiten gemacht. Dadurch entsteht eine gewisse Art, mit den Menschen umzugehen oder sie zu fotografieren. Es entsteht ein Stil. Ich fange irgendwo an und reagiere auf die Menschen und das, was ich dort in diesem Setting erlebe. Wichtig ist für mich, die ganze Zeit zu fotografieren, weil das eine Form von Annäherung ist. An die Menschen, aber natürlich auch an ein mögliches Produkt das am Ende dieser Arbeit steht. In dem Fall ging es nicht darum, zu überlegen, was könnte am Ende dabei herauskommen, sondern überhaupt eine Haltung zu entwickeln.
Dieser Arbeitsprozess spielt dann wahrscheinlich auch am Ende bei der Auswahl der letztendlichen Motive eine Rolle?
Absolut. Ich hatte nicht von Anfang an ein konkretes Bild von Prostitution oder was ich darüber denke. Oder was ich darüber sagen möchte. Im Gegenteil, es ist in fast all meinen Arbeiten so, dass ich versuche, nicht schon mit einer klaren und fertigen Haltung an die Arbeit zu gehen. Ganz wichtig ist, von vornherein mit einer Akzeptanz an die Menschen heran zu treten.
Ich finde, es ist tatsächlich ein Milieu in dem es sehr undeutlich ist, was es eigentlich ist. Es lebt ja auch davon, geheimnisvoll und undurchdringlich zu bleiben. Es ist ein Geschäftsmodell, ein Lebensstil, aber auch ein ganz normales Berufsfeld. Es ist interessant wie sich dort Vorstellungen von Gut und Böse, Macht und Abhängigkeit eigentlich sogar auflösen, da es einfach so viele verschiedene Formen von Prostitution gibt. Die Schatten sind nuanciert.
Ich habe gar nicht versucht, diese Rahmen der Einordnung im Vorhinein zu spannen oder im Nachhinein zu durchdringen. Ich versuche, mich von diesen Informationen und Stereotypen die die Gesellschaft produziert, frei zu machen. Ich hoffe, dass man bei »Jenny Jenny« unmittelbar mit diesen Frauen zu tun hat, wenn man die Bilder betrachtet. Sodass erst beim Zurückgehen die Überlegung stattfindet, was diese Frauen eigentlich machen, in was für einer Situation sie sich befinden. Sind sie dazu gezwungen, lohnt sich ihre Arbeit finanziell, sind sie damit glücklich? Ich glaube das Hauptproblem bei der Auffassung von Prostitution ist das gängige Bild, dass diese Arbeit unter Zwang geschieht. Das sind ganz problematische und oft prekäre Situationen, in denen diese Frauen arbeiten, aber eben nicht unbedingt. Ich glaube es ist vor allem auf einer emotionalen Ebene ein sehr schwieriger Job. Schwierig im Sinne von: eine Beziehung zu führen vielleicht, oder die Rechtfertigung vor der Familie, wenn man jeden Tag mit verschiedenen Männern schläft. Und es ist, meiner Auffassung nach, sehr schwer zu sagen wer man eigentlich ist, wenn man die gesamte Zeit damit beschäftigt ist, verschiedene Rollen für Andere einzunehmen. Rollen an die man glaubt, oder auch nicht glaubt.
Du bist also durch einen Zufall in dieses Milieu gekommen und hast dich dann selbst auf die Suche nach der Wirklichkeit gemacht.
Das ist genau die Frage: Was ist die Wirklichkeit? Gib es die überhaupt, oder braucht es immer jemanden, der sich seine Wirklichkeit macht? Ich glaube nicht daran, dass es eine Wirklichkeit da draußen gibt und man sie nur finden muss, sondern dass sie immer wieder konstruiert wird, von uns allen — auf verschiedenen Ebenen und von verschiedenen Autoren. Das Wichtigste war, viel Zeit mit den Frauen zu verbringen und zu sprechen. Und zwar offen und mit einer großen Akzeptanz für das, was sie täglich tun. Sie besser kennen zu lernen und zu verstehen. Und dann an etwas zusammen zu arbeiten, was dann diese Bilder wurden.
Diese Frauen sind es auf eine bestimmte Weise gewohnt, in Rollen zu schlüpfen und vielleicht ist auch die Unsicherheit vor der Kamera zu posieren nicht so präsent, da sie vielleicht eine ganz andere Form intimer Grenzen haben.
Ja, das glaube ich schon. Sie sind es zwar nicht gewohnt vor einer Kamera zu sein, aber sie sind es gewohnt, angeschaut zu werden, sich zu präsentieren und eine Identität zu erfinden. Aber auch, sich in diesem Bereich der Koketterie zu bewegen. Es hat vielleicht auch sehr viel mit Fotografie zu tun. Ich habe in einem andern Interview erwähnt, dass ich diese Frauen überhaupt nicht eitel fand. Sie haben viel weniger an diese Selbstkonstruktion von Verführung oder Schönheit geglaubt, als zum Beispiel die Jugendlichen, die ich für andere Projekte fotografiert habe. Man merkt das, wenn man sie durch eine Kamera beobachtet. Die Brüchigkeit von Rollen und deren Konstruktion ist diesen Frauen sehr viel bewusster. Das war sehr ernüchternd, aber hat zugleich auch die Arbeit für mich interessant gemacht. Es wird sich nicht auf eine Oberfläche geeinigt, sondern mit dem beidseitigen Bewusstsein gearbeitet, dass es sich eben nur um ein Bild handelt.