Sinta Werner löst mit chirurgischer Präzision die Metrik der ihr zur Verfügung stehenden Bildsphären auf, um die darin enthaltenen Formen und Elemente als Versatzstücke zu mobilisieren und sie im Anschluss nach Belieben in eine neue Räumlichkeit zu überführen. Dann liegen Fassaden in Falten, Balkone beulen sich hervor, ganze Gebäude krümmen sich oder, im Gegenteil, werfen ihre Hülle wie eine ausgebreitete Schlangenhaut ab. Für diese Raum- und Bildoperationen bevorzugt Werner aufgrund ihrer formalen Strenge monumentale Architektur, deren Linien und Flächen sie teils bis aufs Äußerste perspektivisch verzerrt. Dadurch wird nicht nur der ursprüngliche Bildraum gestört; es entsteht daraus auch ein neuer, ein hybrider Raum vor dem Bild, der ähnlich einer optischen Täuschung die zugrunde liegende Bildebene um eine weitere Dimension anreichert. Sinta Werners Raumexperimente sind jedoch nicht etwa fragile Trugbilder, die abhängig vom Betrachterstandpunkt sich mal entfalteten und dann wieder zusammenbrächen – ihre Konstruktionen halten jeder Prüfung stand. Auf diese Weise balancieren ihre Arbeiten auf einem feinen Grat zwischen Fotografie und Skulptur und verharren somit in einem synthetischen Zustand, der sich weder zur einen noch zur anderen Seite auflösen lässt.

Sinta Werner: »Off on a Tangent«; Foto: Matthias Planitzer
Mit der titelgebenden Werkreihe knüpft Sinta Werner an bekannte Werke an, indem sie fotografische Ansichten streng gegliederter Architektur in eine neue Räumlichkeit überführt. Für die Serie »Die Operation der Verschiebung« greift sie Abbildungen aus dem Katalog »Baumeister der Revolution« der gleichnamigen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau auf: Daraus entnimmt Werner Fotografien russischer Avantgarde-Architektur der frühen Sowjetjahre und bearbeitet sie mit dem Skalpell, bis sie die haptische Qualität eines Reliefs erhalten. Dabei folgt die Künstlerin der subtilen Logik jener Gebäude, wenn sie Pilaster vom Papier abhebt oder Brüstungen zu spielerischen Kräuseln verdreht.
Darin lassen sich bereits die perspektivischen Verschiebungen erkennen, die auch die weiteren ausgestellten Arbeiten maßgeblich prägen. Für die Skulptur »Off on a Tangent« verzerrt Werner den Bildraum einer Fotografie, welche das Haus der Statistik und das Haus der Gesundheit abbildet. Indem sie die gezielte Krümmung der jeweiligen Geometrien auf großformatiges Alu-Dibond überträgt und die beiden Fragmente miteinander verschränkt, fügen sich unvereinbar scheinende Linienfluchten neu zusammen. Auf diese Weise gelingt ihr die Neuvermessung einer zuvor kartesisch wohl geordneten Bildsphärei n eine skulpturale Anordnung, die einzig durch diese perspektivischen Handgriffe ihre hybride Räumlichkeit gewinnt.
Eine ähnliche Bildstrategie verfolgt auch »Das Maß der statischen Unbestimmtheit«, eine weitere skulpturale Position ihrer Einzelausstellung. Ebenso wie in ihrer älteren Serie »Schattenfassaden I‑IV« (2012) findet sie auch hier in den ornamentalen Blechverkleidungen sozialistischer Warenhäuser die komplexen Strukturen, die sie mit Bedacht aufbricht und aus ihrer räumlichen Verfassung löst. Ihre älteren, gerahmten Arbeiten aus diesem Werkkomplex münden hier nun erstmals in eine raumgreifende Installation, die zunächst an einen vielgliedrigen Paravent erinnert. Dazu fertigte sie ein Pappmodell an, das sich von der Fassade eines Dresdner Kaufhauses ableitete, fotografierte und replizierte es in vergrößertem Maßstab aus Alu-Dibond. Durch komplexe Faltungen und Schnitte entlang der im Druck noch sichtbaren Kanten überführt die Künstlerin den Bildraum erneut in einen skulpturalen Raum. Die Situation wird »aufgedoppelt«, wie Werner sagt: Während die Schatten des Modells in der Fotografie mit der Bildebene verschwimmen, werden sie durch die neuerliche Konfiguration im Ausstellungsraum mit neuen Schatten konfrontiert. Auf diese Weise entstehen nicht nur komplexe Perspektiven, sondern auch Licht- und Schattenmuster, die die ursprüngliche Gestalt des Modells wie auch der Warenhausfassade so weit dekonstruieren, daß bildliche und räumliche Komponenten nur mit Mühe unterscheidbar sind. Das Modell bleibt dank einiger feiner Pappfransen erkennbar, wohingegen das architektonische Vorbild lediglich wegen seiner Formverwandtschaft zu erahnen ist.

Sinta Werner: »Das Maß der statischen Unbestimmtheit«; Foto: Matthias Planitzer
Solchen ungenauen Details ist es auch zu verdanken, daß die Gegenüberstellung des Zentrum Kreuzbergs, einem Sozialbau am Kottbusser Tor, mit seinem Pappmodell gelingt. Die mehrteilige Fotodokumentation »Die szenische Auflösung« nutzt ähnliche perspektivische Größenverschiebungen, um die Brüche in diesem inszenierten Arrangement sichtbar zu machen. Auch hier wird der synthetische Bildraum durch kleinere Imperfektionen des Modells ad absurdum geführt. Letztlich enttarnt Sinta Werner aber sowohl »Das Maß der statischen Unbestimmtheit« als auch »Die szenische Auflösung« mittels perspektivischer Ungereimtheiten, die gerade subtil genug sind, um nicht sofort aufzufallen, aber doch bald als störend empfunden werden.

Sinta Werner: »Die Operation der Verschiebung«; Foto: Matthias Planitzer
In dieser Hinsicht vereint »Opfer der Selbstüberschreibung« viele dieser Raum- und Bildstrategien in einer in-situ-Arbeit, die sich schließlich dem Ausstellungsraum, dem Gebäude und seinem Innenhof widmet. Sinta Werner hat hierzu die kleinere Fensterfront der Galerie fotografiert und mit einem größengerechten Druck tapeziert. Die vorgefundene Situation überschreibt sie mit unzähligen Fragmenten eines monochromen, kontrastreichen Abbilds, das aufgrund seiner Belichtungscharakteristik überraschende Licht- und Schattenspiele aufweist. Doch obwohl der Bildraum zweifellos dem physischen Raum entspricht, kommt es zu perspektivischen Verschiebungen und Krümmungen. Da die Kamera aufgrund ihrer Zentralperspektive notwendigerweise eine Tiefen verkürzende Abbildung generiert, weist das tapezierte, zudem etwas verkleinerte Abbild vielfältige Verzerrungen auf: Fensterrahmen, Knaufe und Scharniere kommen nicht deckungsgleich aufeinander zu liegen, Interferenzmuster entstehen.
Sinta Werner präsentiert in ihrer Einzelausstellung »Die Operation der Verschiebung« bei Alexander Levy einen neuen, inhaltlich und formal dichten Werkkorpus, der erneut eine weitere Reifung ihrer künstlerischen Strategien in der Erforschung von Raum- und Bildfragen erkennen lässt. Mit scharfsinnigen Untersuchungen und präzisen Werkzeugen dringt sie weiter zu den Implikationen perspektivischer Eingriffe in (Bild-)Räume vor und ergänzt so ihre bisherigen Arbeiten auf diesem Feld um Werke, die an diesen Erfahrungen als Grundlage noch weiter differenzierterer Versuchsanordnungen und Beobachtungen anknüpfen.
Dieser Artikel erschien auch als ausstellungsbegleitendes Kurzkritik.

Ausstellungsansicht »Die Operation der Verschiebung«, Sinta Werner in der Galerie Alexander Levy; Foto: Matthias Planitzer