Asche zu Asche, Staub zu Staub

22. Juli 2013 von Matthias Planitzer
Jodie Carey legt das Tieranatomische Theater in einen hauchdünnen, zartweißen Schleier, bedeckt seine Böden und zwingt die Besucher auf Umwegen durch das Gebäude, immer an der filigranen Puderdecke entlang. Erst mit der Zeit wird offenbar: Es handelt sich nicht um irgendein Pulver – Carey hat der Geschichte des Ortes entsprechend ein passenderes Material, nämlich Knochenstaub ausgebreitet.

Jodie Carey: "Shroud"; Foto: Matthias Planitzer

Ein gan­zes Gebäu­de ver­sinkt in einem dich­ten Wol­ken­tep­pich, des­sen neb­li­ge Schwa­den über den Boden krie­chen, mal blas­se Die­len durch­schim­mern las­sen, mal den Blick in die Untie­fe ganz ver­schlei­ern, sich bald auf­lö­sen und dann wie­der wie aus dem Nichts neu erwach­sen – Jodie Careys Instal­la­ti­on »Shroud«, also in etwa: »Schlei­er«, legt sich qual­mend und schmau­chend über den Boden. So möch­te man mei­nen. Denn »Shroud« ist weder ein dich­ter Nebel, noch ein sanf­ter Schlei­er. Da gibt die Wort­be­deu­tung »Lei­chen­tuch« einen bes­se­ren Hin­weis: Denn hier, im Tier­anato­mi­schen Thea­ter, brei­tet sich eine dich­te Schicht fei­nen Kno­chen­mehls aus. Fünf Zent­ner dämp­fen und ersti­cken auf drei­hun­dert Qua­drat­me­ter alles unter sich.

Die Dimen­sio­nen beein­dru­cken: Etwa die Hälf­te des Gebäu­des, dar­un­ter der gesam­te his­to­ri­sche Hör­saal sowie wei­te Tei­le der angren­zen­den Räu­me, ver­schwin­det unter der dich­ten Staub­de­cke und ist nur noch durch die umlau­fen­den Rän­ge und Gän­ge begeh- und ein­seh­bar. Staub und Absper­run­gen schrän­ken die Bewe­gung ein, man bleibt ste­hen und lässt unwei­ger­lich sei­nen Blick schwei­fen. Die von den Neu­en Ber­li­ner Räu­men unter Lei­tung von Manu­el Wisch­new­s­ki kura­tier­te Instal­la­ti­on nimmt gan­ze Räu­me ein, dringt in alle Ecken und Rit­zen vor und win­det sich durch die Gän­ge, wohin das suchen­de Auge nicht mehr fol­gen kann. Doch auf dem Weg dort­hin gibt es aller­hand zu ent­de­cken. Denn die glatt auf­ge­tra­ge­ne, nur weni­ge Mil­li­me­ter zar­te Schicht fei­nen Kno­chen­mehls schim­mert im sanf­ten Tages­licht in vie­ler­lei Far­ben. Zwi­schen den wei­ßen Pul­ver­schich­ten zie­hen mal bläulich‑, mal dun­kel­graue Fet­zen, zün­geln hier röt­li­che, flie­ßen dort gelb­li­che Bah­nen hervor.

Das pas­tel­lig mat­te Bild erin­nert an nuan­cier­te Him­mels- und Wol­ken­dar­stel­lun­gen baro­cker Fres­ken (etwa Gaul­lis Arbei­ten in Il Gesù und San­t’A­gne­se in Ago­ne), ver­dankt sei­ne Far­big­keit jedoch nicht den Cad­mi­um-Pig­men­ten, son­dern den ver­schie­de­nen Tie­ren, aus deren Kno­chen das Mehl für »Shroud« gewon­nen wur­de. Schwein gibt ande­re Nuan­cen als Rind, des­sen Kno­chen­mehl sich wie­der­um von dem des Lam­mes unter­schei­det. Obgleich indus­tri­ell her­ge­stell­tes Kno­chen­mehl ver­füg­bar war, fer­tig­te Carey es größ­ten­teils in auf­wen­di­ger Hand­ar­beit an. Direkt vom Schlach­ter bezo­gen, konn­te sie so die ver­schie­de­nen Kör­nun­gen und Far­big­kei­ten erzie­len, die dann als wei­ßes Pul­ver, gelb­li­ches Mehl oder gräu­li­cher Schrot fein säu­ber­lich mit dem Sieb auf­ge­tra­gen wurden.

Jodie Carey: "Shroud"; Foto: Matthias Planitzer

Jodie Carey: »Shroud«; Foto: Mat­thi­as Planitzer

Jodie Carey ist mit dem unge­wöhn­li­chen Mate­ri­al ver­traut. Die Bri­tin arbei­tet häu­fi­ger mit Kno­chen. Ange­fan­gen hat alles mit hand­ge­form­ten Gips­ab­drü­cken. Vor eini­gen Jah­ren fer­tig­te sie drei­tau­send davon an und türm­te sie in »Untit­led Monu­ment« zu einer mehr­stö­cki­gen Sah­ne­tor­te, einem Prunk­grab oder auch einem Mahn­mal an. Hin­ter dem schnee­wei­ßen Pomp war das nicht genau­er zu erken­nen. Zwei Jah­re spä­ter, 2009, arran­gier­te sie die drei­fa­che Men­ge für »In the eyes of others« zu gewal­ti­gen Lüs­tern, die selbst die mor­bi­den Exem­pla­re des Sed­letz-Ossua­ri­ums in den Schat­ten stell­ten. Seit­dem tau­chen Kno­chen immer wie­der in Careys Arbei­ten auf und gesel­len sich zu aller­lei ande­ren pro­fa­nen Mate­ria­len wie Blut, Fett, Federn, Haa­ren, Asche oder Staub.

Jodie Carey: "Shroud"; Foto: Matthias Planitzer

Jodie Carey: »Shroud«; Foto: Mat­thi­as Planitzer

Doch erst im Dia­log mit dem his­to­ri­schen und kürz­lich auf­wen­dig restau­rier­ten Gebäu­de erschließt sich die bizar­re Ästhe­tik des toten Kno­chen­tep­pichs. Die im aus­ge­hen­den 18. Jahr­hun­dert von Carl Gott­hard Lang­hans im Auf­trag Fried­rich Wil­helm II⁠. als zen­tra­ler Teil der könig­li­chen Tier­arz­nei­schu­le erbau­te »Zoo­to­mie« ist heu­te das ältes­te erhal­te­ne Lehr­ge­bäu­de Ber­lins, nach­dem es von der vete­ri­när­me­di­zi­ni­schen Fakul­tät der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät an das Her­mann von Helm­holtz-Zen­trum für Kul­tur­tech­nik über­ging. Wo es einst von einer male­ri­schen Park­an­la­ge umge­ben war, steht der früh­klas­si­zis­ti­sche Bau heu­te in his­to­risch bedeu­tungs­vol­ler Lage und nächs­ter Nähe zum ana­to­mi­schen Insti­tut der Cha­ri­té. Um den im Zen­trum des streng sym­me­tri­schen Gebäu­des gele­ge­nen und mit schnee­wei­ßen Sitz­rei­hen gestal­te­ten Hör­saal grup­piert sich eine Anzahl von Kabi­net­ten, Stu­di­en­zim­mern und eine Biblio­thek, die über Trep­pen mit einem Sou­ter­rain ver­bun­den sind, in des­sen Mit­te wie­der­um über eine ver­senk­ba­re Platt­form Zugang zum zen­tra­len Podi­um des Hör­saals besteht. Hier wur­den einst ana­to­mi­sche Prä­pa­ra­te für die Vor­le­sun­gen vor­be­rei­tet und in den Saal ver­bracht, des­sen pan­the­ons­ar­ti­ge Archi­tek­tur durch eine gro­ße Kup­pel domi­niert wird. An ihrem Sockel wird sie von acht halb­run­den Fens­ter durch­sto­ßen, zwi­schen denen diver­se Gri­saille-Gemäl­de bäu­er­li­che Sze­nen mit aller­lei Nutz­tie­ren zei­gen. Über ihnen erstreckt sich eine gemal­te Kas­set­ten­de­cke, die sich zum ver­glas­tem Opa­i­on ver­jüngt. Ein zen­tra­ler ring­för­mi­ger Leuch­ter wie­der­holt des­sen Umriss im Raum­in­ne­ren und formt somit eine Ach­se zwi­schen Podi­um und dem durch­schei­nen­den Licht.

Das Tier­anato­mi­sche Thea­ter blickt dem­nach auf eine lan­ge Geschich­te zurück, die heu­te vor allem in sei­ner Archi­tek­tur noch immer sicht­bar ist. Jodie Carey, so heißt es, spü­re in ihren Arbei­ten dem »Pro­zess des Ver­schwin­dens« nach und schaf­fe einen »Augen­blick des Bewah­rens«. Dies gelin­ge ihr, wenn man dem Aus­stel­lungs­text folgt, durch die sym­bo­li­sche Über­hö­hung der Stoff­lich­keit ihrer Mate­ria­li­en als Trä­ger einer Erin­ne­rung, die auf den Ver­lust ver­wei­se. Oder kurz: Sie unter­streicht das Offen­sicht­li­che mit mate­ri­el­len, aber auch arti­fi­zi­el­len Spu­ren, ant­wor­tet mit Glei­chem auf Glei­ches, spie­gelt His­to­ri­sches in Zeit­ge­nös­si­schem und wie­der­holt die Dimen­si­on des Vor­ge­fun­den (zumin­dest in »Shroud«, das sich ent­lang der räum­li­chen Gege­ben­hei­ten aus­brei­tet, statt bei­spiels­wei­se ihnen fokus­siert ent­ge­gen­zu­tre­ten und die Span­nung eines Grö­ßen­kon­trasts auf­zu­bau­en). Was die­se Remi­nis­zenz betrifft, sind Careys Mit­tel so nahe­lie­gend, daß sie schon fast tri­vi­al erschei­nen, wür­de ihre kunst­vol­le Aus­ge­stal­tung nicht auch im Detail die räum­li­che Situa­ti­on umspie­len. Inter­es­san­ter und gehalt­vol­ler ist da schon die Raum­wir­kung, die von »Shroud« ausgeht.

Jodie Carey: »Shroud«; Foto: Mat­thias Planitzer

Jodie Carey: »Shroud«; Foto: Mat­thias Planitzer

Denn Jodie Carey erschließt die Zoo­to­mie vom Boden her. So sim­pel wie wir­kungs­voll ver­ein­nahmt sie die Räu­me und ver­leiht ihnen eine Wir­kung, die von der Erfah­rung der frei­en und des ver­sperr­ten Zugangs sowie des sich dar­über hin­weg set­zen­den Bli­ckes her­rührt. Bewe­gungs­rich­tun­gen und Sicht­ach­sen wer­den vor­ge­ge­ben und for­men die Raum­er­fah­rung – ein­mal ent­lang der begeh- und ein­seh­ba­ren Berei­che und dann wie­der­um, wenn das nicht aus­reicht, sich von dem bedeck­ten Boden abhe­bend und nach oben wei­send. Der Raum gewinnt schließ­lich sei­ne Kraft vom bedeck­ten Boden her. Dafür muss er sich jedoch kei­nes­falls eines Zutritts weh­ren, jeden­falls nicht, wenn kein so fra­gi­les Mate­ri­al wie Kno­chen­mehl die­se Wir­kung auf­recht erhält. Chris­to und Jean­ne-Clau­de demons­trier­ten dies 1980 in Ala­na Heiss‹ New Yor­ker Aus­stel­lungs­haus, dem dama­li­gen Insti­tu­te for Art and Urban Resour­ces, P.S.1, des­sen Räu­men sie eine ihrer bekann­tes­ten Innen­raum­in­stal­la­tio­nen, »Wrap­ped Flo­or and Win­dows«, ein­ver­leib­ten. Jeder Schritt wur­de von den mit baum­wol­le­nen Maler­pla­nen aus­ge­leg­ten Böden mit einem Fal­ten­wurf und einem gedämpf­ten Geräusch beant­wor­tet. Auch als Jer­zy Sey­mour in die­sem Jahr das Ober­ge­schoss der Gale­rie Cro­ne mit einer Sand­dü­ne bedeck­te (»The Uni­ver­se wants to play«), oder als Rudolf Stin­gel 2010 die Neue Natio­nal­ga­le­rie und in die­sem Jahr den Palaz­zo Gras­si je mit einem ori­en­ta­li­schen Tep­pich über­zog, wur­de der Raum­ein­druck nicht zuletzt durch das ver­än­der­te Lau­fen geformt. Man schwank­te, blieb ste­hen, setz­te oder leg­te sich gar ganz hin. Jodie Careys Instal­la­ti­on im Tier­anato­mi­schen Thea­ter lässt die­se Inter­ak­tio­nen jedoch aus nahe­lie­gen­den Grün­den nicht zu. Die Auf­recht­erhal­tung des intak­ten Kunst­werks erzwingt gera­de erst Inter­ak­tio­nen, die dem direk­ten Kon­takt aus­wei­chen. Nur durch das Ablau­fen und Absu­chen der Rän­der und Gren­zen von »Shroud« kommt erst die Bewe­gung im Raum zustan­de. Eben­so wie in Urs Fischers »You«, dem auf­ge­bro­che­nen und aus­ge­ho­be­nen Boden der Gavin Brown Gal­lery, kann er als »Wan­de­rer am Wel­ten­rand« durch die Erkun­dung (nicht jedoch die Über­schrei­tung) die­ses Hori­zon­tes den Raum als Gan­zes, gewis­ser­ma­ßen auch von außen als Abge­schlos­se­nes erfah­ren. Inso­fern kann man auch Jodie Careys »Shroud« attes­tie­ren, in einen Dia­log mit dem Raum ein­zu­ge­hen, wie es im die Aus­stel­lung beglei­ten­den Text heißt. Die­ser bleibt aber wie gese­hen nur mit der Unver­sehrt­heit der Instal­la­ti­on erhalten.

Die Kon­se­quenz dar­aus wur­de näm­lich bereits offen­bar, ehe die Ver­nis­sa­ge begon­nen und das Kunst­werk bereits beschä­digt war: Eine Jour­na­lis­tin woll­te sich wäh­rend der Pres­se-Vor­schau einen bes­se­ren Blick ver­schaf­fen – und da war das Mal­heur auch schon gesche­hen: zehn Fuß­spu­ren durch­bra­chen Jodie Careys akri­bisch auf den Boden auf­ge­tra­ge­ne Kno­chen­staub­in­stal­la­ti­on. Wäh­rend Moni­ca Bon­vici­nis bekann­te Arbeit »Plas­te­red« von der Zer­stö­rung des Bodens aus Sty­ro­por und Gips­kar­ton­plat­ten gera­de erst leb­te, durch­bra­chen die­sel­ben Schrit­te eines Besu­chers den fra­gi­len Schlei­er und lös­ten flugs den Zau­ber des »Shroud« auf. Die Künst­le­rin nahm es mit einem Zäh­ne­knir­schen hin und ging nach all den Tagen des schweiß­trei­ben­den Aus­stel­lungs­auf­baus noch ein­mal an die Arbeit. Mit viel Geduld, Fin­ger­spit­zen­ge­fühl und vor allem einem behän­de geführ­tem Küchen­sieb bes­ser­te sie den Scha­den wie­der aus. Man darf gespannt sein, ob die Staub­de­cke die kom­men­den zwei Wochen unbe­scha­det über­ste­hen wird.

Das Tieranatomische Theater; Foto: Matthias Planitzer

Das Tier­anato­mi­sche Thea­ter; Foto: Mat­thi­as Planitzer