Römische Stadtbilder

22. März 2012 von Matthias Planitzer
Ein Exkurs über die kollektive Bildsprache in Joel Sternfelds Porträt Roms.
Joel Stern­feld: Women at a daily gathe­ring beside an anci­ent Roman wall, Parco dei Gor­diani, Rome, Octo­ber 1990; cour­tesy Buch­mann Gale­rie Ber­lin, Luhring Augus­tine New York and the artist

Joel Stern­feld: Women at a dai­ly gathe­ring bes­i­de an anci­ent Roman wall, Par­co dei Gor­diani, Rome, Octo­ber 1990; cour­tesy Buch­mann Gale­rie Ber­lin, Luh­ring Augus­tine New York and the artist

Was unter­schei­det Mün­chen von Ber­lin? Auf die­se Fra­ge wird man vie­le Ant­wor­ten hören. Etli­che wer­den auf ein bestimm­tes Lebens­ge­fühl abzie­len: Dann wird Mün­chen oft­mals als char­man­ter Ort der geho­be­nen Gelas­sen­heit und Herz­lich­keit beschrie­ben und Ber­lin als pul­sie­ren­de, sich immer wie­der neu erfin­den­de Künst­ler­stadt beschwo­ren. Auch wird man oft vom Münch­ner Snob und Ber­li­ner Schnor­rer hören und doch wird man sich schwer tun, all die­se Behaup­tun­gen auf eine objek­ti­ve Grund­la­ge zu stel­len. Den­noch wer­den nur weni­ge an der Rich­tig­keit die­ser Zuschrei­bun­gen zwei­feln, denn schließ­lich han­delt es sich um all­ge­mein bekann­tes Wis­sen, das in Nord wie Süd, Ost wie West jeder kennt, selbst wenn man noch kei­ne der bei­den Städ­te selbst ken­nen­ler­nen konnte.

Ein ähn­lich kla­res Bild kön­nen die meis­ten von Rom zeich­nen und so ist es auch nicht wei­ter über­ra­schend, daß Joel Stern­felds Werk­rei­he »Cam­pa­gna Roma­na«, die kürz­lich in Aus­zü­gen in der Buch­mann Gale­rie gezeigt wur­de, auch ohne wei­te­re Hin­wei­se ihre Her­kunft offen­bart. Stern­feld hät­te sei­ne Arbei­ten eben­so gut titel­los belas­sen kön­nen, denn schließ­lich spre­chen sie für sich und offen­ba­ren ein Bild eines Roms der frü­hen neun­zi­ger Jah­re. Der Künst­ler, der dort für eini­ge Zeit wohn­te, fing dar­in den All­tag der römi­schen Außen­be­zir­ke ein, der zwi­schen ver­fal­le­nen Aquä­duk­ten und Neu­bau­sied­lun­gen ein selt­sam hybri­des Leben gestaltet.

Die Kulis­se besteht aus einem eigen­sin­ni­gen Neben­ein­an­der der Epo­chen und Zeit­al­ter, gleich­sam gebaut wie gelebt, das sich bei Stern­feld immer wie­der neu abzeich­net. Die letz­ten modi­schen Spu­ren der ita­lie­ni­schen Sieb­zi­ger tref­fen hier auf archi­tek­to­ni­sche Spu­ren der Renais­sance; da tei­len sich frisch gekleb­te Zir­kus­pos­ter mit eben­so neu­en, stei­ner­nen Hei­li­gen­dank­sa­gun­gen den knap­pen Platz auf einer alten Mau­er; und Frau­en tref­fen sich täg­lich im Schat­ten einer anti­ken Mau­er zum Kaf­fee­kränz­chen. Wie selbst­ver­ständ­lich hängt die Poly­es­ter­ja­cke an einem ros­ti­gen Haken, der noch von Auf­stieg und Fall der Kai­ser und Köni­ge berichtet.

Stern­feld ver­sam­melt auf sei­nen Foto­gra­fien der »Cam­pa­gna Roma­na« die geleb­te Rea­li­tät im über die Jahr­tau­sen­de gewach­se­nen Rom, das Alter und Geschich­te in archi­tek­to­ni­scher und kul­tu­rel­ler Pra­xis ver­eint. Dadurch zeich­net sich ein spe­zi­fi­scher Cha­rak­ter der Stadt aus, der in jedem der Foto­gra­fien Stern­felds durch­scheint. Aller­dings ist die­se Prä­senz nicht etwa auf einen geson­der­ten Hin­weis ange­wie­sen. Stern­felds Stadt­bil­der blei­ben zwar man­gels bekann­ter Wahr­zei­chen zunächst anonym, wer­den jedoch wie­der­um durch die­ses archi­tek­to­ni­sche und kul­tu­rel­le Gefü­ge als Abbil­der Roms, nicht etwa Jakar­tas oder São Pau­los les­bar und erkenn­bar. Das Ver­mö­gen, die­sen Unter­schied zu ver­mit­teln, kann jedoch nicht nur allein den Bil­dern zuge­schrie­ben wer­den. Denn offen­sicht­lich exis­tiert ein irgend­wie gear­te­tes, über­ge­ord­ne­tes Zei­chen­sys­tem, auf das der Betrach­ter zurück­greift und somit fol­ge­rich­tig Rom von Jeru­sa­lem unterscheidet.

Joel Sternfeld: Lovers parking beneath a pyramidal tomb of the second century A.D., Via Appia Antica, Rome, November 1990; courtesy Buchmann Galerie Berlin, Luhring Augustine New York and the artist

Joel Stern­feld: Lovers par­king beneath a pyra­mi­dal tomb of the second cen­tu­ry A.D., Via Appia Anti­ca, Rome, Novem­ber 1990; cour­te­sy Buch­mann Gale­rie Ber­lin, Luh­ring Augus­ti­ne New York and the artist

Es erscheint mit­un­ter zunächst als Bana­li­tät, daß sich die meis­ten Städ­te nicht nur in ihrer Infra­struk­tur – sprich der Anord­nung der Stra­ßen, Plät­ze und Stadt­tei­le – oder den archi­tek­to­nisch fass­ba­ren Eigen­hei­ten unter­schei­den, son­dern jede Stadt zudem ein spe­zi­fi­sches Gefühl ver­mit­telt. Wäh­rend ers­te­re sich leicht über­prü­fen las­sen und zwei­fels­oh­ne zu einem Stadt­cha­rak­ter bei­tra­gen, ist die Rol­le jenes spe­zi­fi­schen Gefühls einer Stadt eben­so wenig von der Hand zu wei­sen, aber ungleich schwie­ri­ger auf die Spur zu kom­men. Wir kön­nen eben­so von Foto­gra­fien wie aus Erzäh­lun­gen mit erstaun­li­cher Sicher­heit schlie­ßen, daß es sich um die eine oder die ande­re Stadt han­deln muss, und doch bleibt oft­mals unge­klärt, auf wel­cher Grund­la­ge die­ses Urteil geschieht. In allen Fäl­len han­delt es sich (im über­tra­ge­nen Sin­ne) um Stadtbil­der, die die Iden­ti­tät der Stadt for­men und auch nach außen hin ver­kör­pern und wie­der­ge­ben. Erstaun­li­cher­wei­se gelingt die Beschrei­bung einer bestimm­ten Stadt oft­mals auch ohne die per­sön­li­che Kennt­nis und stimmt oft ver­blüf­fend genau mit den Erfah­run­gen der Ein­hei­mi­schen über­ein. In der Sozio­lo­gie spricht man bereits seit län­ge­rer Zeit von einem kol­lek­tiv ver­an­ker­ten Stadt­bild, das auf höchst unter­schied­li­che Wei­se zum Aus­druck kom­men kann: Foto­gra­fien, Stadt­plä­ne, Rei­se­be­rich­te, loka­le und natio­na­le Nach­rich­ten, poli­ti­sche und sozia­le Gefü­ge etc. bil­den einen spe­zi­fi­schen Stadt­cha­rak­ter ab. Bei Mar­ti­na Löw heißt es zudem, daß eine Stadt auf die­se Wei­se eine mehr oder min­der akti­ve Bild­po­li­tik betrei­be oder wenigs­tens betrei­ben müs­se, um sich nach­hal­tig im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis ein­prä­gen zu kön­nen. Dazu bedie­ne sich die Stadt eines Bild­ap­pa­ra­tes, des­sen Eigen­schaf­ten und sei­ne Stra­te­gien, Mög­lich­kei­ten und Limi­ta­tio­nen Löw in ihrer »Sozio­lo­gie der Städ­te« untersucht.

Joel Sternfeld: Man and woman on their way to morning coffee, Via Sapori, Cecchignola, Rome, August 1990; courtesy Buchmann Galerie Berlin, Luhring Augustine New York and the artist.

Joel Stern­feld: Man and woman on their way to mor­ning cof­fee, Via Sapo­ri, Cec­chi­gno­la, Rome, August 1990; cour­te­sy Buch­mann Gale­rie Ber­lin, Luh­ring Augus­ti­ne New York and the artist.

Es bleibt jedoch wei­ter­hin zu klä­ren, wel­che Rol­le die­ser Bild­ap­pa­rat Roms in Stern­felds Foto­gra­fien ein­nimmt. Dem Künst­ler kann nicht unter­stellt wer­den, daß er sich mit sei­ner Werkse­rie »Cam­pa­gna Roma­na« die­ser sozio­lo­gi­schen und glei­cher­ma­ßen bild­wis­sen­schaft­li­chen Domä­ne nähern woll­te, das ist allein auf­grund des Ent­ste­hungs­zeit­punk­tes und der Motiv­wahl nicht anzu­neh­men. Stern­felds Auf­nah­men kon­zen­trie­ren sich auf das Leben in einer his­to­risch gewach­se­nen Stadt, womit er in der lan­gen Tra­di­ti­on von Malern wie Pira­ne­si, Corot und Pous­sin steht, die der Cam­pa­gna eben­falls ein künst­le­ri­sches Denk­mal setz­ten. Wie der Aus­stel­lungs­text zutref­fend fest­stellt, hallt im Gegen­satz zu den Vor­ge­nann­ten bei Joel Stern­feld kein Mythos nach; statt­des­sen gibt er einen ehr­li­chen Ein­blick in die geleb­te Rea­li­tät eines his­to­risch nach­hal­tig gepräg­ten Roms. Stern­felds Inter­es­se gilt dem Umgang der Bewoh­ner Roms mit ihrer Stadt und ihrer Geschich­te, der Gestal­tung und Nut­zung ihrer struk­tu­rel­len, sozia­len und kul­tu­rel­len Gefü­ge. Wenn er sich anti­ken Aquä­duk­ten und neu­zeit­li­chen Wohn­sied­lun­gen, dem Leben und All­tag zwi­schen bei­den – aus­schließ­lich his­to­ri­schen – Extre­men wid­met, dann hat er mit­un­ter eine phä­no­me­no­lo­gi­sche Auf­ar­bei­tung des römi­schen Stadt­cha­rak­ters im Sinn, jedoch ist dar­aus nicht zu erse­hen, daß es um den über­ge­ord­ne­ten Bild­ty­pus »Stadt« im All­ge­mei­nen ginge.

Den­noch ist nicht von der Hand zu wei­sen, daß sich Stern­feld die­ses Bild­ap­pa­ra­tes Roms bedie­nen muss­te, auf die auch jedes Rei­se­pro­spekt, jedes Urlaubs­fo­to und nicht zuletzt auch Pira­ne­si, Pous­sin, Lor­rain etc. zurück­grei­fen. Sei­ne Foto­gra­fien hät­ten ohne den Rück­griff auf die­sen Zei­chen­ka­ta­log ihre Wir­kung, ihre Prä­senz aber auch ihre Rele­vanz ver­fehlt. Die­ser liegt wie­der­um in einer kol­lek­ti­ven Auf­fas­sung von Gestalt und Wesen Roms begrün­det, den sich Stern­feld bewusst machen muss­te. Was jeder Tou­rist, aber auch jeder Städ­te­fo­to­graf und Fil­me­ma­cher in ihre Motiv­wahl beden­ken müs­sen, ist nur ver­meint­lich eine Bana­li­tät, denn schließ­lich sind sie impli­zit an der Gestal­tung jenes Stadt­bil­des betei­ligt. Tat­säch­lich ist die­ser Aspekt ein inten­siv debat­tier­ter Gegen­stand der wis­sen­schaft­li­chen For­schung, der nicht zuletzt auch das Arbeits­werk­zeugs des Stadt-Mar­ke­tings ist. (An die­ser Stel­le sei wie­der­um die Lek­tü­re von Löws »Sozio­lo­gie der Städ­te« emp­foh­len, die dar­in an einer ver­glei­chen­den Ana­ly­se Mün­chens und Ber­lins beein­dru­cken­de Erkennt­nis­se zuta­ge för­dert.) Denn letzt­lich geben sie nicht nur pas­siv den Cha­rak­ter einer Stadt wie­der, son­dern neh­men auch aktiv Ein­fluss darauf.

Denn neben der beschei­de­nen Schön­heit der Ehr­lich­keit in Joel Stern­felds Foto­gra­fien liegt genau dar­in der Reiz, sich als Geis­tes­übung dar­über bewusst zu wer­den, was die­sen Bild­ap­pa­rat Roms aus­zeich­net. Man wird vie­le Anhalts­punk­te fin­den und viel­leicht fort­an auch die hei­mi­sche Groß­stadt auf­merk­sa­mer beobachten.