
Wir freuen uns, den folgenden Artikel unserer Gastautorin Maria Sitte bei Castor & Pollux präsentieren zu dürfen: Sie hat für uns Candida Höfers erwartungsvoll antizipierte und gestern in der Johnen Galerie eröffnete Ausstellung »Neues Museum Berlin« unter die Lupe genommen und einige Beobachtungen über die Natur von Realität und Illusion in Höfers Werk gesammelt.
Gestochen scharf, sodass es fast schon weh tut. Nirgends findet sich auch nur ein Hauch von Unschärfe wieder. Jedes bunte Mosaiksteinchen, jeder Ziegelstein des Neuen Museums Berlin lässt sich auf den Fotografien von Candida Höfer haargenau mit dem Blick abtasten und brennt sich, im positiven Sinne, auf unserer Netzhaut ein. Man wird von dieser scheinbaren Hyperrealität in einen Bann gezogen, vor dessen trügerischer Existenz uns bereits Foucault zu warnen versuchte.
Candida Höfer arbeitet in Serien, digital, und widmet sich seit mehreren Jahren intensiv dem Motiv Architektur, insbesondere Innenräumen. Es lässt sich eine Stringenz und Kontinuität, ein roter Faden in der Auswahl ihrer Motive erkennen. So fokussiert sich die Künstlerin hauptsächlich auf Museen, Konzertsäle, Schlösser, Kirchen, Bibliotheken usw. – Räume der Repräsentation, der Arbeit, der Kontemplation.
Die in der Johnen Galerie erstmals ausgestellten Arbeiten stammen aus der Serie „Neues Museum“ Berlin, an der Höfer bereits 2009 arbeitete. Das im 19. Jahrhundert errichtete Museumsgebäude wurde nach seiner teilweisen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg vor wenigen Jahren nach Plänen des britischen Stararchitekten David Chipperfield restauriert und zu neuem Leben erweckt. Höfers Aufnahmen entstanden unmittelbar nach der Restaurierung und kurz bevor die Museumsbestände erneut Einzug in die hergerichteten Räumlichkeiten hielten. Ein seltener Ausnahmezustand also, den sie damit einzufrieren vermochte.

So sind beispielsweise der mythologische Saal, der Niobidensaal oder auch der Nordkuppelsaal offensichtlich mit den modernen, Chipperfield’schen Ergänzungen zu sehen, teilweise unmöbliert, nackt und roh. Am Beispiel des Südkuppelsaals mit den zwei Götterfiguren lässt sich das ganzheitliche „Alt-Neu“–Prinzip der Höfer-Serie exemplarisch durchexerzieren. Chipperfields typisch klares, zurückhaltendes Formenverständnis des Bodens und der Mittelwandplatten, ohne wulstig anmutenden Schnick-Schnack, kontrastiert mit den darüber befindlichen, über 100 Jahre alten, roten Ziegelsteinreihen, die sich in der Höhe zu einem robusten Gewölbe über dem quadratischen Saal zusammenschließen. Die festgehaltene, baugeschichtliche Entwicklung des Neuen Museums Berlin kulminiert in den Fotografien so zu einem in Einklang gebrachten historischen Dokument.
Dieses Formenverständnis könnte man, wenn man so will, auf Höfers 1973 begonnenes Studium bei Bernd und Hilla Becher an der Kunstakademie Düsseldorf zurückführen. Ebenso kühl und distanziert wie die porträthaften Schwarz-Weiß Fotografien der Industriebauten und Fachwerkhäuser des Künstlerpaares kommen auch Höfers Aufnahmen daher. Erzielt wird dieser Effekt durch die gleichbleibende Bildschärfe innerhalb der jeweiligen Fotografie, die auffallend charakteristisch für Höfers Werk ist. Es existiert keine Unschärfe, die ein einzelnes Detail besonders hervorheben würde. Aufgrund dieser bildlichen Klarheit fallen axiale Bezüge, Raumfluchten, Ordnung oder Gliederung der Museumsräume durch Säulen, Fliesen, Ecken und Kanten, oder gar architektonische Stil-Brüche besonders auf. Die klare Bildschärfe erzielt beim Betrachter die Konzentration seiner Wahrnehmung auf alle Elemente gleichermaßen. Dem Betrachter wird klar, wie sich die Einrichtung zur Architektur und die Nutzung der Räume verhält.

Obwohl es sich stets um öffentliche, in der Regel gut besuchte Plätze handelt, zeigt Höfer die Orte immer menschenleer. Stille und Distanz breiten sich aus. Und genau darin liegt auch der Knackpunkt ihrer Fotografien. Diese Leere ist verräterisch und lässt den Betrachter ins Zweifeln kommen, ob es sich tatsächlich um rein dokumentarische Aufnahmen handelt. Haben wir öffentliche Bibliotheken oder Museen wirklich jemals so verlassen vorgefunden? Selten.
Eine nicht ganz unwesentliche Rolle nehmen dabei die vorherrschenden Lichtverhältnisse ein. Ausschließlich in einfallendes Tageslicht getaucht, strahlen die räumlichen Aufnahmen des Neuen Museums eine nahezu pittoreske, fast künstliche Qualität aus, die die verwirrende Wirkung komplettieren.
Dokumentarisch sind die Fotografien in dem Sinne, dass sie die Historizität der Orte im Hier und Jetzt festhalten. Künstlerisch hingegen wirken sie – und das irritiert – aufgrund des distanzierten, gerichteten Blicks, dem unpersönlichen, fotografischen Moment, der in gewisser Weise inszeniert erscheint. Man gerät ins Grübeln und gelangt zu der rhetorischen Frage: Wo gibt es schon einen historischen Ort oder Geschichte ohne Menschen?
Höfers Fotografien oszillieren letztlich zwischen diesem dokumentarischen und künstlerischen Charakter einer inszenierten Realität. Fast hätte man sich von dem scharfsinnigen Medium Fotografie in einem Augenblick verharrender Unachtsamkeit hinters Licht führen lassen. Selbstverständlich handelt es sich um die alte Einsicht, dass nichts so ist wie es scheint und wir dank Foucault mit der multiplen Natur der Wahrheiten sogar gut damit leben können. Dennoch verkörpern die Fotografien Candida Höfers den scharfsinnigen Triumph über die Illusion der Wirklichkeit.