Am Eingang zur Ausstellung »db« kündigt bereits die Aufzählung der verwendeten Medien das technische Großaufgebot an, das hinter den sorgsam verschlossenen Türen auf den Besucher wartet: ein super-direktionaler Parabol-Lautsprecher, ein 6‑Kilowatt-Xenon-Scheinwerfer, elf herkömmliche Lautsprecher sowie zehn Videoprojektoren, LED-Bildschirme, außerdem elf Computer und ein CD-Spieler. Was der Besucher noch nicht weiß: Die Herzstücke dieses technischen Bombasts – der mehr als ein Meter messende Lautsprecher und der gleißend hell scheinende Scheinwerfer – werden sonst zur Beschallung und Ausleuchtung von Fußballstadien aufgefahren.
Gabriele Knapstein, eine der Kuratorinnen der Ausstellung, spricht von der »Spanne zwischen Minimalem und Maximalem«. Schließlich war es der japanische Medienkünstler Ryoji Ikeda, der diese technische Gewalt im Hamburger Bahnhof installiert hat: ein Avantgardist, der für seine reizüberflutenden Minimalismus bekannt ist. So maximal die Wirkung seiner Arbeiten ist, diese Ausstellung Ikedas sollte zu seinen minimalsten gehören. Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie, unterstreicht deren Bedeutung: »Ich muss gestehen, daß Ryoji Ikeda hier bisher nicht sehr präsent war – völlig, völlig zu Unrecht!« Er sollte Recht behalten, denn seine erste Einzelausstellung auf deutschem Boden ist allen Erwartungen gerecht geworden: Sie ist eine Herausforderung der Sinne, aber auch eine mathematisch präzise Annäherung an die Unendlichkeit.
Ryoji Ikeda: db, Foto: Matthias PlanitzerBereits die Vorgeschichte des Gastspiels Ikedas verrät einiges über die Arbeitsweise des Japaners: Als er den Hamburger Bahnhof zur Planung seiner anstehenden Ausstellung erstmals besichtigte, fühlte er sich sofort von den beiden zueinander symmetrisch liegenden Räumen im Obergeschoss des Ost- und des Westflügels eingenommen. Sie gleichen sich nicht nur im Grundriß, auch die Tageslichtfenster und Säulenreihen finden sich in derselben Anordnung wieder. Für Ikeda stand fest, daß dies die idealen Räumlichkeiten waren – er fühlt es einfach. Auch im Interview betont er immer wieder, wie wichtig für ihn das Gefühl sei. Nicht die Interpretation oder die Suche nach einem Sujet interessiere ihn, allein der Eindruck seiner gewaltigen Installationen zähle.
Die zeichnen sich vor allem immer wieder durch eines aus: Die kontrastreiche Komposition von Licht und Dunkelheit, Ton und Stille, sowie eine Vorliebe für die numerische Annäherung an die Unendlichkeit werden mit digitaler Ästhetik zu maximalen Eindrücken aufgebaut, die im Grunde nur minimale Mittel benötigen. Ryoji Ikedas Arbeiten fordern und überfordern, zuweilen strapazieren und belasten sie den Besucher. Dabei entfalten sie eine einnehmende Ästhetik, die besonnen und konzentriert tatsächlich beruhigend wirkt. Von Ikedas Arbeiten geht ein unheimlicher Sog aus, der ihn mittlerweile zum Vorreiter einer digitalen Avantgarde gemacht hat.
Ryoji Ikeda: db, Foto: Matthias PlanitzerFür seine Ausstellung im Hamburger Bahnhof hat Ryoji Ikeda die Symmetrie der beiden Räume im Ost- und im Westflügel in einem komplementären Dualismus gegenüber gestellt. Den westlichen Raum ließ er schwarz auskleiden und abdunkeln, während sein östliches Pendant ganz in gleißendem Weiß gehalten ist. Beiderorts wird der Besucher sinnlich herausgefordert: Im weißen Raum generiert ein monströser Lautsprecher einen hochfrequenten Sinuston, während im schwarzen Saal ein Flutlicht seinen fokussierten Lichtstrahl auf ganzer Länge durch den Raum wirft.
An den Wänden schließt sich Ikedas Zahlenspiel an: sind es im weißen Raum winzig und eng an eng auf schwarze Tafeln gedruckte Zahlenfolgen, werden sie in der Dunkelheit des schwarzen Raumes als hektisch rauschende Projektionen auf die Wände gebannt. Gelegentlich hält die rasselnde Ziffernreihe inne, um dann schnell fortzufahren und wieder ebenso rasch durchzuwechseln. Lediglich von einem fein oszillierenden Sinuston begleitet, nähert sich der Datenstrom immer weiter der numerischen Unendlichkeit an.
Ryoji Ikeda: db, Foto: Matthias PlanitzerRyoji Ikeda gelingt mit »db« die Polarisierung zweier symmetrischer Räume, aber auch Klang- und Licht-Spektren. Auf diese komplementären Klang-Licht-Räume weist bereits der Titel, wie exemplarisch am Eingang ausgeführt, hin. Hier werden auf einer Tafel beispielsweise »dark« und »bright«, »deaf« und »blind«, »dimension« und »boundary«, aber auch »disorder« und »balance« oder »decent« und »brutal« gegenübergestellt. Während sich im einen Raum das Licht fokussiert und der Ton diffus ausbreitet, verhält es sich im anderen umgekehrt: Im weißen Raum wird eine stehende Sinuswelle generiert, indes das Licht den ganzen Raum erfüllt. In Abhängigkeit von Anzahl und Position der anwesenden Besucher variiert hier der Höreindruck als auch dort die Ausleuchtung des Raumes. Durchquert eine Person den Strahl, hat dies Auswirkungen auf den ganzen Raum.
Ikedas Interesse für physikalische Wellen zieht sich durch sein gesamtes Werk. In absoluter Präzision reduziert er Schall und Licht auf ihren Wellencharakter und lässt sie im Wechselspiel mit dem Besucher und seiner Wahrnehmung interagieren. Gleichsam Künstler wie Komponist forderte er 1996 in »+/−« die Trägheit des Gehörs heraus und konstruierte im Jahre 2000 mittels weißen Rauschens in »matrix« eine klangliche Raumgeometrie. Dann, vier Jahre später, nutzte er optisches Rauschen und löste damit den Ausstellungsraum in »spectra« in gleißend hellem Licht auf, um 2008 in »Test Pattern« und »data.matrix« sowohl Licht als auch Schall zur Dekonstruktion jeglicher Sinneserfahrung einzusetzen.
Udo Kittelmann im Lichte Ryoji Ikedas‹ »db«, Foto: Matthias PlanitzerTatsächlich verbirgt sich hinter diesen abstrakten Experimenten mit Licht und Klang eine Figuration digitaler Datenmengen, auf die Ikeda immer wieder durch seine Zahlenfolgen hinweist. Der Werkkomplex »V≠L« führt sie 2008 erstmals in Form der Reihen »the irreducible« und »the transcendental« ein: Darin geht Ikeda der numerischen Unendlichkeit an ihren beiden Polen nach und kalkuliert die Stellen verschiedener Primzahlen und transzendenter, also reeller irrationaler, unendlicher Zahlen und stellt sie in seinen Werken dar. In »db« sind daraus sowohl die Projektionen, als auch die Drucke und weitere Edelstahlradierungen entnommen. Im Falle der Projektionen im schwarzen Raum bildet die Berechnung der Nachkommastellen von π außerdem die Grundlage des begleitenden klanglichen Rauschens, das sich wiederum im optischen Rauschen des weißen Raumes komplementarisiert.
Ryoji Ikeda nähert sich auf diese Weise – klanglich, optisch und damit auch digital – der numerischen Unendlichkeit und ihrer Paradoxa: diskrete Binarität, Abzählbarkeit und Transzendenz an und treibt sie so immer weiter ins Ungewisse fort. Damit steht er nicht zuletzt auch in der Nachfolge On Kawaras und Roman Opałkas, die ebenfalls mithilfe der abstrahierenden Kraft der Zahlen die Unendlichkeit auszumessen suchten. Im Unterschied zu ihnen geht Ikeda jedoch nicht von einer zeitlichen und daher seriell erfassbaren Dimension der Unendlichkeit aus, sondern erkennt sie in der Kalkulation und Partikulation. Dies führt ihn im Gegensatz zu den vorgenannten Künstlern nicht in die gähnende Weite eines sich immer weiter erstreckenden Zahlenraumes, sondern in die sich immer weiter verdichtende Enge der Nachkommastellen.
Ryoji Ikeda: db, Foto: Matthias PlanitzerDie Kuratorinnen Ingrid Buschmann und Gabriele Knapstein hatten möglicherweise dieselbe Assoziation, als sie den Weg zum weißen Raum mit einigen späteren Werken Opałkas flankierten. Was diesem nicht gelang – die endgültige Bemessung der Unendlichkeit –, dem kommt Ikeda ein Stockwerk darüber bereits ein ganzes Stück näher: Opałkas letzte Zahl vor seinem Tod im vergangenen Jahr war die 5 590 000 – Ryoji Ikedas »the irreducible [n°10]« ist immerhin 101.000.000 mal größer.
Ryoji Ikedas Ausstellung »db« wird heute 20:00 Uhr im Hamburger Bahnhof eröffnet und wird parallel zur Transmediale, dem Club Transmediale und der Märzmusik bis zum 9. April gezeigt.