Dieser Artikel erschien am 15. Dezember im KUNST Magazin, in meiner Reihe Das Schlußwort.
In der Nacht vom zehnten auf den elften November 1619 hatte René Descartes drei Träume – so berichtet es zumindest sein Biograph André Baillet. Während die ersten beiden Träume den gerade einmal 23-Jährigen fürchteten, wird der letzte Traum dieser Nacht von den Geschichtsschreibern gern als ein Moment der Erleuchtung gesehen, der den jungen Descartes entscheidend auf dem Weg zu seinem »Cogito ergo sum« brachte. Ebenso wie alle anderen Elemente des Traumes wollte der Philosoph auch »eine Reihe von Kupferstichen mit Porträts« deuten, die sich ihm in einem Gedichtband präsentierten. Doch »er brauchte keine Erklärung mehr dafür, als ihn am nächsten Tag ein italienischer Maler besuchte und ihm die Erklärung lieferte«. Über deren Inhalt gibt Baillets Ausführung keinen Aufschluß, doch offensichtlich hatte Descartes in seinem Traum Bilder gesehen, die er zwar nicht deuten konnte, die aber als Teil seiner Erinnerung zur Imagination wurden. Hans Belting schreibt hierzu:
»In dieser Korrespondenz, wie immer sie auch zustande gekommen war, schien der Dualismus aufgehoben, der die kollektive Wahrheit von den subjektiven Phantasmen unterschied.« (in »Bild-Anthropologie«, 2001)
Der Körper als Ort der Bilder und der Traum als Manifestationsform der Imagination, d.h. der subjektiven Ausgestaltung kollektiv bewahrter Bilder, werden im Folgenden weiter ausgeführt. Belting fragt an selber Stelle:
Ute und Werner Mahler: »Adda, Reykjavík, 2008«, © Ute und Werner Mahler, courtesy Dittrich & Schlechtriem, Berlin»Aber woher kommen die Bilder, die wir im Traum erleben? Sind es wirklich unsere eigenen Bilder und sind sie nicht auch die Spuren der kollektiven Bilder, die in einer Kultur dominieren, wozu natürlich auch die Erinnerungen zählen?«
Vierhundert Jahre nach Descartes bedeutungsschwangerem Traum gilt Beltings Beobachtung nach wie vor. Einen Eindruck davon gibt Ute und Werner Mahlers Ausstellung »Monalisen der Vorstädte« bei Dittrich & Schlechtriem. Das Künstlerpaar arrangierte an den Wänden der Galerie eine Auswahl Porträts und Stadtansichten, die sie bei Besuchen in den Vorstädten von Reykjavík und Liverpool, Berlin, Florenz und Minsk fotografierten. Jedes der Porträts wird einer Stadtaufnahme gegenüber gestellt, die die Heimat der jungen Frauen festhalten.
Die Mahlers hielten gezielt Ausschau nach Modelle, die »nicht mehr Kind, noch nicht ganz Frau« waren und baten sie, für ein Foto Platz zu nehmen. Mit einer Balgenkamera und den dazugehörigen Fotoplatten, Dreibeinstativ und schwarzem Tuch lichteten sie die Frauen ab. Für ihre technisch einwandfreien Fotografien gaben sie ihren Modellen nur einen Hinweis: sie sollten die Pose der berühmten Mona Lisa annehmen.
Die Mahlers konnten davon ausgehen, daß die Auserkorenen das Gemälde kennen würden. Sie würden sich vermutlich an die Körperhaltung erinnern, auch an das Lächeln der Gioconda. Vielleicht würden sie auch die Kopfstellung nachahmen können und ihre Hände auf dieselbe – oder wenigstens ähnliche – Weise in einander legen. In jedem Falle aber, und darin konnten sich Ute und Werner Mahler sicher sein, würden sie sich an die Würde und Leichtigkeit der Mona Lisa erinnern und mit allem schauspielerischen Talent umsetzen versuchen.
Ute und Werner Mahler: »Sian, Liverpool, 2009«, © Ute und Werner Mahler, courtesy Dittrich & Schlechtriem, BerlinKaum eines der Modelle ahmte das berühmte Vorbild so gut nach, daß die Ähnlichkeit auffällig wäre. Dennoch weist die durchgängig würdevolle Erscheinung der Frauen darauf hin, daß jede von ihnen die Gioconda vor Augen hatte, als die Mahlers ihre Anweisungen gaben. Warum also sind die Abweichungen vom Original v.a. in der Pose und Haltung der Hände so groß?
Man kann diese Frage leicht als nebensächlich abtun und die ubiquitäre Schönheit und Anmut ganz gewöhnlicher Frauen hervorheben. Dies ist bereits durch einige Kritiken und Ankündigungen zu genüge geschehen. Man kann auch das alte Widerspiel der Vorstadt zur Metropole durchexerzieren, schließlich geben es ja die »Monalisen der Vorstädte« bereits so vor. Obgleich darin tatsächlich der Anstoß der beiden Gründer der Ostkreuzschule zur Realisierung der Fotoserie lag, erscheinen andere Aspekte interessanter. Etwa die Implikationen, die das Medium der Fotografie in Bezug zur zugrunde liegenden Malerei schafft. Oder die Persönlichkeiten, die sich aus geringen Details in Haltung, Ausdruck und Blick lesen lassen – und durchaus auch der Anteil der Kulisse daran. Vordringlicher scheinen mir allerdings die Imperfektionen, die sich gerade als »Persönlichkeit« manifestieren.
Ute und Werner Mahler: »Tanja, Minsk, 2009«, © Ute und Werner Mahler, courtesy Dittrich & Schlechtriem, BerlinDenn letztlich sind sie das Produkt des imaginativen Prozesses, der das weltbekannte Gemälde aus einem persönlichen Bildgedächtnis und nach intentioneller Adjustierung reproduziert. Abgesehen von schauspielerischen Unzulänglichkeiten stellt sich diese »persönliche Note« als die Folge einer lückenhaften Erinnerung dar. Wohingegen Descartes einem klaren Bild einen Sinn geben wollte, ist es im Falle der Monalisen der Bildsinn, der nach einer klaren, d.h. möglichst originalgetreuen Darstellung verlangt. Den Philosophen verblüffte der Umfang des kollektiv getragenen Anteils an seinem Traumgebilde, das ihm zuvor so persönlich und ungetrübt erschien. Die Frauen jedoch versuchen, diese subjektive Komponente weitestgehend zu reduzieren um eine möglichst unverfälschte Darstellung zu erreichen.
Durch die Vervielfältigung und Kumulation dieser subjektiven Teilbilder entsteht ein kollektives Gesamtbild, das durch Erzählungen und Anekdoten ergänzt und weiter verformt wird. Die Heterogenität dieses kulturellen Bildes bestimmt seine Fähigkeit zur selbständigen Existenz und damit die Möglichkeit der Unterscheidbarkeit vom physisch präexistenten Vor-bild. Belting gibt an anderer Stelle das Beispiel der Indios, die von den christlichen Eroberern durch Madonnenbilder missioniert werden sollten, allerdings aufgrund ihrer kulturellen Prägung einen eigenen, synthetischen Bildtypos erschufen. Auf ähnliche Weise, wenn auch in geringerem Ausmaß, wird in den Porträts der Mahlers das kollektive Gesamtbild der »Mona Lisa« exemplarisch dargestellt.
Die »Monalisen der Vorstädte« stellen also vor allem einen Sachverhalt fest: Das kulturelle Bild der Gioconda ist trotz seiner beispiellosen Verbreitung inhaltlich auffallend unscharf. Nur ein Merkmal sticht klar heraus: die anmutige Wirkung, die die Lisa auf uns hat. Wüsste Leonardo davon, es würde ihn wohl freuen.