Was wurde gewettert über den italienischen Beitrag zur diesjährigen Venedig-Biennale: Der Pavillon mit seinen mehr als zweihundert Exponaten sei ein Fanal der Banalität, der eine affektiert aufgeplusterte »Postershop«-Kunst propagiere und zu allem Übel auch noch ein unfreiwilliges Spiegelbild der pikanten Politlage Italiens sei. Berlusconi-Freund und Kurator Vittorio Sgarbi plante nicht weniger als den Angriff auf die Kunst-Mafia, die er im Mief der kanonisch diktierten Avantgarde und dem piefigen Klüngel des Upper-Class-Spießertum erkannt haben wollte. Die Reaktion der Fach- und Publikumspresse auf diesen Großangriff auf die zeitgenössische Kunst fiel in einer Härte aus, die man ihr noch vor kurzer Zeit nicht mehr zugetraut hatte; und doch stürzte sich alle Kritik ausschließlich auf den Ramsch, den Plunder, den Kitsch, mit dem die Wände des italienischen Pavillons beinahe lückenlos behangen waren.
Zwischen Porno-Stars und Fetisch-Szenen fanden sich jedoch auch weniger polemische Beiträge, die angesichts des exaltierten Pomps um sie herum in ernsthafter Stille untergingen. Die drei Gemälde Tintorettos, die mit viel Trara zur Legitimierung grenzüberschreitender italienischer Kunst im zentralen Pavillon ausgestellt werden, fanden zwar genügend Beachtung. Sonst las man jedoch kaum kritische Anmerkungen zu den interessanteren Beispielen italienischer Kunst.
Vielleicht übersahen die Kritiker ja einfach nur Nicola Samorìs Beitrag »Scoriada (J.R.)«. Bei einem zwei mal drei Meter messenden Gemälde ist es allerdings nur schwer vorstellbar, daß kein Rezensent darauf aufmerksam wurde. Das ganz in Grau gehaltene Ölbild zeigt ausschnitthaft und in entsprechender Ästhetik und Komposition die Pflege des Hlg. Sebastian. Der Titel – sinngemäß »die Geißelung« oder wörtlich »die Häutung« – passt allerdings nicht nur auf das Motiv, sondern auch auf die Technik: Samorì riß buchstäblich das Inkarnat von der Leinwand, entblößte so den blutig-roten Malgrund des schmachtenden Heiligen.
Installationsansicht Nicola Samorì: Imaginifragus, Foto: Adrian Sauer, courtesy Galerie Christian Ehrentraut, BerlinMit dieser einzigartigen Technik dürfte Samorì unter den über zweihundert ebenfalls ausgestellten Kollegen hervorstechen. Das Öl auf seinen Leinwänden liegt in Falten, hängt in Fetzen herunter oder wurde mit bloßer Hand herausgeklaubt. Es befindet sich in jedem erdenklichen Zustand, nur nicht dort, wo man es üblicherweise erwartet. Samorì entwickelte hierfür verschiedene Techniken, die es ihm erlauben, die einmal aufgetragene Farbe von seinem ebenen Untergrund zu lösen und in den Raum zu überführen. Manche Arbeiten erlangen dadurch skulpturale Qualitäten. Obwohl sie weiterhin als Gemälde imponieren, öffnen sie sich dank ihrer Plastizität einem erweiterten Formeninventar, das wohl am ehesten den Möglichkeiten der Assemblage, aber auch der Décollage oder Grattage nahe kommt.
Die Galerie Christian Ehrentraut zeigt in ihrer aktuellen Einzelausstellung »Imaginifragus« eine Auswahl aktueller Arbeiten Samorìs, die die verschiedenen Techniken des Künstlers anschaulich dokumentieren. Im Eingangsbereich der Galerie wird der Besucher mit dem mittelformatigen »Pretesto per splendore« begrüßt, das unter den ausgestellten Werken eine der überzeugendsten Leistungen darstellt. Das Bildnis zeigt eine Frauenfigur vor dunklem Grund, die ein helles Tuch in den Betrachterraum hält. Das Gesicht der Figur ist jedoch unkenntlich: Samorì löste an dieser Stelle die hauchdünne Ölschicht nach vorherigem Beizen ab und lässt sie in Falten von dem Bild herunterhängen. Auf diese Weise bringt er den durch die aggressive Behandlung zernarbten, kupfernen Malgrund zum Vorschein und erschafft eine motivisch bedeutsame Leerstelle, die nach bekannter Art eine flüchtige und ungewisse Natur entwickelt und gleichsam einfängt. Technisch interessanter erscheint allerdings die silbrig schimmernde Rückseite der Ölfolie, die den gemalten Faltenwurf mit einem skulpturalen Gegenstück doppelt: Das Gesicht der Figur liegt ebenso in Falten wie das Tuch, das sie dem Betrachter zeigt.
Nicola Samorì: Ogni estasi è indecente, Foto: Adrian Sauer, courtesy Galerie Christian Ehrentraut, BerlinNicht in allen ausgestellten Arbeiten nimmt die Bildproduktion eine so starke Rolle ein wie in »Pretesto per splendore«. Das großformatige Gemälde »Ogni estasi è indecente«, eine grau in grau gehaltene Überschichtung verschiedener historischer Bartholomäus-Darstellungen, legt den Schwerpunkt auf das Motiv, hinter dem die geschilderte Technik zurücksteht und ergänzend den Bildsinn hervorkehrt. Die vielen schemenhaft überlagerten Figuren Bartholomäi und der Schinder erscheinen hier als gespenstische Gestalten, deren Treiben gerade soweit im Unklaren liegt, daß wenigstens der ikonographische Zusammenhang erkennbar bleibt. Dabei ist es gerade die Technik des Häutens der Leinwand, die diesen Sinngehalt unterstreicht und das Motiv zweifelsfrei als Bartholomäus-Darstellung erkennbar macht.
Bezeichnenderweise ist der Körper des Heiligen intakt, die Häutung hat eben erst begonnen. Statt das Inkarnat malerisch in Streifen abzuziehen, wie es die übliche Darstellungsweise verlangt, geißelt Samorì es physisch, indem er die zarte Ölhaut von der Leinwand reißt und diese an Bartholomäi statt häutet. Der Bildkörper wird zum Körperbild, Medium und Bild gehen eine motivisch hinterlegte Symbiose ein, die die zeitgenössische Malerei oftmals vermissen lässt. Bei Samorì sind Bildträger und Bild nicht von einander zu trennen (und das ist nicht im bildwissenschaftlichen Sinne gedacht); das eine würde ohne das andere seinen kontextuellen Gehalt verlieren.
Nicola Samorì: Onoufrios, Foto: Adrian Sauer, courtesy Galerie Christian Ehrentraut, BerlinTatsächlich erscheint ein solch eng verwobenes Netz sinnstiftender Bild-Teile unter allen ausgestellten Arbeiten in »Ogni estasi è indecente« am eindrucksvollsten. Andere Arbeiten können dieses Gleichgewicht zwischen Technik und Motiv nicht so spielerisch erreichen und imponieren bisweilen als materialkundliches Experiment. Dennoch zeigt Nicola Samorì in »Imaginifragus« ein beeindruckendes und vielseitiges Formeninventar, mit dem er seine spätbarock inspirierten Motive malträtiert und bis aufs Äußerste verformt, teils entstellt. Tiefe Narben durchfurchen seine Gemälde, wenn Samorì wie etwa in »Onoufrios« kurzerhand seine Hände in die noch weiche Farbe taucht, Stücke herausklaubt und blutendes Fleisch zurücklässt.
Andernorts kräuselt sich die Ölschicht zu welken Blättern, fällt vom strahlenden Bouquet herab und wird im Plexiglasrahmen aufgefangen. Ein kurzweiliges Materialexperiment zwar; mehr als eine Zurschaustellung seiner Fertigkeiten hat Nicola Samorì für seine beiden Blumenbilder allerdings wohl nicht vorgesehen. So bleibt »Imaginifragus« vor allem für Samorìs technische Rafinesse im Gedächtnis, nur leider auch als Blick in einen Baukasten, dessen Teile noch darauf warten, in einem großen Ganzen aufzugehen. Arbeiten wie »Ogni estasi è indecente« oder das nur in Venedig zu sehende »Scoriada (J.R.)« geben erste Eindrücke, welche Möglichkeiten sich Nicola Samorì noch eröffnen. Eines ist allerdings nach »Imaginifragus« gewiß: Es bleibt spannend.