Zur Vernissage des »Philharmonie Project« gab es keinen Zweifel mehr: Die Ausstellung würde die letzte der Program Gallery sein. Nur wenige Wochen zuvor traf ich mich mit den Direktoren Carson Chan und Fotini Lazaridou-Hatzigoga zur Besprechung der vorhergehenden Schau »Dominions«. Bereits damals stand fest: Das ambitionierte Ausstellungsprojekt würde wegen immenser Mieterhöhungen seine Räume an der Invalidenstraße verlassen müssen. Die fieberhafte Suche nach einem neuen Ort begann, blieb allerdings ergebnislos. So entschieden die beiden Macher, ihr Vorzeige-Projekt einzustellen. Obwohl sich Program auf seinem Höhepunkt befand – man soll bekanntlich aufhören, wenn es am schönsten ist.
Ein Rückblick auf eine lange Geschichte (Ausstellungskritik weiter unten)
Während seines fünfjährigen Bestehens stellte Program fast vierzig mal aus; immer konnte man sich sicher sein, daß man nicht enttäuscht würde. Das einzigartige Konzept, Architektur und Kunst, aber auch Musik oder Tanz an einem Ort zusammenzubringen und das Zusammenspiel zu beobachten, brachte einige ungewöhnliche Ausstellungen hervor. Man sah viele Installationen, viele Lichtarbeiten, sogar eine Kurzausstellung mit siebzig Künstlern wurde gestemmt. Allerdings wurde keiner der Künstler durch die Galerie vertreten – Program verstand sich stets als Non-Profit-Ausstellungsraum, der sich ganz dem Konzept und der immer drängenden Frage verpflichtet fühlte: Was geschieht, wenn Kunst und Architektur aufeinandertreffen?
Sebastian Kriegsmann, Alexandro Tsolakis, Bastian Wibranek: DisconnectEine der spannendsten Antworten und damit einen der Höhepunkte im fünfjährigen Bestehen der Galerie gab die Ausstellung »Disconnect«. Im Sommer dieses Jahres spannte ein Handvoll Künstler eine elastische Membran horizontal durch den gesamten Ausstellungsraum und teilte ihn somit in einen unteren und einen oberen Bereich. Die Besucher konnten sich von beiden Seiten der Polyesterhaut nähern und dank ihrer schier endlos scheinenden Verformbarkeit in vielfältige Interaktion mit den Räumen, aber auch mit anderen Besuchern treten.
Program war jedoch auch für seine Residencies bekannt. Chan und Lazaridou-Hatzigoga gaben mehr als zwanzig Künstlern ein Refugium, in dem sie bis zu drei Monate lang ungestört ihrer Arbeit nachgehen konnten. Die Förderung trug Früchte: Oftmals entstanden aus den Residencies kluge und durchdachte Ausstellungen. Auch so manch ein Künstler war bald kein Unbekannter mehr. Timur Si-Qin gehört heute zu den interessantesten Vertretern einer Gruppe junger, interdisziplinär profund gebildeter Künstler, die in kühler, analytischer Praktik zeitgenössischen Phänomenen verschiedenster Wissenschaften einen künstlerischen Ausdruck geben. Auch Iris Touliatou vollzog nach ihrer Förderung durch Program eine eindrucksvolle Entwicklung: Im kommenden Jahr wird sie eine große Einzelausstellung in der Leipziger Galerie für zeitgenössische Kunst eröffnen.
Iris Touliatou: The revenge of the model/Still waiting for brighter daysIris Touliatou arbeitet bereits jetzt ausschließlich an Werken, die sie für diese große Schau eigens anfertigt. Dabei war es erst Anfang dieses Jahres, daß sie bei Program neben fast siebzig Kollegen ihre Arbeiten zeigte, die bereits damals sofort begeistern konnten. Darin verband sich zweierlei Poesie: auf der einen Seite die stimmungsvolle Ästhetik, aber auch die poiesis im theoretischen Sinne. In ihren Fotocollagen erstellte sie fragmentarische Landschaften und Orte, die in neuer Anordnung sehnsuchtsvoll nach einer Erweiterung ihrer Dimensionen strebten, um sich schließlich in dekonstruktiver Weise zu einer synthetisch neu erschaffenen, erweiterten Form zu fügen. Darin stachen ihre Arbeiten unter der Vielzahl der ebenfalls ausgestellten Werke hervor und hinterließen einen bleibenden Eindruck.
Auch für solche ambitionierten Projekte wie jene Ausstellung »Metrospectives 1.0«, die die Debatte um Based in Berlin vorausschauend kommentierte, war Program bekannt. Denn neben dem üblichen Ausstellungsbetrieb engagierte sich das Team um Chan und Lazaridou-Hatzigoga etwa in Workshops und Symposien, öffentlich zugänglichen Projekten oder Förderprogrammen für studentische Initiativen.
Matthias Ballestrem, Anton Burdakov: Built on promisesDas Direktorengespann unterhielt stets enge Kontakte zu einer jungen Künstlergeneration, die durch klare und durchdachte Konzeptionen brillierte und in Program einen Raum fand, in dem sie konventionelle Ausstellungsnormen durchbrechen konnte. Program überzeuge stets als künstlerisches Laboratorium, das die Freiheit und Spontaneität eines Projektraums mit der profunden kuratorischen Expertise einer institutionellen Einrichtung verband. Auf diese Weise entwickelte sich Program zu einem Kunstort, der neuen, konzeptionellen Positionen Raum gab und sie in einer Öffentlichkeit präsentierte, die dies zu schätzen wusste. Somit formte sich ein immer größerer Kreis von Anhängern und Freunden, der Kunstschaffende aller Bereiche vereinte.
Auch bei der letzten Vernissage Ende vergangenen Monats versammelte sich eine Schar treuer Stammbesucher, die neugierig aufnahm, was Chan und Lazaridou-Hatzigoga diesmal aus dem Hut zaubern würden. Nichts Geringeres als die Berliner Philharmoniker. In Lynne Marshs »The Philharmonie Project«, das durch das Ausstellungsdesign des Architektenkollektivs June14 von Johanna Meyer-Grohbrügge und Sam Chermayeff ergänzt wird, werden zwei Videoarbeiten gezeigt, die in dem Konzerthaus am Potsdamer Platz entstanden.
Lynne Marsh, June14: The Philharmonie ProjectHierzu unterteilten Meyer-Grohbrügge und Chermayeff den Ausstellungsraum durch eine diagonal eingespannte Bühnenkonstruktion in eine untere und eine obere Hälfte. Während im unteren Teil ein Video abgespielt wird, das den leeren Konzertsaal zeigte und um eine Tonspur Carl Nielsens fünfter Symphonie ergänzt, wird im oberen Teil des Raumes Einblick in den Regieraum gewährt, in dem bei Live-Übertragungen die Kameraschaltungen koordiniert werden. Der Besucher kann hier die knappen Kommandos eines eingespielten Teams verfolgen, das anhand der Partitur Nielsens abwechselnd Streicher, Bläser oder eben auch den Dirigenten inszeniert. Das synchron laufende Video im unteren Teil des Raumes zeigt dagegen jene fertig geschnittene Übertragung, die durch das Regie-Team konzertiert wird.
Gleich, wo sich der Besucher befindet, kann er stets gleichzeitig das Stück und die hektischen Schnittkommandos hören. Die Videospuren zeigen dagegen zwei Seiten derselben Realität: Einerseits den Regie-Raum und die angestrengte Stimmung darin, andererseits den leeren Konzertsaal, in dem gerade die Notenblätter ausgelegt werden. Keine der Aufnahmen kann sinnerhaltend ohne die andere existieren; die durch Meyer-Grohbrügge und Chermayeff vollzogene örtliche Trennung ist gerade klein genug, daß der Zusammenhang akustisch erhalten bleibt.
Lynne Marsh, June14: The Philharmonie ProjectSo gerät »The Philharmonie Project« zu einer Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Perspektiven eines Konzerts, das zwar nur vom Band kommt, doch aber genauso inszeniert wird wie eine Live-Aufnahme. Es gibt einen Einblick in die Produktionspraxis und entlarvt auf diese Weise die Arbitrarität, die einer immer wieder neu simulierbaren Vorstellung innewohnt. Das hörbare Konzert trennt sich vor dem entfernten Zuschauer vom sichtbaren. Beide Dimensionen derselben Vorstellung wurden von dem Regie-Team zusammengefügt, obgleich jede für sich erstellt wurde. Einer simplen Tonaufnahme wird ein visuelles Korrelat zugeordnet, das jedoch das Versprechen der Repräsentativität nicht einhalten kann. Im Regie-Raum wird aus minutiös einstudierter Routine eine Trockenübung möglich, die nicht mehr auf die genuine Tonerzeugung durch das Orchester angewiesen ist. Lynne Marsh offenbart auf diese Weise die (Möglichkeit der) Täuschung, die kein Urteil über die Echtheit einer resultierenden »Live-Aufnahme« erlaubt. Das »Philharmonie Project« demaskiert diese mit reichlich Vertrauensvorschuß behaftete Annahme und hinterfragt die Produktionspraxis solcher Aufnahmen.
So gerinnt die Ausstellung zum Einstieg in eine bildwissenschaftlichen Debatte, die die Krise der Repräsentation umfasst und das wachsende Mißtrauen in Bilder einschließt. Reproduzierbarkeit (Benjamin) und Repräsentation (Belting) des Bildes finden sich ihrer logischen Verwandtschaft zufolge in einer unlösbaren Beziehung verquickt, aus deren Intransparenz Marshs »Philharmonie Project« nicht etwa heraus, sondern geradewegs hinein führt. Das fesselnde Geschehen auf den Leinwänden bildet einen prägnanten Einstieg in eine sich immer weiter abstrahierende Kontemplation über Mechanismen des heutigen Medien(massen)konsums, Produktions- und Deutungsmonopole sowie ihrer erhaltenden (medialen) Strukturen.
Dem entgegen wirkt der Ausstellungsbau Meyer-Grohbrügges und Chermayeffs, die mit der örtlichen Trennung beider Sinnensqualitäten eine ana-lytische Annäherung an Beispiel und Thema begünstigen. Sie erschaffen somit eine konträre Struktur, die dem Erhalt entgegensteht und einen rationalen Zugang gewährt. Schließlich wird erst durch die architektonische Sinn- und Sinnesverteilung der spontane Einstieg in den Diskurs ermöglicht.
Hierin schließt sich wiederum der Kreis und es zeigt sich erneut, welch erstaunliche Ergebnisse Programs Ansatz im Grenzbereich zwischen Kunst und Architektur hervorbringt. Denn darin besteht Carson Chans kuratorische Formel:
»Space, not art, is the curator’s primary material.«
Schade, daß Berlin dieser frische kuratorische Geist vorerst verloren geht. Aber ich habe mich versichert: Chan und Lazaridou-Hatzigoga nehmen neue Projekte ins Visier. Interessante und aussichtsreiche – so viel kann ich versprechen.