Abschied von der Program Gallery

12. November 2011 von Matthias Planitzer
Raum, nicht Kunst, ist des Kurators wichtigstes Material.
Lynne Marsh, June14: The Philharmonie Project, Foto: Trevor Good, courtesy ProgramDer Diri­gent ist abge­tre­ten. – Lyn­ne Marsh, June14: The Phil­har­mo­nie Pro­ject, cour­te­sy Program

Zur Ver­nis­sa­ge des »Phil­har­mo­nie Pro­ject« gab es kei­nen Zwei­fel mehr: Die Aus­stel­lung wür­de die letz­te der Pro­gram Gal­lery sein. Nur weni­ge Wochen zuvor traf ich mich mit den Direk­to­ren Carson Chan und Foti­ni Laza­ri­dou-Hat­zigo­ga zur Bespre­chung der vor­her­ge­hen­den Schau »Domi­ni­ons«. Bereits damals stand fest: Das ambi­tio­nier­te Aus­stel­lungs­pro­jekt wür­de wegen immenser Miet­erhö­hun­gen sei­ne Räu­me an der Inva­li­den­stra­ße ver­las­sen müs­sen. Die fie­ber­haf­te Suche nach einem neu­en Ort begann, blieb aller­dings ergeb­nis­los. So ent­schie­den die bei­den Macher, ihr Vor­zei­ge-Pro­jekt ein­zu­stel­len. Obwohl sich Pro­gram auf sei­nem Höhe­punkt befand – man soll bekannt­lich auf­hö­ren, wenn es am schöns­ten ist.

Ein Rück­blick auf eine lan­ge Geschich­te (Aus­stel­lungs­kri­tik wei­ter unten)

Wäh­rend sei­nes fünf­jäh­ri­gen Bestehens stell­te Pro­gram fast vier­zig mal aus; immer konn­te man sich sicher sein, daß man nicht ent­täuscht wür­de. Das ein­zig­ar­ti­ge Kon­zept, Archi­tek­tur und Kunst, aber auch Musik oder Tanz an einem Ort zusam­men­zu­brin­gen und das Zusam­men­spiel zu beob­ach­ten, brach­te eini­ge unge­wöhn­li­che Aus­stel­lun­gen her­vor. Man sah vie­le Instal­la­tio­nen, vie­le Licht­ar­bei­ten, sogar eine Kurz­aus­stel­lung mit sieb­zig Künst­lern wur­de gestemmt. Aller­dings wur­de kei­ner der Künst­ler durch die Gale­rie ver­tre­ten – Pro­gram ver­stand sich stets als Non-Pro­fit-Aus­stel­lungs­raum, der sich ganz dem Kon­zept und der immer drän­gen­den Fra­ge ver­pflich­tet fühl­te: Was geschieht, wenn Kunst und Archi­tek­tur aufeinandertreffen?

Sebastian Kriegsmann, Alexandro Tsolakis, Bastian Wibranek: DisconnectSebas­ti­an Kriegs­mann, Alex­an­dro Tso­la­kis, Bas­ti­an Wibr­a­nek: Dis­con­nect

Eine der span­nends­ten Ant­wor­ten und damit einen der Höhe­punk­te im fünf­jäh­ri­gen Bestehen der Gale­rie gab die Aus­stel­lung »Dis­con­nect«. Im Som­mer die­ses Jah­res spann­te ein Hand­voll Künst­ler eine elas­ti­sche Mem­bran hori­zon­tal durch den gesam­ten Aus­stel­lungs­raum und teil­te ihn somit in einen unte­ren und einen obe­ren Bereich. Die Besu­cher konn­ten sich von bei­den Sei­ten der Poly­es­ter­haut nähern und dank ihrer schier end­los schei­nen­den Ver­form­bar­keit in viel­fäl­ti­ge Inter­ak­ti­on mit den Räu­men, aber auch mit ande­ren Besu­chern treten.

Pro­gram war jedoch auch für sei­ne Resi­den­ci­es bekannt. Chan und Laza­ri­dou-Hat­zigo­ga gaben mehr als zwan­zig Künst­lern ein Refu­gi­um, in dem sie bis zu drei Mona­te lang unge­stört ihrer Arbeit nach­ge­hen konn­ten. Die För­de­rung trug Früch­te: Oft­mals ent­stan­den aus den Resi­den­ci­es klu­ge und durch­dach­te Aus­stel­lun­gen. Auch so manch ein Künst­ler war bald kein Unbe­kann­ter mehr. Timur Si-Qin gehört heu­te zu den inter­es­san­tes­ten Ver­tre­tern einer Grup­pe jun­ger, inter­dis­zi­pli­när pro­fund gebil­de­ter Künst­ler, die in küh­ler, ana­ly­ti­scher Prak­tik zeit­ge­nös­si­schen Phä­no­me­nen ver­schie­dens­ter Wis­sen­schaf­ten einen künst­le­ri­schen Aus­druck geben. Auch Iris Touli­a­tou voll­zog nach ihrer För­de­rung durch Pro­gram eine ein­drucks­vol­le Ent­wick­lung: Im kom­men­den Jahr wird sie eine gro­ße Ein­zel­aus­stel­lung in der Leip­zi­ger Gale­rie für zeit­ge­nös­si­sche Kunst eröffnen.

Iris Touliatou: The revenge of the model/Still waiting for brighter daysIris Touli­a­tou: The reven­ge of the model/Still wai­ting for brigh­ter days

Iris Touli­a­tou arbei­tet bereits jetzt aus­schließ­lich an Wer­ken, die sie für die­se gro­ße Schau eigens anfer­tigt. Dabei war es erst Anfang die­ses Jah­res, daß sie bei Pro­gram neben fast sieb­zig Kol­le­gen ihre Arbei­ten zeig­te, die bereits damals sofort begeis­tern konn­ten. Dar­in ver­band sich zwei­er­lei Poe­sie: auf der einen Sei­te die stim­mungs­vol­le Ästhe­tik, aber auch die poie­sis im theo­re­ti­schen Sin­ne. In ihren Foto­col­la­gen erstell­te sie frag­men­ta­ri­sche Land­schaf­ten und Orte, die in neu­er Anord­nung sehn­suchts­voll nach einer Erwei­te­rung ihrer Dimen­sio­nen streb­ten, um sich schließ­lich in dekon­struk­ti­ver Wei­se zu einer syn­the­tisch neu erschaf­fe­nen, erwei­ter­ten Form zu fügen. Dar­in sta­chen ihre Arbei­ten unter der Viel­zahl der eben­falls aus­ge­stell­ten Wer­ke her­vor und hin­ter­lie­ßen einen blei­ben­den Eindruck.

Auch für sol­che ambi­tio­nier­ten Pro­jek­te wie jene Aus­stel­lung »Metro­s­pec­ti­ves 1.0«, die die Debat­te um Based in Ber­lin vor­aus­schau­end kom­men­tier­te, war Pro­gram bekannt. Denn neben dem übli­chen Aus­stel­lungs­be­trieb enga­gier­te sich das Team um Chan und Laza­ri­dou-Hat­zigo­ga etwa in Work­shops und Sym­po­si­en, öffent­lich zugäng­li­chen Pro­jek­ten oder För­der­pro­gram­men für stu­den­ti­sche Initiativen.

Matthias Ballestrem, Anton Burdakov: Built on promisesMat­thi­as Bal­lestrem, Anton Burd­a­kov: Built on promises

Das Direk­to­ren­ge­spann unter­hielt stets enge Kon­tak­te zu einer jun­gen Künst­ler­ge­nera­ti­on, die durch kla­re und durch­dach­te Kon­zep­tio­nen bril­lier­te und in Pro­gram einen Raum fand, in dem sie kon­ven­tio­nel­le Aus­stel­lungs­nor­men durch­bre­chen konn­te. Pro­gram über­zeu­ge stets als künst­le­ri­sches Labo­ra­to­ri­um, das die Frei­heit und Spon­ta­nei­tät eines Pro­jekt­raums mit der pro­fun­den kura­to­ri­schen Exper­ti­se einer insti­tu­tio­nel­len Ein­rich­tung ver­band. Auf die­se Wei­se ent­wi­ckel­te sich Pro­gram zu einem Kunst­ort, der neu­en, kon­zep­tio­nel­len Posi­tio­nen Raum gab und sie in einer Öffent­lich­keit prä­sen­tier­te, die dies zu schät­zen wuss­te. Somit form­te sich ein immer grö­ße­rer Kreis von Anhän­gern und Freun­den, der Kunst­schaf­fen­de aller Berei­che vereinte.

Auch bei der letz­ten Ver­nis­sa­ge Ende ver­gan­ge­nen Monats ver­sam­mel­te sich eine Schar treu­er Stamm­be­su­cher, die neu­gie­rig auf­nahm, was Chan und Laza­ri­dou-Hat­zigo­ga dies­mal aus dem Hut zau­bern wür­den. Nichts Gerin­ge­res als die Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­ker. In Lyn­ne Marshs »The Phil­har­mo­nie Pro­ject«, das durch das Aus­stel­lungs­de­sign des Archi­tek­ten­kol­lek­tivs June14 von Johan­na Mey­er-Groh­brüg­ge und Sam Cher­mayeff ergänzt wird, wer­den zwei Video­ar­bei­ten gezeigt, die in dem Kon­zert­haus am Pots­da­mer Platz entstanden.

Lynne Marsh, June14: The Philharmonie ProjectLyn­ne Marsh, June14: The Phil­har­mo­nie Project

Hier­zu unter­teil­ten Mey­er-Groh­brüg­ge und Cher­mayeff den Aus­stel­lungs­raum durch eine dia­go­nal ein­ge­spann­te Büh­nen­kon­struk­ti­on in eine unte­re und eine obe­re Hälf­te. Wäh­rend im unte­ren Teil ein Video abge­spielt wird, das den lee­ren Kon­zert­saal zeig­te und um eine Ton­spur Carl Niel­sens fünf­ter Sym­pho­nie ergänzt, wird im obe­ren Teil des Rau­mes Ein­blick in den Regie­raum gewährt, in dem bei Live-Über­tra­gun­gen die Kame­ra­schal­tun­gen koor­di­niert wer­den. Der Besu­cher kann hier die knap­pen Kom­man­dos eines ein­ge­spiel­ten Teams ver­fol­gen, das anhand der Par­ti­tur Niel­sens abwech­selnd Strei­cher, Blä­ser oder eben auch den Diri­gen­ten insze­niert. Das syn­chron lau­fen­de Video im unte­ren Teil des Rau­mes zeigt dage­gen jene fer­tig geschnit­te­ne Über­tra­gung, die durch das Regie-Team kon­zer­tiert wird.

Gleich, wo sich der Besu­cher befin­det, kann er stets gleich­zei­tig das Stück und die hek­ti­schen Schnitt­kom­man­dos hören. Die Video­spu­ren zei­gen dage­gen zwei Sei­ten der­sel­ben Rea­li­tät: Einer­seits den Regie-Raum und die ange­streng­te Stim­mung dar­in, ande­rer­seits den lee­ren Kon­zert­saal, in dem gera­de die Noten­blät­ter aus­ge­legt wer­den. Kei­ne der Auf­nah­men kann sin­nerhal­tend ohne die ande­re exis­tie­ren; die durch Mey­er-Groh­brüg­ge und Cher­mayeff voll­zo­ge­ne ört­li­che Tren­nung ist gera­de klein genug, daß der Zusam­men­hang akus­tisch erhal­ten bleibt.

Lynne Marsh, June14: The Philharmonie ProjectLyn­ne Marsh, June14: The Phil­har­mo­nie Project

So gerät »The Phil­har­mo­nie Pro­ject« zu einer Gegen­über­stel­lung zwei­er unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven eines Kon­zerts, das zwar nur vom Band kommt, doch aber genau­so insze­niert wird wie eine Live-Auf­nah­me. Es gibt einen Ein­blick in die Pro­duk­ti­ons­pra­xis und ent­larvt auf die­se Wei­se die Arbi­tra­ri­tät, die einer immer wie­der neu simu­lier­ba­ren Vor­stel­lung inne­wohnt. Das hör­ba­re Kon­zert trennt sich vor dem ent­fern­ten Zuschau­er vom sicht­ba­ren. Bei­de Dimen­sio­nen der­sel­ben Vor­stel­lung wur­den von dem Regie-Team zusam­men­ge­fügt, obgleich jede für sich erstellt wur­de. Einer simp­len Ton­auf­nah­me wird ein visu­el­les Kor­re­lat zuge­ord­net, das jedoch das Ver­spre­chen der Reprä­sen­ta­ti­vi­tät nicht ein­hal­ten kann. Im Regie-Raum wird aus minu­ti­ös ein­stu­dier­ter Rou­ti­ne eine Tro­cken­übung mög­lich, die nicht mehr auf die genui­ne Ton­erzeu­gung durch das Orches­ter ange­wie­sen ist. Lyn­ne Marsh offen­bart auf die­se Wei­se die (Mög­lich­keit der) Täu­schung, die kein Urteil über die Echt­heit einer resul­tie­ren­den »Live-Auf­nah­me« erlaubt. Das »Phil­har­mo­nie Pro­ject« demas­kiert die­se mit reich­lich Ver­trau­ens­vor­schuß behaf­te­te Annah­me und hin­ter­fragt die Pro­duk­ti­ons­pra­xis sol­cher Aufnahmen.

So gerinnt die Aus­stel­lung zum Ein­stieg in eine bild­wis­sen­schaft­li­chen Debat­te, die die Kri­se der Reprä­sen­ta­ti­on umfasst und das wach­sen­de Miß­trau­en in Bil­der ein­schließt. Repro­du­zier­bar­keit (Ben­ja­min) und Reprä­sen­ta­ti­on (Bel­ting) des Bil­des fin­den sich ihrer logi­schen Ver­wandt­schaft zufol­ge in einer unlös­ba­ren Bezie­hung ver­quickt, aus deren Intrans­pa­renz Marshs »Phil­har­mo­nie Pro­ject« nicht etwa her­aus, son­dern gera­de­wegs hin­ein führt. Das fes­seln­de Gesche­hen auf den Lein­wän­den bil­det einen prä­gnan­ten Ein­stieg in eine sich immer wei­ter abs­tra­hie­ren­de Kon­tem­pla­ti­on über Mecha­nis­men des heu­ti­gen Medien(massen)konsums, Pro­duk­ti­ons- und Deu­tungs­mo­no­po­le sowie ihrer erhal­ten­den (media­len) Strukturen.

Dem ent­ge­gen wirkt der Aus­stel­lungs­bau Mey­er-Groh­brüg­ges und Cher­mayeffs, die mit der ört­li­chen Tren­nung bei­der Sin­nens­qua­li­tä­ten eine ana-lyti­sche Annä­he­rung an Bei­spiel und The­ma begüns­ti­gen. Sie erschaf­fen somit eine kon­trä­re Struk­tur, die dem Erhalt ent­ge­gen­steht und einen ratio­na­len Zugang gewährt. Schließ­lich wird erst durch die archi­tek­to­ni­sche Sinn- und Sin­nes­ver­tei­lung der spon­ta­ne Ein­stieg in den Dis­kurs ermöglicht.

Hier­in schließt sich wie­der­um der Kreis und es zeigt sich erneut, welch erstaun­li­che Ergeb­nis­se Pro­grams Ansatz im Grenz­be­reich zwi­schen Kunst und Archi­tek­tur her­vor­bringt. Denn dar­in besteht Carson Chans kura­to­ri­sche For­mel:

»Space, not art, is the curator’s pri­ma­ry material.«

Scha­de, daß Ber­lin die­ser fri­sche kura­to­ri­sche Geist vor­erst ver­lo­ren geht. Aber ich habe mich ver­si­chert: Chan und Laza­ri­dou-Hat­zigo­ga neh­men neue Pro­jek­te ins Visier. Inter­es­san­te und aus­sichts­rei­che – so viel kann ich versprechen.