Der Weg zu Michelangelo Pistolettos Einzelausstellung in der Londoner Serpentine Gallery war ein verschlungener. Man stieg an der Tube-Station Hyde Park Corner aus, suchet einen Zugang zur namensgebenden Grünanlage, schlug einen mäandernden Pfad nach dem anderen ein, passierte bizarre Bäume und künstliche Wasserfälle, suchte seinen Weg vorbei an all den nach Erholung suchenden Londonern, um endlich den Kensington Garden aufzuspüren. Hier, im royalen Nachbarpark, musste man nur noch den Pavillon der renommierten Galerie finden. Wer dann erleichtert aufatmete und glaubte, an das Ende des Irrweges gelangt zu sein, der wurde in Michelangelo Pistolettos Ausstellung »The mirror of judgement« eines Besseren belehrt: das eigentliche Labyrinth war noch zu meistern.
Pistoletto hatte die Serpentine Gallery in einen Irrgarten der Kunst verwandelt: Unendliche Pappbahnen mäanderten mühsam durch die Räume des Pavillons, schmiegten sich eng aneinander, umschlungen die Mauern ebenso wie einen schmalen Pfad in ihrer Mitte und all die Verirrten, die ihm folgten. Hier und da gab die wuchernde Pappe den Boden frei, wich vor geheimnisvollen Objekten zurück, als ginge von ihnen ein Bannkreis aus. Pistoletto hatte in seinem Papplabyrinth eine Handvoll Kunstwerke versteckt – für jede Weltreligion eines.
Michelangelo Pistoletto, Ausstellungsansicht, Serpentine Gallery, © 2011 Sebastiano PellionFür Michelangelo Pistoletto selbst ist ein Labyrinth »eine verschlungene und unabsehbare Straße, die uns an den Ort der Offenbarung, des Wissens führt«. So schwülstig-religiös wie seine eigenen Worte klingen, war »The mirror of judgement« glücklicherweise nur auf den ersten Blick. Trotz des Titels und der mit reichlich transzendentem Pathos beladenen Inszenierung eines Oberlichts, die den Besucher in der Ausstellung empfing. Denn was Pistoletto in der Serpentine Gallery komprimiert vereinte, war nicht weniger als ein kurzer Abriss des bisherigen Gesamtwerks des Arte-Povera-Künstlers.
Die Arte Povera scheint in Europa wieder verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Im vergangenen Jahr erkannten manche Beobachter in den Verkäufen der Art Basel eine Rückkehr zu der italienischen Bewegung aus den 1960er Jahren. Dieses Jahr ziehen die Institutionen nach: der Markttrend siedelt in die Ausstellungsräume über. Während Sotheby’s kürzlich die Auktion der »bisher umfassendsten Arte-Povera-Sammlung« bekannt gab, kündigte diese Woche das Tate Modern die Einzelausstellung Alighiero e Boettis für das kommende Frühjahr an. Auch die Deutschen sind auf den Zug aufgesprungen: Sowohl das Kurhaus Kleve als auch der Berliner Schinkelpavillon eröffneten erst kürzlich jeweils Ausstellungen von Jannis Kounelli. Auch die Galerie Konrad Fischer nutzt mit einer Schau Guiseppe Penones die Gunst der Stunde – das gestiegene Interesse an der Arte Povera wird offensichtlich auch nicht von der kürzlichen Nachricht des tragischen Todes Vettor Pisanis getrübt.
Michelangelo Pistoletto, Ausstellungsansicht, Serpentine Gallery, © 2011 Sebastiano PellionPistoletto blieb seinen Arte-Povera-Wurzeln treu: Billige Wellpappe traf auf Antiquitäten und simple Spiegel. Fünfzig Jahre nach seinem ersten Mirror Painting »The present« ist dieses Medium noch immer ein wichtiger Bestandteil in Pistolettos Arsenal. Fünfzig Jahre sind es auch, die dieses Medium zur Reduktion auf seine absolute Essenz gebraucht hat: Pistolettos Spiegel sind keine Paintings mehr im eigentlichen Sinne, sie sind nicht mehr Träger einer Mal- und weltlichen Bedeutungsebene. Sie sind zunächst einfach nur Spiegel, abstrahierte Virtualität; virtuality aber auch in der Dichotomie, die nur die englische Sprache wiedergeben kann: abstrahierte Wirksamkeit.
Denn die Reduktion auf eine simple Spiegelfläche verfehlte ihre Wirkung nicht: Ob am Betpult oder auf dem Gebetsteppich, der Beichtende fand vor den Mirrors of Judgement seine gerechte Buße. Niederknien ausdrücklich erlaubt. Jeglicher Transzendenz beraubt erfolgte der Richterspruch in der direkten Konfrontation mit dem eigenen Sündenregister. Pistoletto entmachtete das Gottesgericht, er setzte das in virtuality widerspiegelnde Gewissen an seiner statt. Konfession war nebensächlich, ob Jud‹ oder Christ, Moslem oder Buddhist, hier wurde jeder nach demselben Maß gemessen. Selbst Anhänger seines eigenen meta-religiösen Konzepts des »dritten Paradieses« erhielten hier ihr gerechtes Urteil.
Michelangelo Pistoletto, Ausstellungsansicht, Serpentine Gallery, © 2011 Sebastiano PellionSein »Neues Unendlichkeitszeichen«, wie er es nennt, wurde von allen religiösen Symbolen am prominentesten inszeniert. Ein verspiegelter Obelisk stach in die Kuppel des zentralen Pavillonraums und hielt jenes dreischlaufige Objekt an Ort und Stelle. Zwei Ringe für die natürliche und die menschengemachte Welt, ein weiterer zur synthetischen Vereinigung dieser gegensätzlichen Sphären. Das ist das Heilssymbol Pistolettos, überkonfessionell und dadurch säkular, durchaus auch profan. Seitdem es 2003 ersonnen wurde, ziert es Pistolettos Banner und wird propagiert, wo auch immer es auftaucht: Ob in den pädagogischen Workshops seiner Cittadellarte-Stiftung oder bei der venezianischen Biennale 2005, es sucht jeden sich bietenden Weg in die Köpfe der Menschen.
Dieser nimmermüde Eifer zeichnete sich auch in der Serpentine Gallery ab. Während die Buß- und Betgelegenheiten in den umliegenden Räumen erst an den Enden der verschlungenen Pfade aufgespürt werden mussten, führten alle Wege zu den großen Ringen. Im Rückgriff auf römisch-katholische Prinzipien der Machtbehauptungen installierte Michelangelo Pistoletto hier seine eigene Meta-Religion, setzte sie über alle anderen. Der Obelisk inszenierte in dieser exponierten Lage das »dritte Paradies« als eine übergeordnete Alternative zu den Dogmen der Weltreligionen.
Michelangelo Pistoletto: Le trombe del giudizio, Ausstellungsansicht »Pistoletto: Le porte di Palazzo Fabroni«, Palazzo Fabroni, Pistoia, 1995. c/o Cittadellarte-Fondazione Pistoletto, Biella, Foto: C. AbateVor diesem Hintergrund blieb jedoch unverständlich, warum in »The mirror of judgement« erneut die »Trombe del giudizio« auftauchten. Obgleich sie einen wichtigen Platz im Werk Pistolettos einnehmen, wirkten sie wegen ihrer archaischen Konnotation fehl am Platze. Die 1968 uraufgeführte Performance blieb zwar aus, dennoch erschien eine so drohende Stimme vom Jüngsten Gericht ob der versöhnlichen Botschaft der Ausstellung ungelenk platziert. In diesem Punkt zeigte sich, daß die Balance zwischen Werkübersicht und aktueller Einzelausstellung nicht exakt gefunden wurde. »The mirror of judgement« vereinte zwar kommentarhaft bedeutsame Elemente in Pistolettos Werk, vermochte diese jedoch leider nicht in ein gänzlich stimmiges Gesamtbild übertragen.
Abgesehen von den »Trombe del giudizio« bot sich allerdings eine kurzweilige Ausstellung, die durch Irrgänge und Buß- und Betgelegenheiten Partizipation einforderte. Ob man sich dem gelegentlich etwas schwülstigen Duktus hingeben wollte, musste jeder Besucher selbst entscheiden. Eine Schau für überzeugte Atheisten war »The mirror of judgement« jedenfalls nicht. Wer wegen Pistoletto kam, dürfte allerdings auch nichts anderes erwartet haben.