Die Ästhetik der Leichtigkeit

07. Februar 2011 von Matthias Planitzer
"Microcosm yourself", © Maia Lyon-Daw Wenn man die aktuellen Tendenzen in der Kunst aufmerksam beobachtet, spürt man eine gärende Aufbruchstimmung. Die Kunst legt langsam den Ernst des Konzeptionellen ab, wird offener und begeistert nicht nur öfter, sondern auch mehr Menschen. Diese Entwicklung mag zunächst nichtig und zufällig scheinen, ist doch aber tiefer verankert, als man vermuten mag. Denn dahinter steht ein Wandel in den ästhetischen Maximen, der erst seit wenigen Jahren auch in der Kunsttheorie proklamiert wird. Von der Theorie zur Praxis (und eigentlich zunächst von der Praxis zur Theorie) ist es jedoch ein großer Schritt. Dieser scheint jedoch immer mehr Künstlern zu gelingen. Ob bewusst oder unbewusst, ist nachrangig, denn was in beiden Fällen beobachtbar wird, ist eine Hinwendung zur Leichtigkeit und unbefangenen, bewunderungswürdigen Schönheit. Zwar ist diese Entwicklung noch jung, doch schon jetzt spricht man ihr großes Zukunftspotential zu.

Maia Lyon-Daw: Microcosm yourself»Micro­c­osm yours­elf«, © Maia Lyon-Daw

Wenn man die aktu­el­len Ten­den­zen in der Kunst auf­merk­sam beob­ach­tet, spürt man eine gären­de Auf­bruch­stim­mung. Die Kunst legt lang­sam den Ernst des Kon­zep­tio­nel­len ab, wird offe­ner und begeis­tert nicht nur öfter, son­dern auch mehr Men­schen. Die­se Ent­wick­lung mag zunächst nich­tig und zufäl­lig schei­nen, ist doch aber tie­fer ver­an­kert, als man ver­mu­ten mag. Denn dahin­ter steht ein Wan­del in den ästhe­ti­schen Maxi­men, der erst seit weni­gen Jah­ren auch in der Kunst­theo­rie pro­kla­miert wird.

Von der Theo­rie zur Pra­xis (und eigent­lich zunächst von der Pra­xis zur Theo­rie) ist es jedoch ein gro­ßer Schritt. Die­ser scheint jedoch immer mehr Künst­lern zu gelin­gen. Ob bewusst oder unbe­wusst, ist nach­ran­gig, denn was in bei­den Fäl­len beob­acht­bar wird, ist eine Hin­wen­dung zur Leich­tig­keit und unbe­fan­ge­nen, bewun­de­rungs­wür­di­gen Schön­heit. Zwar ist die­se Ent­wick­lung noch jung, doch schon jetzt spricht man ihr gro­ßes Zukunfts­po­ten­ti­al zu.

Ólafur Elíasson: Your split second house»Your split second house«, © Ólaf­ur Elíasson

In den ver­gan­ge­nen Wochen und Mona­ten stieß ich ver­mehrt auf Arbei­ten, die zwar wun­der­schön anzu­se­hen waren, mit denen ich aber sonst nicht viel anzu­fan­gen wuß­te. Dann konn­te ich häu­fig nicht mehr als Bewun­de­rung auf­brin­gen, doch jeder Ver­such des Nach­den­kens schei­ter­te augen­blick­lich. So manch einen Arti­kel habe ich schrei­ben wol­len, doch fehl­ten mir die Wor­te, weil mir schlicht nicht mehr übrig blieb, als in poe­tischs­ten Tönen dem Zau­ber des einen oder ande­ren Werks gerecht wer­den zu wollen.

Der Grund hier­für ist mir nun klar. Wenn man es mit Jac­ques Ran­ciè­re nimmt, dann liegt das dar­an, dass die Kunst sich von alten Auf­ga­ben zu lösen hat. Sei­ne Aus­füh­run­gen sind zwar nur schwer in weni­gen Wor­ten kor­rekt und ver­ständ­lich dar­zu­stel­len, doch sein Kern­ge­dan­ke besteht dar­in, dass die sinn­li­che Erfah­rung von der Befehls­ge­walt der hier­ar­chi­schen Anord­nung des vol­taire­schen Klas­sen­dua­lis­mus »Fein­geist« und »Grob­ge­ist« getrennt wer­den müs­se. Dies erkennt er in Nietz­sches Begriff­lich­keit der apol­li­ni­schen Sta­tue, die über allem thro­ne, weil ihre pure Schön­heit in sich selbst geschlos­sen ist; die jedem Zugriff von Außen wider­steht, kei­ner Inter­pre­ta­ti­on, kei­nem Zweck unter­steht, die kei­nem dient, selbst dem Künst­ler nicht. Als ich Ran­ciè­res Essay las, wur­de mir augen­blick­lich klar, daß der hier geschil­der­te Ent­wurf einer »Poli­tik der Kunst und Poe­tik der Poli­tik« bereits umge­setzt wird.

Ólafur Elíasson: Round rainbow»Round rain­bow«, © Ólaf­ur Elíasson

Eine sol­che Erfah­rung mach­te ich zuerst in Ólaf­ur Elí­as­sons viel gelob­ter Aus­stel­lung »Innen Stadt Außen« im ver­gan­ge­nen Som­mer. Was die meis­ten der hier aus­ge­stell­ten Arbei­ten aus­zeich­ne­te, war, dass sich hier jeder­mann — gleich ob jung, ob alt, ob künst­le­risch gebil­det oder naiv — in einem ein­zi­gen hef­ti­gen Gefühl ver­bun­den sah: Bewun­de­rung über jene ein­zig­ar­ti­ge Ästhetik.

So strahl­ten etwa Wer­ke wie »Round rain­bow« eine beson­de­re Schön­heit aus. Elí­as­son ließ hier­zu in der Mit­te des Rau­mes einen sich lang­sam dre­hen­den Ple­xi­glas­ring von der Decke hän­gen, der von einem hel­len Spot beleuch­tet wur­de. Die Brech­kraft des pris­men­ähn­li­chen Rin­ges zau­ber­te immer wie­der neue For­men an die Wand, die sich ste­tig ver­grö­ßer­ten oder ver­klei­ner­ten, über die Wän­de und die Decke wan­der­ten um immer wie­der neu zu verschmelzen.

Ólafur Eliasson: Your split second house»Your split second house«, © Ólaf­ur Elí­as­son (via)

Aber auch »Your split second house« konn­te begeis­tern. Hier­zu pras­sel­te in einem abge­dun­kel­ten Raum aus drei an der Decke befes­tig­ten Schläu­chen Was­ser auf den Boden. Die Schläu­che dreh­ten sich kon­form und dank eines instal­lier­ten Stro­bo­skop­lichts erga­ben sich so atem­be­rau­ben­de Ein­drü­cke, die zusam­men mit dem ste­ti­gen Plät­schern eine ein­zig­ar­ti­ge Atmo­sphä­re erzeug­te, die mich für lan­ge Zeit in den Bann zog.

Auch die ande­ren Besu­cher waren wie ver­zau­bert und genos­sen das Schau­spiel um eini­ges län­ger, als sie es ver­mut­lich von übli­chen Aus­stel­lun­gen gewohnt waren, wo dem ein­zel­nen Werk kaum Zeit gewid­met wird. Hier ging es weder um Form, noch um Sujet, weder um eine Bedeu­tung noch um ein Kon­zept. Im Mit­tel­punkt stand allein die unge­trüb­te Schön­heit des Werks. Ins­be­son­de­re Kin­der fan­den ihren Gefal­len an Elí­as­sons Was­ser­spiel, toll­ten umher, lach­ten, lie­ßen sich ganz von den wun­der­sa­men Lich­tern einnehmen.

Ver­mut­lich wür­de sich auch ein Lands­mann Elí­as­sons, Egill Sæb­jörns­son, freu­en, wenn Kin­der sei­ne jüngs­te Arbeit »Girodaff« mögen, die ich vor eini­gen Wochen bei Sas­sa Trülzsch sah. Dazu wird per Bea­mer ein kur­zer Film auf eine Wand pro­je­ziert; man sieht die comic-haf­te Zeich­nung eines Mam­mut, das durch den Raum schwebt, auf Wol­ken rei­tet und erlegt wird, um schließ­lich von pur­ple rain betrau­ert zu wer­den. Im Licht­ke­gel des Bea­mers dreht sich ein Mobi­le, an dem ver­schie­de­ne Glas­kör­per, kla­re und rote, auf­ge­han­gen sind, die das Licht bre­chen und ähn­lich wie in Elí­as­sons »Round Rain­bow« wun­der­sa­me Licht­re­fle­xe an die Wän­de wer­fen. Glo­cken­spiel und Pau­ke beglei­ten das Ensem­ble, gele­gent­lich trö­tet das Mam­mut von sei­ner Wolke.

Man wür­de »Girodaff« nicht gerecht, ver­such­te man die nar­ra­ti­ve Kom­po­nen­te über die visu­el­le, das Pro­jekt über die Pro­jek­ti­on zu stel­len. Was hat die Geschich­te eines flie­gen­den Mam­mut mit den bizar­ren Licht­ver­zer­run­gen des Mobi­le zu tun? Zunächst ein­mal nicht viel, so mag man urtei­len; bei­de Tei­le der Instal­la­ti­on schei­nen anfangs unab­hän­gig von­ein­an­der zu sein. Erst spä­ter erkennt man, daß sie eine enge Sym­bio­se ein­ge­hen, daß es die Licht­ma­le­rei ist, die den Zau­ber der Geschich­te maß­geb­lich befruch­tet, aber auch erst dadurch ent­ste­hen kann, daß der zunächst unbe­ein­fluss­te Licht­strahl auf das Mobi­le trifft.

So zeigt sich aber auch, daß die ver­meint­lich unver­ein­ba­ren Ele­men­te der Instal­la­ti­on eigent­lich untrenn­bar zusam­men gehö­ren und sich als Fol­ge ihrer gegen­sei­ti­gen För­de­rung auf ein gemein­sa­mes Ziel aus­rich­ten, das nicht vor­zugs­wei­se in einem der bei­den Tei­le begrün­det, son­dern in einem Fix­punkt liegt, der über bei­den steht. Egill Sæb­jörns­sons Arbeit kon­zen­triert sich auf ihre eige­ne Schön­heit und – dar­in liegt ihre Stär­ke – ver­zich­tet dabei auf ein extrin­sisch ver­an­ker­tes, ästhe­ti­sches Bezugs- und Urteils­sys­tem, sie ist apol­li­nisch im Ran­ciè­re­schen Sin­ne, ist einer allei­nig fein­geis­ti­gen Sicht­wei­se überlegen.

Maia Lyon-Daw: Microcosm yourself»Micro­c­osm yours­elf«, © Maia Lyon-Daw

Als not­wen­di­ge Fol­ge (aber auch Vor­aus­set­zung?) der Abschaf­fung der Hier­ar­chie zwi­schen Inter­pre­ta­ti­on und Inten­ti­on gegen­über der Sinn­lich­keit sieht Ran­ciè­re die Abschaf­fung der »Unter­schei­dung zwi­schen Men­schen mit gro­ben und Men­schen mit fei­nen Sin­nen, zwi­schen Men­schen mit einer akti­ven Intel­li­genz und Men­schen mit einer pas­si­ven Sinn­lich­keit«. Damit ent­leiht er viel bei Schil­ler und meint doch nichts ande­res die Nivel­lie­rung der so über­mäch­tig erschei­nen­den Dis­so­nanz zwi­schen gebil­de­ten und nai­ven Kunst­be­trach­tern. Sei­ne eige­ne Schluss­fol­ge­rung, die im 18. Jahr­hun­dert undenk­bar gewe­sen wäre, trans­fe­riert die­sen Gedan­ken in eine poli­ti­sche Dimen­si­on – oder, bes­ser gesagt, lässt ihm eine poli­ti­sche Rele­vanz zukommen:

Indem die sinn­li­che Erfah­rung über das fein­geis­ti­ge Urteil gestellt wird, eini­ge die Kunst die Gemein­schaft der Betrach­ter und wer­de Teil der­sel­ben, las­se poli­ti­sche und künst­le­ri­sche For­men eins wer­den. Dadurch gewinnt die Kunst eine unge­ahn­te Leich­tig­keit, die jen­seits der Begriff­lich­kei­ten von hoher Kunst und Kitsch exis­tiert. Bei­spiel­haft gespro­chen ist das im Grun­de genom­men nichts ande­res als die ver­ei­ni­gen­de Wir­kung der genann­ten Arbei­ten, vor denen sich Betrach­ter gleich wel­cher Bil­dung, wel­cher Her­kunft oder wel­chen Alters ein­fin­den und in ihrer gemein­sa­men Erfah­rung eine Ein­heit bilden.

Ein Wer­muts­trop­fen bleibt jedoch: Nimmt man es mit Ran­ciè­re, so füh­re die­se Ver­ei­ni­gung in ihrer kon­se­quen­ten Form zu einem Still­stand in der Kunst. Es brau­che die unauf­ge­lös­te Span­nung zwi­schen Poli­tik und Kunst, damit künst­le­ri­sche Ent­wick­lung mög­lich wird. Den­noch, und das soll­te hei­ter stim­men: So weit wird es ohne­hin nicht kom­men; doch auf dem Weg dahin ist noch viel Platz für Entwicklungen.

Wei­ter­füh­ren­de Literatur:
Jac­ques Ran­ciè­re: »Ist Kunst widerständig?«
Fried­rich Nietz­sche: »Die Geburt der Tra­gö­die aus dem Geis­te der Musik«
Theo­dor Ador­no: »Ästhe­ti­sche Theorie«