»Microcosm yourself«, © Maia Lyon-Daw
Wenn man die aktuellen Tendenzen in der Kunst aufmerksam beobachtet, spürt man eine gärende Aufbruchstimmung. Die Kunst legt langsam den Ernst des Konzeptionellen ab, wird offener und begeistert nicht nur öfter, sondern auch mehr Menschen. Diese Entwicklung mag zunächst nichtig und zufällig scheinen, ist doch aber tiefer verankert, als man vermuten mag. Denn dahinter steht ein Wandel in den ästhetischen Maximen, der erst seit wenigen Jahren auch in der Kunsttheorie proklamiert wird.
Von der Theorie zur Praxis (und eigentlich zunächst von der Praxis zur Theorie) ist es jedoch ein großer Schritt. Dieser scheint jedoch immer mehr Künstlern zu gelingen. Ob bewusst oder unbewusst, ist nachrangig, denn was in beiden Fällen beobachtbar wird, ist eine Hinwendung zur Leichtigkeit und unbefangenen, bewunderungswürdigen Schönheit. Zwar ist diese Entwicklung noch jung, doch schon jetzt spricht man ihr großes Zukunftspotential zu.
»Your split second house«, © Ólafur Elíasson
In den vergangenen Wochen und Monaten stieß ich vermehrt auf Arbeiten, die zwar wunderschön anzusehen waren, mit denen ich aber sonst nicht viel anzufangen wußte. Dann konnte ich häufig nicht mehr als Bewunderung aufbringen, doch jeder Versuch des Nachdenkens scheiterte augenblicklich. So manch einen Artikel habe ich schreiben wollen, doch fehlten mir die Worte, weil mir schlicht nicht mehr übrig blieb, als in poetischsten Tönen dem Zauber des einen oder anderen Werks gerecht werden zu wollen.
Der Grund hierfür ist mir nun klar. Wenn man es mit Jacques Rancière nimmt, dann liegt das daran, dass die Kunst sich von alten Aufgaben zu lösen hat. Seine Ausführungen sind zwar nur schwer in wenigen Worten korrekt und verständlich darzustellen, doch sein Kerngedanke besteht darin, dass die sinnliche Erfahrung von der Befehlsgewalt der hierarchischen Anordnung des voltaireschen Klassendualismus »Feingeist« und »Grobgeist« getrennt werden müsse. Dies erkennt er in Nietzsches Begrifflichkeit der apollinischen Statue, die über allem throne, weil ihre pure Schönheit in sich selbst geschlossen ist; die jedem Zugriff von Außen widersteht, keiner Interpretation, keinem Zweck untersteht, die keinem dient, selbst dem Künstler nicht. Als ich Rancières Essay las, wurde mir augenblicklich klar, daß der hier geschilderte Entwurf einer »Politik der Kunst und Poetik der Politik« bereits umgesetzt wird.
»Round rainbow«, © Ólafur Elíasson
Eine solche Erfahrung machte ich zuerst in Ólafur Elíassons viel gelobter Ausstellung »Innen Stadt Außen« im vergangenen Sommer. Was die meisten der hier ausgestellten Arbeiten auszeichnete, war, dass sich hier jedermann — gleich ob jung, ob alt, ob künstlerisch gebildet oder naiv — in einem einzigen heftigen Gefühl verbunden sah: Bewunderung über jene einzigartige Ästhetik.
So strahlten etwa Werke wie »Round rainbow« eine besondere Schönheit aus. Elíasson ließ hierzu in der Mitte des Raumes einen sich langsam drehenden Plexiglasring von der Decke hängen, der von einem hellen Spot beleuchtet wurde. Die Brechkraft des prismenähnlichen Ringes zauberte immer wieder neue Formen an die Wand, die sich stetig vergrößerten oder verkleinerten, über die Wände und die Decke wanderten um immer wieder neu zu verschmelzen.
»Your split second house«, © Ólafur Elíasson (via)
Aber auch »Your split second house« konnte begeistern. Hierzu prasselte in einem abgedunkelten Raum aus drei an der Decke befestigten Schläuchen Wasser auf den Boden. Die Schläuche drehten sich konform und dank eines installierten Stroboskoplichts ergaben sich so atemberaubende Eindrücke, die zusammen mit dem stetigen Plätschern eine einzigartige Atmosphäre erzeugte, die mich für lange Zeit in den Bann zog.
Auch die anderen Besucher waren wie verzaubert und genossen das Schauspiel um einiges länger, als sie es vermutlich von üblichen Ausstellungen gewohnt waren, wo dem einzelnen Werk kaum Zeit gewidmet wird. Hier ging es weder um Form, noch um Sujet, weder um eine Bedeutung noch um ein Konzept. Im Mittelpunkt stand allein die ungetrübte Schönheit des Werks. Insbesondere Kinder fanden ihren Gefallen an Elíassons Wasserspiel, tollten umher, lachten, ließen sich ganz von den wundersamen Lichtern einnehmen.
Vermutlich würde sich auch ein Landsmann Elíassons, Egill Sæbjörnsson, freuen, wenn Kinder seine jüngste Arbeit »Girodaff« mögen, die ich vor einigen Wochen bei Sassa Trülzsch sah. Dazu wird per Beamer ein kurzer Film auf eine Wand projeziert; man sieht die comic-hafte Zeichnung eines Mammut, das durch den Raum schwebt, auf Wolken reitet und erlegt wird, um schließlich von purple rain betrauert zu werden. Im Lichtkegel des Beamers dreht sich ein Mobile, an dem verschiedene Glaskörper, klare und rote, aufgehangen sind, die das Licht brechen und ähnlich wie in Elíassons »Round Rainbow« wundersame Lichtreflexe an die Wände werfen. Glockenspiel und Pauke begleiten das Ensemble, gelegentlich trötet das Mammut von seiner Wolke.
Man würde »Girodaff« nicht gerecht, versuchte man die narrative Komponente über die visuelle, das Projekt über die Projektion zu stellen. Was hat die Geschichte eines fliegenden Mammut mit den bizarren Lichtverzerrungen des Mobile zu tun? Zunächst einmal nicht viel, so mag man urteilen; beide Teile der Installation scheinen anfangs unabhängig voneinander zu sein. Erst später erkennt man, daß sie eine enge Symbiose eingehen, daß es die Lichtmalerei ist, die den Zauber der Geschichte maßgeblich befruchtet, aber auch erst dadurch entstehen kann, daß der zunächst unbeeinflusste Lichtstrahl auf das Mobile trifft.
So zeigt sich aber auch, daß die vermeintlich unvereinbaren Elemente der Installation eigentlich untrennbar zusammen gehören und sich als Folge ihrer gegenseitigen Förderung auf ein gemeinsames Ziel ausrichten, das nicht vorzugsweise in einem der beiden Teile begründet, sondern in einem Fixpunkt liegt, der über beiden steht. Egill Sæbjörnssons Arbeit konzentriert sich auf ihre eigene Schönheit und – darin liegt ihre Stärke – verzichtet dabei auf ein extrinsisch verankertes, ästhetisches Bezugs- und Urteilssystem, sie ist apollinisch im Rancièreschen Sinne, ist einer alleinig feingeistigen Sichtweise überlegen.
»Microcosm yourself«, © Maia Lyon-Daw
Als notwendige Folge (aber auch Voraussetzung?) der Abschaffung der Hierarchie zwischen Interpretation und Intention gegenüber der Sinnlichkeit sieht Rancière die Abschaffung der »Unterscheidung zwischen Menschen mit groben und Menschen mit feinen Sinnen, zwischen Menschen mit einer aktiven Intelligenz und Menschen mit einer passiven Sinnlichkeit«. Damit entleiht er viel bei Schiller und meint doch nichts anderes die Nivellierung der so übermächtig erscheinenden Dissonanz zwischen gebildeten und naiven Kunstbetrachtern. Seine eigene Schlussfolgerung, die im 18. Jahrhundert undenkbar gewesen wäre, transferiert diesen Gedanken in eine politische Dimension – oder, besser gesagt, lässt ihm eine politische Relevanz zukommen:
Indem die sinnliche Erfahrung über das feingeistige Urteil gestellt wird, einige die Kunst die Gemeinschaft der Betrachter und werde Teil derselben, lasse politische und künstlerische Formen eins werden. Dadurch gewinnt die Kunst eine ungeahnte Leichtigkeit, die jenseits der Begrifflichkeiten von hoher Kunst und Kitsch existiert. Beispielhaft gesprochen ist das im Grunde genommen nichts anderes als die vereinigende Wirkung der genannten Arbeiten, vor denen sich Betrachter gleich welcher Bildung, welcher Herkunft oder welchen Alters einfinden und in ihrer gemeinsamen Erfahrung eine Einheit bilden.
Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Nimmt man es mit Rancière, so führe diese Vereinigung in ihrer konsequenten Form zu einem Stillstand in der Kunst. Es brauche die unaufgelöste Spannung zwischen Politik und Kunst, damit künstlerische Entwicklung möglich wird. Dennoch, und das sollte heiter stimmen: So weit wird es ohnehin nicht kommen; doch auf dem Weg dahin ist noch viel Platz für Entwicklungen.
Weiterführende Literatur:
Jacques Rancière: »Ist Kunst widerständig?«
Friedrich Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«
Theodor Adorno: »Ästhetische Theorie«