»Ávextir«, © Ragnhildur Stefánsdóttir
Während meiner Reise nach Island besuchte ich auch das staatliche Museum für zeitgenössische Kunst, Listasafn Reykjavíkur – Hafnarhúsið, wo in einem unscheinbarem Teil des Gebäudes eine kleine, doch sehr gut kuratierte Ausstellung dem altbekannten Vanitas-Motiv nachging. Jedoch widmete sich die Schau entgegen möglicher Befürchtungen nicht Malerei aus längst vergangenen Zeiten, sondern suchte im Hier und Heute, d.h. in der zeitgenössischen isländischen Kunst nach Vanitas-Darstellungen, die eigentlich gar keine sein wollen. Denn Kurator Hafþór Yngvason trug dazu Arbeiten zusammen, die im Ausstellungskontext als solche angesehen werden können, außerhalb dessen jedoch eher anderen Genres zugerechnet würden.
In diesem Sinne zeigte die Ausstellung »Vanitas – Still-life in Contemporary Icelandic Art« auf, wie diese heute nur noch in historischer Rückschau betrachtete Kunstgattung auch heute noch in zeitgenössischen Werken anzutreffen ist, wenn auch in gänzlich anderer Form. Dadurch wird die zeitliche Einordnung des Vanitas-Motives hinterfragt und der Vergleich zwischen der Lebensart der heutigen Zeit und der Memento-Mori-Attitüde des Barock gewagt. Ob dieser Brückenschlag gerechtfertigt ist — mehr dazu nach der detaillierteren Betrachtung.
Dabei können die meisten der ausgestellten Werke als Stillleben gelten, wenn auch kaum im klassischen Sinne. Ragnhildur Stefánsdóttir greift in »Ávextir« (z.Dt. »Obst«) bewusst auf dieses Genre zurück, wenn sie dem Betrachter eine große Schale vorsetzt, die nicht etwa mit Früchten und Feldblumen, sondern mit menschlichen Organen gefüllt ist. Leber, Hirn, Gebärmutter, Darm – alles ist hier versammelt und hübsch komponiert.
Gänzlich vom Geiste getrennt, werden in »Ávextir« die Komponenten des vergänglichen Teils des Menschen nüchtern aufgezählt. Dieser menschlicher Leib, von seiner Hülle befreit und auf das Wichtigste reduziert, verliert dadurch seine Persönlichkeit und Identifizierbarkeit, wird also zu einem Prototypen abstrahiert. Diesem metaphysischen Ansatz mischt sich auch nicht zuletzt durch die Spot-Beleuchtung dieser gefüllten Opferschale eine transzendente Erfahrung der Hieromantie bei, wenn der Betrachter buchstäblich in den Eingeweiden lesen kann. Hierin stimmt also auch »Ávextir« mit der Vanitas-Tradition überein, wenn Stefánsdóttir den vagen Ausblick auf eine spirituelle Fortsetzung erlaubt.
»Corpus dulcis«, © Ólöf Nordal
Einen ähnlich optimistischen Unterton findet man auch in Ólöf Nordals Arbeit »Corpus dulcis«. Ursprünglich wurde diese Schokoladenskulptur für eine Ausstellung angefertigt, die während der Ostertage des Jahres 1998 stattfand. Die Besucher waren eingeladen, von der Skulptur zu essen – eine deutliche Anspielung auf den Eucharistiegedanken.
Die reichlichen Reste der damaligen Ausstellung waren hiermit zwölf Jahre später zu sehen und zeugten von der Vergänglichkeit des Werks als Teil seines Konzepts. In Anlehnung an die Eucharistie und die partizipative Natur des Rezipienten, der den Leib Christi bzw. im Falle von »Corpus dulcis« den Schokoladenleib in sich aufnahm, steht nicht nur die Metamorphose desjenigen von einer irdischen zu einer transzendenten Daseinsform, sondern auch der Übergang der einzelnen Person in eine übergeordnete Gruppe im Vordergrund.
Dieser zunächst zeitlose Gedanke erhält jedoch in »Corpus dulcis« erst durch die außergewöhnliche Form seine zeitgenössische Relevanz. Der Schokoladenkörper, der wohl mehr an einen Schoko-Osterhasen als eine Hostie erinnert, stellt die liturgische Würde des einen der konsumeristischen Kurzlebigkeit des anderen gegenüber und wagt dabei auch den Vergleich zwischen Tradition und modernem Schein-Brauchtum. Auf diese geschickte Weise überlässt es Ólöf Nordal dem Besucher, Partei zu ergreifen.
»Advanced
Home Economics«, © Áslaug Thorlacius
Konsumkritik findet sich in noch stärkerer Ausprägung bei Áslaug Thorlacius, die sich in »Advanced Home Economics« Verpackungsreste einer gewöhnlichen westeuropäischen Familie widmet. Sie bringt dabei säuberlich geordnete Flaschen, Kartons, Papier- und Plastikmüll mit Aquarellen von ungeordnetem Müll zusammen und konfrontiert sie miteinander. Thorlacius zeigt hier die Realität des Überflusses ohne jegliche Gefühlsregung und taucht dort das Chaos der Verschwendung in romantisierende Farben. Allerdings kehrt sie auch in ihrer Kritik am Konsum die zeitliche Folge beider Zustände heraus, wenn sie mit diesen Momentaufnahmen aufzeigt, daß die Vergänglichkeit des Gebrauchten zu einer Neuorientierung führt.
Die Ausstellung »Vanitas – Still-Life in Contemporary Icelandic Art« kommt – wie beispielhaft an den obigen Arbeiten ablesbar – zu dem Fazit, daß das Vanitas-Genre mal mehr, mal weniger im klassischen Sinne aufgespürt werden kann. Ragnhildur Stefánsdóttir oder etwa der ebenfalls ausgestellte Dieter Roth verweisen direkt oder indirekt auf die Vergänglichkeit des Menschen selbst, andere Künstler, wie Nordal kombinieren es mit zurückhaltender Konsumkritik, während das Gros der ausgestellten Arbeiten sich auf letztere konzentriert.
Nicht verwunderlich, schließlich dürfte der verschwenderische Lebensstil des Westens das am besten sichtbare Beispiel für ein modernes Vanitas-Motiv darstellen. Insofern ist der kuratorische Schwerpunkt der Ausstellung gerechtfertigt. Zudem bleibt nach dem Besuch der Schau mit ihren etwa 15 Arbeiten das Staunen nicht aus, dass ein so kleines Volk wie das der Isländer so viele Künstler hervorbringt, die sich mehr oder weniger bewusst diesem Thema widmeten. Es ist also die Frage erlaubt, zu welchem Ergebnis man käme, wenn man die amerikanische, britische oder deutsche Kunstszene systematisch dursuchte. Paul McCarthy, Damien Hirst und Hans Bellmer kämen mir jetzt schon in den Sinn…