The mob against the prosecution
Stand die isländische Krone im Oktober 2007 noch bei einem Wechselkurs von 85 für einen Euro, ist sie heute nur noch halb so viel wert. Die Arbeitslosigkeitsrate betrug im 2. Quartal 2010 neun gegenüber zwei Prozent im Dezember 2007, entsprechend sank auch die Stimmung über die Jahre in den Keller. Am 8. Dezember 2008 kam es nach langen, von der ganzen Gesellschaft getragenen, öffentlichen Protesten schließlich zur gewaltlosen Stürmung des isländischen Parlaments durch dreißig Demonstranten, woraufhin neun von ihnen festgenommen und von den Abgeordneten angezeigt wurden.
Die wahllos herausgepickten Angeklagten warten bis heute auf ihr Urteil, das harte Freiheitsstrafen wegen Störung der Parlamentsbetriebs beinhalten könnte. Unter ihnen befinden sich auch zwei Künstler, die die großen Namen in der isländischen Kunstszene um sich versammelt haben, um eine Soli-Ausstellung für die »Reykjavík 9« auf die Beine zu stellen: »The mob against the prosecution«.
Video von der Vernissage zu »The mob against the prosecution«
Politisch tagesaktuelle Kunst war mir aus Deutschland bisher fremd. In meinen Augen schien dieses Land nicht mehr als die manchmal feingeistigen Karikaturen in den großen Tageszeitungen hervorzubringen. Echte politische Kunst habe ich bisher vermisst. Die Isländer sind in diesem Punkt scheinbar ein wenig anders gestrickt, vielleicht liegt es auch nur an ihrer Krisensituation, von deren Ausmaß wir in Deutschland verschont blieben. Jedenfalls reagierte die isländische Kunstszene zügig auf den Prozessauftakt und setzte mit einer öffentlich viel beachteten Ausstellung im Living Art Museum (Nýló), der Instanz für isländische Gegenwartskunst, ein weithin sichtbares Zeichen.
Das Who ist Who der dortigen Kunstszene, insgesamt 23 Künstler, erstellte zu diesem Anlass Arbeiten und sprach damit seine Solidarität mit den neun Angeklagten aus. Anderthalb Monate lang wurden die Werke ausgestellt, fanden Performances und Diskussionsrunden zum Thema statt. Die Ausstellung fand in den Medien große Beachtung und es bleibt abzuwarten, ob sie ihren Zweck erreichen wird.
The mob against the prosecution
Als ich einige Tage vor Ende der Ausstellung das Nýló besuchte, waren die Werke bereits in einen Nebenraum umgezogen. Dort formten sie einen überaus verdichteten Haufen aus Kunst, scheinbarem Müll, Europaletten und Absperrband unter punktueller Spotbeleuchtung, sodass es anfangs schwer fiel, die vielen Eindrücke einzuordnen, die dieses chaotische Konglomerat bot. In diversen Winkeln rangen Videoinstallationen um Beachtung und zwischen all dem Müll versteckten sich die Werke, die zuvor noch an den Museumswänden hingen.
Doch das Chaos hatte System. Was sich da abspielte, war ein lautes politisches Aufbegehren: Hier wurde die dystopische Vision des Überwachungsstaates heraufbeschworen, dort der aussichtslose Kampf gegen die Obrigkeit geführt und anderswo die Absurdität und Banalität kleinlicher Rechthaberei karikiert. Alles hübsch eingebettet in den Alltagsmüll, der in einer Krisensituation wie dieser anfällt: zerknüllte »Inspired-by-Iceland«-Plakate als Zeichen des hoffnungsvollen Vertrauens auf die Einnahmequelle des Tourismus, alte, überschüssige Baumaterialien als Mahnmal für den durch die Krise zerstörten Bauboom sowie Paletten und Verpackungsmaterial als Symbol für den durch das Außenhandelsdefizit nachhaltig geschwächten Exportsektor.
The mob against the prosecution (»Paradísarmissir«: »Das verlorene Paradies«)
Hier häuft sich an, was einst die isländische Wirtschaft vorantrieb, Überreste einer einst so schillernd aufsteigenden Ökonomie. Dazwischen und mitunter nicht leicht zu erspähen, braut sich der Protest zusammen. Subversiv, doch lautstark dringen diese Stimmen aus den Trümmern hervor und formieren sich zu einer Kraft, die ihre Forderungen selbstbewusst vorträgt: Entmachtung der Verantwortlichen, Schutz der bürgerlichen Interessen, Solidarität mit den neun Angeklagten.
Als auf meiner Reise durchs Hochland der Überlandbus wegen eines Motorschadens im Niemandsland liegen blieb, erzählte mir der Busfahrer viel darüber, wie die Isländer die nun schon seit Jahren andauernde Krisensituation erleben. Er schilderte mir die bezeichnende Anekdote vom Bauprojekt »Höfðatorg«, einem 72m hohen, gläsernen Büroturm im Zentrum Reykjavíks. Während des großen Baubooms errichtet, trieb die Krise die Eigentümer in den Ruin. Bis heute bleibt das Gebäude ungenutzt und leer und erinnert, wie er mir sagte, immer wenn die Sonne durch die Glasfassaden scheint, an den schnellen Aufstieg und Fall der isländischen Wirtschaft.
Aus seinen Ausführungen und Beispielen wurde klar, dass die Isländer ihre derzeitige Lage mit viel Schmerz hinnehmen müssen. Sarkasmus und Galgenhumor trösten kurz über die allgemeine Verbitterung hinweg, Zusammenhalt und die Besinnung auf alte Werte fokussieren auf das Licht am Ende des Tunnels.
Die Isländer machen eine schwere Zeit durch. Ein Volk, das sich seit jeher durch seine Einigkeit auszeichnet, steht nun geschlossen hinter den Forderungen der Demonstranten, die einst beinahe täglich auf dem Austurvöllur, dem Vorplatz des Parlaments, gegen die gescheiterte Wirtschaftspolitik auftraten. Dass ein wahllos herausgegriffener Teil jener Leute nun hohe Freiheitsstrafen für ein Vergehen erwarten muss, das in den Augen der meisten Isländer nur dem Bürgerrecht, jederzeit Zutritt zum Parlament zu erhalten, entspricht, erzeugte freilich weitere Proteste.
Beeindruckend war für mich jedoch, dass diese Solidaritätsbewegung auch in Windeseile die Kunst erfasst hatte. Politische Kunst war mir aus Berlin bisher nicht bekannt. Für die Isländer scheint Kunst vielleicht mehr als hier als Meinungsinstrument zu dienen, das im Gegensatz zu den etablierten Medien einen anderen, vielleicht volksnäheren Kanal öffnet. Interessanterweise sollte sich dieser Eindruck in einem weiteren Projekt des Nýló bestätigen: »Old news« — dazu später mehr.