Die Erschaffung Adams von Michelangelo: Beispiel eines brisanten Paradigmenwechsels
Vergleicht man zwei Gemälde gleichen Motivs — etwa der Erschaffung Adams — aus dem 12. und dem 16. Jahrhundert, so wird auch auffallen, dass ersterem im Gegensatz zum letzteren eine perspektivische Ordnung fehlt, die dem natürlichen Sinneseindruck entspricht. Es wirkt platt, zweidimensional, starr und konzertiert, wogegen spätere Malerei natürlicher und energetischer wirkt — siehe dazu die obige Darstellung von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle.
Der Grund hierfür liegt in der Wahl der Perspektive. Denn bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts war real-perspektivische Malerei, wie wir sie kennen, in Vergessenheit geraten, erst 1413 legte Filippo Brunelleschi den Grundstein für eine Revolution, die nicht nur die Kunst, sondern auch die damalige Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert haben muss. Denn was hier geschah, war für die einen wohl üble Gotteslästerung, für die anderen jedoch eine bahnbrechende Innovation auf dem Weg hin zu einem realitätsorientierten, nachahmendem Kunstverständnis.
Kathedrale von Monreale: Mosaik der Erschaffung Adams
Doch zunächst muss die Frage geklärt werden, was das althergebrachte Prinzip für die perspektivische Darstellung vorsah. Als Beispiel soll ein Mosaik aus der Kathedrale von Monreale, Sizilien dienen. Zwischen 1172 und 1178 erbaut, wurde in den folgenden Jahren von einigen, mir namentlich nicht bekannten Künstlern die Innengestaltung vorgenommen. Unter den mehr als einhundert Motiven befindet sich auch eines, das die Erschaffung Adams zeigt.
Auf den ersten Blick erkennt man den byzantinischen Stil, der seinerzeit Sizilien noch prägte und so auch das Programm für die Kathedrale von Monreale vorgibt. Darin inbegriffen ist auch die perspektivische Anordnung der Bildelemente: Das Mosaik ist in einer dreigeteilten kulissenhaften Anordnung unterworfen. Im Bildvordergrund befinden sich Gott und Adam, die hier einander gegenübersitzen und den inhaltlichen Mittelpunkt des Motivs ausmachen. Der Bildmittelgrund steht auch in seiner Bedeutsamkeit hinter den beiden Figuren, hier wird eine Landschaft vorgegeben sowie auf die Erschaffung der landbewohnenden Tiere verwiesen, die ebenfalls am fünften Tagewerk stattfand (1. Mose 1:23ff).
Der letzte und unbedeutendste Teil der Kulisse ist wie damals üblich einfarbig ausgeführt und stellt einen rein formalen Bildhintergrund dar, der zudem Träger für das erläuternde Bibelzitat ist. Doch auch innerhalb der Bildteile lässt sich eine Gewichtung nach der Bedeutung feststellen: Im Mittelgrund dominieren die Landlebewesen größenmäßig gegenüber dem Wald und der restlichen Landschaft, im Vordergrund ist Gott größer dargestellt als Adam, welche wiederum beide gegenüber den Tieren hervorgehoben sind. Ferner erscheinen die Figuren platt, weil keine Tiefenverkürzung ausgeführt wurde, was eine gewisse, wenn auch begrenzte Ähnlichkeit zu altägyptischen Darstellungen erzeugt.
Der hier geltende Maßstab bezieht sich also rein auf die Bedeutsamkeit der Bildelemente, die vor allen Dingen aus der Relevanz für die Handlung und viel mehr aus der Figurenhierarchie abgeleitet werden. Gott wird folglich am größten dargestellt. Den damaligen Künstlern kam es nicht auf perspektivische »Richtigkeit« an, wie wir sie einem physikalischen Verständnis zufolge empfinden. Ganz im Gegenteil, sie fanden zu der sog. Bedeutungsperspektive zurück.
Unter dieser Prämisse gilt auch ein gänzlich anderes Kompositionskonzept: Einzelne Bildelemente werden diagrammatisch, allein ihres symbolischen Stellenwertes zufolge angeordnet. Die Komposition stützt sich auf die Aneinanderreihung attributiver Elemente, die nur in ihrer Gänze auf das Bildmotiv schließen lassen. Gesichter verschiedener Figuren etwa werden kaum unterschiedlich ausgeführt, erst durch beigefügte Attribute oder Beschriftungen wird klar, um wen es sich im Einzelnen handelt. Beziehungen entstehen in einer solchen zweidimensionalen Räumlichkeit also lediglich durch Nähe oder Distanz.
Mit Filippo Brunelleschi kam dann im Jahre 1413 alles anders. Brunelleschi, seines Zeichen Architekt, beobachtete den Florentinischen Dom in einem Spiegel und zeichnete die perspektivischen Linien der Verkürzung ein: die Zentralperspektive war erfunden worden. Sie ermöglichte, erzwang sogar einige bahnbrechende Neuerungen: Durch eine klare Bewegung, deren Richtung durch den Flucht- und den Betrachterstandpunkt vorgegeben ist, wird ein ganz neues Kompositionsprinzip nötig.
Erst die perspektivische Verkürzung ermöglichte die Einführung der Dimension der Zeit. Waren ältere Malereien noch durch ein zeitloses Nebeneinander der einzelnen Bildelemente gekennzeichnet und damit unerreichbar und rein deskriptiv, ermöglichte es nun die Zentralperspektive, Bewegungen, Entwicklungen und sogar Kausalitäten abzubilden. Mehr noch, verschiedenste Wirkungsbeziehungen, auch rückwärtige, konnten nun eingeführt werden — ältere Malerei erlaubte lediglich eine ausschließlich lineare Narration.
Es kommt also zu einer einer Einordnung in zeitliche Dimensionen, die sich direkt aus der Erreichbarkeit durch den Betrachter ergeben: Entfernte Gegenstände sind schwerer zu erreichen als nahe, d.h. der Betrachter wie auch die Bildfiguren müssen mehr Zeit aufwenden, um mit ihnen in Kontakt zu treten — der Betrachter wird erstmals in das Geschehen mit einbezogen.
Die zentralperspektivische Malerei ist betrachterzentriert, nicht wie zuvor interpretationserhaben und betrachterunabhängig.
Hartmann Schedel: Nürnberger Chronik, Erschaffung Adams (Wolgemut-Werkstatt)
Dennoch trennte man sich anfänglich nicht von den althergebrachten Kompositionsprinzipien. Hartmann Schedels »Nürnberger Chronik« erschien 1493 und enthielt neben 1803 anderen Abbildungen auch einen Holzschnitt von der Erschaffung Adams. Man kann bereits einen — aus unserer Sicht — zaghaften, für damalige Verhältnisse wohl aber mutigen Gebrauch der neuen perspektivischen Gesetze erkennen. Der unbekannte Künstler aus der Wolgemut-Werkstatt wählte für den Hintergrund die fruchtbare Landschaft des Garten Edens und und zeigte ebenso wie im Beispiel zuvor einige exemplarische Tiere, die auf das gesamte Tagewerk verweisen.
Zwar werden hier die Bildelemente verkürzt dargestellt und wirken plastischer als etwa das Mosaik aus Monreale, auch die Landschaft wird nicht zuletzt durch den Pfad bis zu einem gewissen Grad den neuen perspektivischen Prinzipien unterworfen. Dennoch wirkt der Holzschnitt nicht authentisch. Es lässt sich nicht abschätzen, wie die Bildelemente genau zu einander in Beziehung stehen. Man kann zwar erkennen, dass sich der Hirsch weiter vom Betrachter entfernt befindet als der Wolf, doch lässt sich der Abstand nicht einschätzen. Auch die Proportionen erinnern doch noch stark an ältere Darstellungen. Gott ist auch hier größer dargestellt als Adam, die alte Hierarchie ist hier noch gewahrt.
Michelangelo: Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle, Erschaffung Adams
Mit der Zeit wurde der Anspruch, eine naturgetreue Perspektive zu wählen, immer größer. Schon bald konnten die realen Verhältnisse dank physikalischem Wissen täuschend echt nachgeahmt werden, atemberaubende Ansichten aus allen erdenklichen Richtungen wurden für manch einen Künstler zur Kür. Doch diese Annäherung an die Naturwissenschaften hatte auch Folgen für die Kunst.
Vergleicht man etwa Michelangelos Version der »Erschaffung Adams« von 1511, Teil des Deckengemäldes der Sixtinischen Kapelle, mit den vorherigen Beispielen, so fällt jene Naturtreue auf. Die Tiefenwirkung wird gänzlich durch die Verkürzung der Figuren und die Lichtverhältnisse bewirkt, eine Landschaft braucht es zu diesem Zweck nicht mehr. Ganz im Gegenteil, obwohl der Hintergrund kaum ausgeführt ist, steht die Plastizität und Räumlichkeit des Motivs außer Frage. Die Figuren können ohne ablenkenden Hintergrund für sich wirken und die Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Die Proportionen sind wohlgeformt, kein Bildelement dominiert über ein anderes. Gott und Adam werden kompositorisch weiterhin gegenübergestellt, jedoch gibt es hier keinen Größenunterschied mehr. Und da liegt wohl die gewaltigste Konsequenz aus der Einführung der Zentralperspektive:
Mit der Entscheidung für eine naturwissenschaftlich korrekte Lösung wurde gleichzeitig eine Entscheidung gegen eine kirchliches Dogma gefällt. Gottes Souveränität wurde dem Primat der Wissenschaft geopfert. Die göttliche Größe wird nun nicht mehr durch motivische Größe verbildlicht, Gott wird fortan den Sterblichen gleichgestellt.
Die Reaktion der Kirche muss gewaltig gewesen sein: Viele mögen Blasphemie gewittert haben, möglicherweise wurden einige Künstler verfolgt. Leider konnte ich zu diesem Punkt keine Quellen finden. Doch die Umstände liegen auf der Hand: Der neu aufgekeimte Humanismus, der den Blick auf das Individuum richtete, konnte nicht die unumstrittene Vorherrschaft der Kirche bestätigen. Das Individuum war fortan der Mittelpunkt der Kunst, Gesichter wurden fortan ausgeführt, Adlige ließen sich von Künstlern für die Ewigkeit malen.
Aber auch dem Betrachter kam eine nicht weniger wichtige Rolle zu: Wie schon oben ausgeführt ist die zentralperspektivische Malerei betrachterzentriert, also ebenfalls ein notwendiger Teil eines humanistisch geprägten Kunstverständnisses. Dadurch wurde die Möglichkeit geschaffen, die Kunst nicht etwa als Außenstehender kommentarlos hinzunehmen, der Betrachter konnte von nun an seine eigene Meinung bilden. Die fiel sicherlich in aller Regel immer noch zugunsten der Kirche und der Religion aus, doch allein die Möglichkeit des freigeistlichen Denkens dürfte wohl eine bahnbrechende Neuigkeit gewesen sein.
Und das alles nur wegen der Entdeckung eines italienischen Architekten.
Seit einigen Wochen bin ich Gasthörer einer Kunstgeschichtsvorlesung über Deckenmalerei, die mich nicht nur begeistert, sondern auch zum Nachdenken anregt. So fiel mir auch bei einem Gemälde von Tintoretto auf, welche Wirkung die darin gewählte Perspektive auf die Menschen gehabt haben muss: Der Betrachter fühlt sich durch die gewählten Proportionen als Teil des Geschehens.
Und so kam es auch zu den Überlegungen hinter diesem Artikel. Ich konnte zwar dafür keine Belege aus kunstwissenschaftlichen Quellen finden, bin aber dennoch von diesem Thema hellauf begeistert!
P.S.: Ich fand kürzlich eine interessante Abhandlung zu diesem Thema, die eine ausführlichere und wissenschaftlichere Annäherung wagt. Sehr gut geschrieben und auch für Laien verständlich — eine Empfehlung an alle Interessierte!
noch ein paar vorlesungen und du wechselst zur kunstgeschichte…
eines der unendlich vielen spannenden Themen haste ja gerade entdeckt.
Achja, man könnte jetzt auch noch was drüber schreiben, warum man sich in der moderne wieder hin zur »bedeutungsperspektive« wendet und welche perspektiven wir in der heutigen kunst festmachen können. aber das sprengt den rahmen. spannendes thema. immer wieder. Raum, Zeit, Bwegung.
<3
Hm da könnte man vielleicht Worringers Theorie über Abstraktion und Einfühlung als Reaktionen auf politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen anführen, was ja mal Thema einer Ausstellung in der deutschen Guggenheim war.
Was die Vorlesungen angeht: Wenn du irgendwann mal die Uni vermissen solltest, steht das Angebot noch — Donnerstag Nachmittag bin ich immer in besagter Vorlesung!