»Jettison« (wie man es im Internet sieht), © Anthony Goicolea
Kunst im Internet hat einen entscheidenden Nachteil: Trotz der schnellen Verfügbarkeit einer Unzahl von Werken von einer Myriade Künstlern aus allen vier Enden der Welt ist doch nie gesichert, dass die Rezeption all dieser Werke im Internet, auf Abbildungen in Zeitschriften, Büchern und Katalogen dieselbe ist wie die in der Galerie, wenn man Angesicht zu Angesicht mit dem Kunstwerk in Kontakt tritt.
Das Ausmaß dieser Diskrepanz ist unberechenbar. Sowohl das eine Extrem, dass das Werk in natura energiegeladener, geheimnisvoller, einnehmender — kurz: eindrucksvoller — daher kommt, als auch das konträre Extrem, nämlich dass das Gegenübertreten in der Galerie zu einer unerwarteten Enttäuschung wird, sind alles andere als selten anzutreffen. Wenn man einem Kunstwerk eine Aura zuschreiben möchte, dann ist das wohl der Punkt, auf dem man seine Argumentation stützen würde. Denn diese Aura, sofern sie tatsächlich fassbar ist, geht auf bloßen Abbildungen verloren.
Gombrich schreibt darüber, ebbe sieht ebenfalls diesen Knackpunkt und auch ich bin mir dieses Problems bewusst. Ich schreibe hier viel über Rauminstallationen und oftmals auch über Künstler, deren Werke ich (noch) nicht in Galerien oder Museen gesehen habe. Dass dabei Imagination und kognitives Lückenausbessern eine Rolle spielen, liegt in der Natur der Sache, doch in der letzten Zeit war ich wieder überrascht, wie stark sich ein Eindruck wandeln kann, wenn man ein Kunstwerk das erste Mal in natura sieht.
Es geht um Anthony Goicoleas Arbeiten, die in seiner aktuellen Ausstellung »DECEMBERMAY« bei ScheiblerMitte zu sehen sind und über die ich ja bereits voller Begeisterung schrieb. Vor Ort stellten sich die Dinge dann doch anders dar…
Anthony Goicolea: »Jettison« (Detailaufnahme)
Um mich selbst zu zitieren:
Bereits die wenigen Informationen, die sich zu „DECEMBERMAY“ finden ließen, haben mich vollends begeistert – ich bin mir sicher, dass die Werke in der Galerie noch einmal viel eindrücklicher wirken. So kann ich an die Ausstellung, auch ohne die Arbeiten mit eigenen Augen gesehen zu haben, uneingeschränkt empfehlen und werde sicherlich noch einmal später darüber berichten.
Zumindest den ersten Satz möchte ich relativieren, von einem Mehr an Eindrücklichkeit war nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil, so wie im Internet gesehen, begeisterten mich die Arbeiten mehr als in der Galerie. Aber eins nach dem anderen.
Anthony Goicolea: »Jettison« (Detailaufnahme)
Anthony Goicoleas »Jettison« etwa ist ein gutes Beispiel dafür, dass man auf Abbildungen im Internet, in Büchern etc. gern Details übersieht, die für die Rezeption des Werks essentiell sind. Denn im Gegensatz zur Abbildung zu Beginn dieses Artikels sieht man erst in einem größeren Format, dass die Mauersteine nicht etwa schwimmen, sondern von Tauchern gehalten werden.
Steht man erst einmal vor dem Original, springen die vielen Hände und Taucherbrillen förmlich ins Auge. Sie sind so offensichtlich, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass Goicolea es tatsächlich gewollt hat, dass sie dem Betrachter auffallen. Sah ich in »Jettison« zuvor einen melancholischen Grundton, wurde dieser Eindruck vor Ort schnell verworfen. Und so blieb ich der Fotografie gegenüber indifferent.
»Black House«, © Anthony Goicolea
Schade eigentlich, denn selbst Ablehnung wäre mir lieber gewesen als Unbeteiligtheit. Ähnlich verhielt es sich auch mit »Black House«, das sich vor Ort als mehr oder minder gut gemachte Fotomontage entpuppte und damit für mich jeden Zauber verlor. Sieht es auf den ersten Blick nach einem Tross Wölfen oder Huskies aus, die über einen Friedhof ziehen, erkennt man doch schnell hier und dort die Zügel des Schlittenführers und manche perspektivische Ungereimtheit.
Hier allerdings muss man sich fragen, ob Goicolea solche Details bewusst in »Black House« eingebracht hat oder nicht. Je nachdem kommt man wohl zu einem anderen Urteil über die Arbeit oder sogar über die Klasse des Künstlers. Anhand der Abbildung, wie man sie im Internet findet, wären diese Details dagegen gar nicht erst aufgefallen und hätten diese Fragestellung gar nicht erst ermöglicht.
Diese beiden Beispiele stehen exemplarisch für weitere Exponate der Ausstellung und viele andere Werke anderer Künstler, deren Rezeption in der Galerie sich von der anhand einer Abbildung unterscheiden, weil dem Kunstwerk inhärente, objektive Merkmale erst in einer größeren Ansicht zugänglich werden. Eine größere Abbildung im Internet, Magazin, Katalog etc. kann diese Diskrepanz u.U. aufheben.
Monica Bonvicini: »Light me black«
Davon zu unterscheiden ist jene Konstellation, in der das Werk vor Ort nicht wegen objektiver, sichtbarer Merkmale einen anderen Eindruck hinterlässt, sondern weil ihm eine gewisse Aura innewohnt — oder auch nicht -, die aus einer bloßen Abbildung nicht hervorgeht. Die Gründe hierfür sind nicht immer leicht zu erkennen, im einfachsten Falle ist es das bloße Format, das den Unterschied ausmacht.
Bei Sound- und Videoinstallationen kann man auch schnell die Akustik des Raumes als entscheidende Ursache für eine solche Diskrepanz identifizieren und bei Rauminstallationen spielen ohnehin allerlei Faktoren eine Rolle: Größe, Beleuchtung, Farblichkeit, Grundriss, Temperatur, Klangbild des Raumes sowie Sichtachsen und vieles mehr können freilich erst vor Ort ihre Wirkung entfalten und kommen auf bloßen Abbildungen nicht oder nur teilweise zur Geltung.
Ein Beispiel dafür ist auch die Lichtinstallation »Light me black« von Monica Bonvicini, die ich zum Gallery Weekend bei Max Hetzler sah. Hatte ich auf dem Weg in den Wedding noch gemischte Gefühle, schließlich empfand ich Neoninstallationen bisher als platt und einseitig, wurde ich vor Ort eines Besseren belehrt.
»Light me black« fügte sich hervorragend in den Galerieraum ein, schwebte über dem kalten Betonboden, sandte ein geheimnisvolles, warmes Licht aus, tauchte sein Umfeld in ein schummriges Licht und zog mich die ganze Zeit über in den Bann. Gleich, ob ich davor stand oder der Installation auf einer längeren Sichtachse begegnete: Sie verströmte eine Aura, die auf den Fotos, die ich zuvor von der Installation sah, nicht zu erahnen war.
Walton Ford: The Sensorium
Natürlich können die Dinge auch einen gegenteiligen Lauf nehmen. So freute ich mich schon seit längerem auf die energetischen, dramatischen Fabelbilder des Walton Ford — zumindest war das die Erwartung, die ich durch das Pressematerial und die umgreifende Werbung gewann. Als ich dann aber den oftmals großformatigen Bildern gegenüberstand, war davon nicht viel zu spüren. Fords Arbeiten wirkten wie einfache Illustrationen zu Anekdoten und Tagebucheinträgen, die man an Ort und Stelle nachlesen konnte.
Da war nichts von einem Zauber, einer Aura oder wenigstens dem Gefühl, dass diese Bilder mehr zu sagen hätten als eine Illustration, wie man sie in jedem Lexikon findet. Und das hatte nichts mit der Stilistik zu tun. Walton Ford stellte zwar den oftmals verhängnisvollen Erstkontakt des Menschen zu exotischen Arten dar und bettete es in eine Fabel auf die moralischen Abgründe des Menschen ein, doch war da nichts, was mich berührte, erfasste oder wenigstens Abscheu und Ekel erregte. Indifferenz war auch hier das Stichwort und so war es schade, wieder einmal einem Eindruck aufgesessen zu sein, der sich in natura nicht bestätigte.
Doch welche Konsequenz zieht man aus dieser Beobachtung? Wie kann man dem Problem entgegnen?
Ich kenne keine brauchbare Antwort. Bezogen auf dieses und andere Kunstblogs liegt der Knackpunkt ja nicht nur auf der Leserseite. Natürlich kann sich der Leser anhand eines Artikels keinen Eindruck verschaffen, der sich bei einem Galerienbesuch notwendigerweise bestätigt. Aber wie sieht es um seine Rezeption der Kunst aus, wenn auch der Autor nur einen Eindruck wiedergibt, den er durch eine Abbildung gewonnen hat?
Wie schon eingangs erwähnt schreibe ich hier auch über Kunstwerke, die ich noch nicht in natura gesehen habe. Da ich auch weiterhin über Kunst schreiben will, die nicht in einer aktuellen Ausstellung in Berlin zu sehen ist, ergibt sich schnell ein Dilemma. Man könnte sich damit zufrieden geben, dass die wenigsten Leser Ausstellungen in Fernost besuchen, aber das kann nicht mein Anspruch sein.
Ich werde sehen müssen, wie ich für mich eine Lösung für dieses Problem finde. Für Hinweise und Ratschläge bin ich in jedem Fall dankbar.