Jenseits der Imagination

31. Mai 2010 von Matthias Planitzer
"Neutrinos trap stirring up cosmic dust", © Mariusz Sołtysik Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er mit seiner Umwelt interagiert. Mithilfe von Motorik und Kommunikation kann er Impulse setzen und gestalterisch wirksam werden, durch seine Sinne kann er den Zustand seiner Umwelt in mehreren Qualitäten erfassen. Und doch bleibt ihm vieles verborgen. Ich schrieb schon einmal über die Grenzen der Wahrnehmung und sprach dabei essentielle physikalische Größen wie Temperatur und Zeit an, die wir nur mit Hilfsmitteln adäquat messen können. Beschäftigt sich der vorgestellte Künstler John Baldessari mit physikalischen Größen, also abstrahierten, mitunter unanschaulichen Dingen, stolperte ich kürzlich über einen Künstler, der sich eindrücklicheren Dimensionen des Unvermögens menschlicher Wahrnehmung widmet. - Es geht um Neutrinos und die unvorstellbare Situation, sekündlich von Billiarden Teilchen durchlöchert zu werden. Denn Imagination beginnt dort, wo Wahrnehmung aufhört.

Mariusz Sołtysik: Neutrino trap stirring up cosmic dust»Neu­tri­nos trap stir­ring up cos­mic dust«, © Mari­usz Sołtysik

Der Mensch zeich­net sich dadurch aus, dass er mit sei­ner Umwelt inter­agiert. Mit­hil­fe von Moto­rik und Kom­mu­ni­ka­ti­on kann er Impul­se set­zen und gestal­te­risch wirk­sam wer­den, durch sei­ne Sin­ne kann er den Zustand sei­ner Umwelt in meh­re­ren Qua­li­tä­ten erfas­sen. Und doch bleibt ihm vie­les ver­bor­gen. Ich schrieb schon ein­mal über die Gren­zen der Wahr­neh­mung und sprach dabei essen­ti­el­le phy­si­ka­li­sche Grö­ßen wie Tem­pe­ra­tur und Zeit an, die wir nur mit Hilfs­mit­teln adäquat mes­sen können.

Beschäf­tigt sich der vor­ge­stell­te Künst­ler John Bal­dessa­ri mit phy­si­ka­li­schen Grö­ßen, also abs­tra­hier­ten, mit­un­ter unan­schau­li­chen Din­gen, stol­per­te ich kürz­lich über einen Künst­ler, der sich ein­drück­li­che­ren Dimen­sio­nen des Unver­mö­gens mensch­li­cher Wahr­neh­mung wid­met. — Es geht um Neu­tri­nos und die unvor­stell­ba­re Situa­ti­on, sekünd­lich von Bil­li­ar­den Teil­chen durch­lö­chert zu wer­den. Denn Ima­gi­na­ti­on beginnt dort, wo Wahr­neh­mung aufhört.

Ein Neu­tri­no: Was ist das über­haupt? Kurz gesagt, Neu­tri­nos sind Teil­chen, die die Eigen­schaft haben, mit nichts in Wech­sel­wir­kung zu tre­ten. Da Neu­tri­nos bei Kern­fu­sio­nen ent­ste­hen und unse­re Son­ne ein rie­si­ger Kern­re­ak­tor ist, wird jeder Qua­drat­zen­ti­mer auf der Erde mit 60 Mil­li­ar­den Neu­tri­nos pro Sekun­de befeu­ert. Und wir bekom­men nichts davon mit. Wie auch? Neu­tri­nos flie­gen durch den Welt­raum und hin­ter­las­sen kei­ne Spu­ren, sind daher für uns nicht zu spü­ren und nur mit hoch­emp­find­li­chen Mess­ge­rä­ten und viel Geduld mess­bar. (Der inter­es­sier­te Leser sei an die­ser Stel­le an Prof. Harald Lesch wei­ter­emp­foh­len. In dop­pel­ter Aus­füh­rung.)

Mariusz Sołtysik: Neutrinos trap stirring up cosmic dust»Neu­tri­nos trap stir­ring up cos­mic dust«, © Mari­usz Sołtysik

Und dann kommt da ein Mari­usz Soł­ty­sik und ver­mit­telt uns einen Ein­druck die­ses unfass­ba­ren Bom­bar­de­ments. Mit ein­fachs­ten Mit­teln, näm­lich etwas Staub und Licht, erschafft er sei­ne eige­ne Neu­tri­no­fal­le in »Neu­tri­nos trap stir­ring up cos­mic dust« und ver­sinn­bild­licht so die­ses unge­heu­er­li­che Gesche­hen, das jen­seits unse­rer Ima­gi­na­ti­on unauf­hör­lich vor sich geht.

Da lie­gen sie wie vom Him­mel geschos­sen, die­se alles durch­drin­gen­den Teil­chen, klei­ne, bläu­li­che Staub­kör­ner, ein­ge­fan­gen von der undurch­dring­ba­ren Neu­tri­no­fal­le, dem Gale­rie­bo­den des Patio Art Cen­ters in Łódź. Ein Licht­strahl weist den Weg zur Quel­le, zur Son­ne, und illu­mi­niert das, was erst durch sie erschaf­fen wur­de: Die­se wun­der­ba­ren Geis­ter­teil­chen, die kein Auge je sehen könn­te, lie­gen dort glit­zernd und jeder­zeit greif­bar vor uns. So wie das Fun­keln in der Pfan­ne des Gold­wä­schers, mit der er das kost­ba­re Ele­ment aus dem Fluss fängt, so strah­len auch die­se Neu­tri­nos, die Soł­ty­sik für uns ein­ge­fan­gen und aus­ge­brei­tet hat.

Das Wun­der ist greif­bar gewor­den: Ein Teil­chen, das für die Astro­phy­sik und Quan­ten­me­cha­nik — sprich: den Gip­fel unse­rer Wis­sen­schaft — von so gro­ßer Bedeu­tung ist, das sich zudem ganz unse­rer Wahr­neh­mung ent­zieht und gera­de dadurch eine geis­ter­haf­te Aura inne­hat, wird auf ein­mal sicht­bar und erscheint als wun­der­schö­ner Ster­nen­staub, der vor Jahr­mil­lio­nen von Super­no­vae in fer­nen Gala­xien aus­ge­sto­ßen wurde.

Gianni Colombo: Spazio Elastico»Spa­zio Ela­s­ti­co«, © Gian­ni Colombo

Ein ähn­lich unglaub­li­ches Kon­zept wie das der Neu­tri­nos ist wohl die All­ge­mei­ne Rela­ti­vi­täts­theo­rie, wel­che ins­be­son­de­re in jenem Punkt eine kaum vor­stell­ba­re Beschrei­bung lie­fert, die die Krüm­mung der Raum­zeit durch Ener­gie zum Inhalt hat. Aufs Wesent­li­che her­un­ter­ge­bro­chen bedeu­tet das, dass gro­ße Ener­gie­an­samm­lun­gen wie etwa mas­se­rei­che Kör­per den Raum und auch die Zeit in einem gewis­sen Feld krüm­men und dadurch Objek­te, die sich in die­sem Feld befin­den, zu einer Beschleu­ni­gung in Rich­tung des ener­gie­rei­chen Kör­pers bewir­ken. Wir nen­nen das dann Gra­vi­ta­ti­on und zeich­nen hüb­sche Dia­gram­me, um es irgend anschau­lich dar­stel­len zu können.

Unbe­strit­ten bleibt jedoch, dass auch sol­che Erklä­run­gen kaum zu einem ech­ten Ver­ständ­nis bei­tra­gen kön­nen. Der Mensch ver­fügt über ein aus­ge­präg­tes und fein­füh­li­ges Raum- und Lage­emp­fin­den, was sowohl den medi­zi­ni­schen Bereich als auch die emo­tio­na­le Bewer­tung von Räu­men angeht. Und doch kön­nen wir die pos­tu­lier­te Raum­krüm­mung nicht wahr­neh­men, obgleich sie ein inte­gra­ler Bestand­teil der Welt um uns her­um ist.

Da kommt Gian­ni Colom­bo ins Spiel, der zu den wich­tigs­ten Künst­lern gehört, die Räum­lich­keit und ihre Wahr­neh­mung the­ma­ti­sie­ren und direkt am Betrach­ter durch Mani­pu­la­ti­on in ein ein­drück­li­ches Wech­sel­spiel zu ver­wi­ckeln. Eines sei­ner bekann­tes­ten Wer­ke ist das »Spa­zio Ela­s­ti­co«, der elas­ti­sche Raum: Colom­bo durch­spann­te hier­zu einen Raum mit wei­ßen Gum­mi­bän­dern, die ähn­lich einem Koor­di­na­ten­sys­tem regel­mä­ßig und zuein­an­der senk­recht ange­ord­net waren. Der Raum wur­de nur mit Schwarz­licht beleuch­tet; Moto­ren ver­setz­ten die Schnü­re in Bewe­gung und ver­form­ten so ste­tig das von ihnen auf­ge­spann­te Netz.

Gianni Colombo: Spazio Elastico»Spa­zio Ela­s­ti­co«, © Gian­ni Colombo

Die Wir­kung auf den Betrach­ter ist dras­tisch: Unbe­ha­gen, mit­un­ter Schwin­del, also eine Reak­ti­on auf ein gestör­tes Lage­emp­fin­den, sind die Fol­ge. Obgleich der Raum im phy­si­ka­li­schen Sin­ne kon­stant bleibt, nur das auf­ge­spann­te Koor­di­na­ten­sys­tem viel­fäl­tig gekrümmt wird, tre­ten sol­che inten­si­ven Erschei­nun­gen auf. Der ima­gi­nä­re Raum, der erst durch den Betrach­ter ent­steht, wird hier also zur Abbil­dung des wirk­li­chen Rau­mes: Durch die Illu­si­on einer Räum­lich­keit, die ledig­lich durch eine Kar­tie­rung und dadurch auch Kom­par­ti­men­tie­rung erschaf­fen wird, drängt sich der Ein­druck auf, die­se sei mit dem sicht- und erleb­ba­ren Raum identisch.

Dabei ist selbst jene Kar­tie­rung ima­gi­när und will­kür­lich, ist eine Stüt­ze für unse­re Wahr­neh­mung und gleich­sam eine Täu­schung. Das wird durch die Abdunk­lung des Rau­mes nur noch wei­ter ver­stärkt: Der Fokus liegt ganz auf dem erleuch­te­ten Koor­di­na­ten­sys­tem. Der Raum, den es aus­zu­mes­sen meint, bleibt dage­gen dun­kel und leer, ganz wie wir es von unse­rer Vor­stel­lung der Begriff­lich­keit des »Rau­mes« gewohnt sind.

Auch die Wän­de des eigent­li­chen phy­si­schen Rau­mes rücken so tief in den Hin­ter­grund. Dadurch schafft es Colom­bo, dem rea­len Raum Wirk­lich­keit zu ent­zie­hen und ihn durch jenen selbst geschaf­fe­nen Begriff von Räum­lich­keit zu erset­zen, den er dann nach sei­nen eigent­li­chen Vor­stel­lun­gen aus­for­mu­lie­ren kann. Doch all das spielt sich nicht in »Spa­zi Ela­s­ti­co« ab, ganz im Gegen­teil, jene Gum­mi­bän­der und Moto­ren die­nen ledig­lich als Werk­zeu­ge einer mani­pu­la­ti­ven Scha­ra­de, die das eigent­li­che Werk erst im Betrach­ter selbst rea­li­sie­ren (vgl. auch Bill Vio­la).

Auch die Erde krümmt die Raumzeit, sprich: übt eine Gravitationskraft ausAuch die Erde krümmt die Raum­zeit, sprich: übt eine Gra­vi­ta­ti­ons­kraft aus (© NASA)

Zwar ist nicht anzu­neh­men, dass es Gian­ni Colom­bo um die Krüm­mung der Raum­zeit nach Vor­bild der All­ge­mei­nen Rela­ti­vi­täts­theo­rie ging, doch stellt »Spa­zio Ela­s­ti­co« eine erleb­ba­re Ver­an­schau­li­chung eines grund­le­gen­den phy­si­ka­li­schen Sach­ver­halts dar, der sich ganz unse­rer Wahr­neh­mung ent­zieht. Eben­so wie in »Spa­zio Ela­s­ti­co« sind wir tag­täg­lich von Krüm­mun­gen des Rau­mes betrof­fen, sei es durch das Her­un­ter­fal­len einer Kaf­fee­tas­se oder einen anstren­gen­den Treppenaufstieg.

 

Und den­noch ist der Mensch unver­mö­gend, die­sen ele­men­ta­ren phy­si­ka­li­schen Zusam­men­hang wahr­zu­neh­men und zu inte­grie­ren. Es braucht erst Ver­an­schau­li­chun­gen und Illu­sio­nen, wie man sie bei Colom­bo fin­det, um ein Gefühl dafür zu bekom­men, was tat­säch­lich um uns her­um vor sich geht.

Das ver­bin­det ihn gewis­ser­ma­ßen mit Mari­usz Soł­ty­sik, der eben­falls Din­ge sicht­bar und erleb­bar macht, die sonst unse­rer Ima­gi­na­ti­on vor­be­hal­ten sind, aber trotz­dem unver­ständ­lich, weil nicht greif­bar sind. Doch in einem Punkt unter­schei­den sich die bei­den vor­ge­stell­ten Wer­ke: Wäh­rend Soł­ty­sik mit »Neu­tri­nos trap stir­ring up cos­mic dust« eine Dar­stel­lung geschaf­fen hat, die für sich genom­men aut­ark besteht und für die die sub­jek­ti­ve Wahr­neh­mung nur eine gleich­ge­stell­te Kom­po­nen­te ist, exis­tiert Gian­ni Colom­bos »Spa­zio Ela­s­ti­co« gänz­lich als Imagination.

Man kann hier also zwi­schen einer Vor­stel­lung und einer Abbil­dung unter­schei­den. Bei­de sind auf die Wahr­neh­mung des Betrach­ters ange­wie­sen, doch nur eines erschafft einen Ein­druck, der so ener­ge­tisch und leben­dig ist, wie er nur in einem emo­tio­na­len, sub­jek­ti­ven Pro­zess ent­ste­hen kann. Wer hät­te gedacht, dass Astro­phy­sik so mit­rei­ßend sein kann?