Politische Missstände sind oftmals ein guter Nährboden für Künstler aller Disziplinen. Monumentale Werke wie Picassos Guernica oder Heines Wintermärchen entstanden in Zeiten politischer Unterdrückung und sind auch ganz abgesehen von ihren Motiven Meisterwerke ihrer Zeit.
Wenn wir hier in Europa an politische Verfolgung in unserer Zeit denken, kommen uns wohl nur Fernsehbilder aus fernen Gegenden wie dem Nahen Osten oder Nordkorea in den Sinn. Viel wissen wir nicht über diese Orte, auch zeitgenössische Kunst aus den genannten Regionen ist wohl den wenigsten bekannt. Umso überraschender ist es dann, wenn man einmal regierungskritische Werke aus solchen Ländern zu Gesicht bekommt.
So stolperte ich kürzlich über eine ausdrucksstarke Fotografie des Chinesen Wang Yi Fei.
Viel ließ sich über diesen Wang Yi Fei nicht herausfinden. Vermutlich auch, weil der Chinese so gut wie nicht im Ausland bekannt ist und chinesisch googlen auch nicht mehr funktioniert. Mehr als dieses eine Foto aus dem Buch New Photography in China kann ich also nicht bieten. Doch auch ohne überhaupt etwas darüber zu wissen, erzählt das Bild genug, um sich eingehend damit auseinander zu setzen.
Wang Yi Fei ist Fotograf. Und Filmemacher. Er hat damit also einen schwierigen Stand in Chinas Zensurpolitik, die unliebsame Kritiker auch mal einfach so verschwinden lässt. Die, die nicht in Gefängnissen oder Strafgefangenenlagern ihr Dasein fristen, müssen, wenn sie in politische Missgunst fallen, stets gewaltsame Übergriffe durch die chinesische Polizei oder Volksbefreiungsarmee fürchten.
Ein schwieriges Los also, wenn man in China frei und daher auch regierungskritisch als Fotograf arbeiten will. Wang Yi Feis unbetiteltes Selbstportrait zeigt ihn mit einem blauen Auge. Eine eindeutige Aussage, stellt sich Wang doch so als Opfer der chinesischen Zensurpolitik dar. Die große Klasse der Arbeit wird aber erst klar, wenn man es mit dem wohl meistreproduziertem Bild des 20. Jahrhunderts vergleicht.
Vergleich mit dem Mao-Portrait vom Tiananmen-Platz (Ge Xiaoguang, via)Wang Yi Fei spielt offensichtlich mit der Ikone, die in jeder chinesischen Amtsstube hängt, die nicht nur im Inland jeder kennt, sondern auch im Westen den allermeisten geläufig sein dürfte. Das Ölgemälde, das jedes Jahr aufs Neue für seinen Platz über dem Tor zur verbotenen Stadt angefertigt wird, strahlt die Ruhe eines väterlichen Vorsitzenden aus, der ganz im Gegensatz zu den Herrscherportraits vor und nach ihm auf jedes Symbol seiner Macht verzichtet. Man sieht ihn in ziviler Kleidung, mit einem hochgeschlossenen Kragen, gesunder Gesichtsfarbe und einem harmonisch-seichten Farbverlauf im Hintergrund.
Dieses Portrait soll weder Angst einflößen, noch durch Stärke oder Macht beeindrucken. Der Große Vorsitzende schaut hier klaren und bestimmten Blickes auf sein Volk und erscheint mehr wie ein Vater denn als ein Diktator. Das war nicht immer so, bis 1977 zeigten die Gemälde einen Herrscher, dessen Blicke zum Horizont streiften und ihn so ein wenig abwesend, ja hochnäsig darstellten. Erst später wandte er sich zum Volk und bis heute blieb diese Version des Mao-Portraits erhalten.
Wang Yi Fei bricht nun mit diesem Herrscher-Portrait, das mehr von Maos Regime versteckt als preisgibt. Wang ist ebenfalls in der Frontalansicht abgebildet, er schaut dem Betrachter ebenfalls entschlossen ins Gesicht und hat seine Haare ebenfalls zu einer strengen Frisur gekämmt (anders als er sie sonst trägt). Auch Wang posiert vor einem unspektakulären Hintergrund und erzielt damit dieselbe Ruhe wie in Maos Portrait. Die Farbe des Hintergrundes erinnert an das Hemd im Mao-Portrait, viel mehr jedoch an das Petroleum jener Version, die 1989 Opfer eines Farbanschlags wurde.
Wang Yi Fei erscheint aber nicht als väterliche Figur wie der Mao vom Tiananmen. Weder ist sein Selbstportrait in Untersicht gezeigt, noch ist sein Oberkörper leicht gedreht. Auch seine Gesichtszüge haben nichts von Maos stoischer Ruhe, Wang Yi Fei hat auch keine Pausbacken und kann seinen wutverkrampften Mund auch nicht so entspannen wie der Große Vorsitzende. Sein linkes Auge mag zugeschwollen sein, doch das macht sein rechtes, zornverkniffenes wieder wett. Wang schaut den Betrachter nicht nur auf die Weise an, wie wir es von unzähligen Gemälden her kennen, es beobachtet ihn regelrecht, behält ihn im Auge.
Dieses Foto erzählt mit so viel Ausdruckskraft und leisem Groll von Chinas Zensurpolitik, wie ich es noch nie zuvor in einer künstlerischen Arbeit oder in irgendeiner Reportage gesehen habe. Gerade die Stille und die offene Anspielung auf das ikonenhafte Gemälde des geheiligten Großen Vorsitzenden Mao machen doch aus diesem Bild ein gelungenes Stück regierungskritischer Gegenwartskunst.
Mehr über das berühmte Mao-Portrait hat Gerhard Paul zu erzählen, der ausführlich über seine Geschichte und seine Rezeption in der Kunst schreibt. Große Leseempfehlung!