Die Präsenz der Medien hat über die Jahrzehnte hinweg stetig zugenommen; heute drängen dank Außenkorrespondenz, Live-Schaltung, Internet, Twitter usw. Inhalte aus allen vier Ecken der Erde innerhalb kürzester Zeit an unser interessiertes, oder vielleicht auch zunehmend desinteressiertes Ohr. Ereignisse und Schicksale finden nicht einfach nur statt und wären daher bloße Aufgabe der Berichterstattung, sie werden zunehmend in Echtzeit und oftmals auch unaufbereitet an den Konsumenten weitergegeben, der sich dadurch nicht mehr nur als Rezipient, sondern auch in größer werdendem Maße als Zeuge fühlt.
Die Geiselnahme von Gladbeck, die Anschläge vom 11. September, die Livebilder von den Bombeneinschlägen in Saddam Husseins Palästen — diese und viele andere mehr oder weniger geschichtsträchtigen Ereignisse finden — gefühlt — nicht mehr an einem fernen Ort, sondern ganz in der Nähe statt. Trifft dies womöglich auch auf Sportweltmeisterschaften, Gedenk- und Staatsfeiern zu, tritt es doch insbesondere bei solch erschütternden Geschehnissen in den Vordergrund.
Im Februar 1972 sollte beim Channel 3 im kalifornischen Irvine ein Live-Interview mit dem aufstrebenden Künstler Chris Burden stattfinden, der zuvor durch seine von autoaggressiver Gewalt und Bedrohung geprägte Kunst bekannt wurde. Burden nahm die Gelegenheit war, um auch daraus ein »Kunstwerk« zu schaffen — ob dies tatsächlich Kunst darstellt oder nicht, ist hierbei die große Frage. Chris Burden schildert die Ereignisse folgendermaßen:
On January 14 I was asked to do a piece on a local television station by Phyllis Lutjeans. After several proposals were censored by the station or by Phyllis, I agreed to an interview situation. I arrived at the station with my own video crew so that could have my own tape. While the taping was in progress, I requested that the show be transmitted live. Since the station was not broadcasting at the time, they complied. In the course of the interview, Phyllis asked me to talk about some of the pieces I had thought of doing. I demonstrated a T.V. Hijack. Holding a knife to her throat, I threatened her life if the station stopped live transmission. I told her that I had planned to make her perform obscene acts. At the end of the recording, I asked for the tape of the show. I unwound the reel and destroyed the show by dousing the tape with acetone. The station manager was irate, and I offered him my tape which included the show and its destruction, but he refused.
Was darf also Kunst? Darf sie die Unversehrtheit eines Nichtsahnenden derart aufs Spiel setzen?
Das Fernsehen nimmt im vergangenen Jahrhundert eine Sonderrolle in der Medienlandschaft ein, darf es doch als einziges uneingeschränkt als Massenmedium bezeichnet werden. Obgleich die neue Technologie mit großen (künstlerischen) Hoffnungen erwartet wurde, zeichnete sich früh ab, dass eine belebende Vielfalt an Sendeanstalten nicht aufkommen würde. In den USA ist das Fernsehen seit jeher ein hart umkämpftes, rein von kommerziellen Interessen getriebenes Wirtschaftsfeld, in den europäischen Ländern muss es durch Verstaatlichung hohen politischen und kulturellen Anforderungen standhalten.
Für Kunst war (dennoch?) hier wie dort wenig Platz im Sendeprogramm. Künstler waren so wie alle anderen lediglich Rezipienten, einige von ihnen thematisierten dies, indem sie Fernsehgeräte angriffen oder anderweitig verarbeiteten — Beuys sei da beispielhaft genannt. Kunst fand im Sendealltag nicht statt, bestenfalls wurde darüber berichtet — wie etwa auch über den polarisierenden (sprich: quotenbringenden) Chris Burden.
Dieser sah also am 9. Februar 1972 die Gelegenheit gekommen, das Medienmonopol zu durchbrechen, einmal den Künstler auf den Stuhl des Intendanten zu setzen:
T.V. Hijack was ultimately about who is in control over what’s presented through the media.
»Rape«, © John Lennon, Yoko Ono
Dass dies mit gewaltvollen Mitteln geschieht — mehr als fraglich. Allerdings ist Burdens Verknüpfung von Fernsehen, Gewalt und eines fragwürdigen Kunstbegriffs nicht ganz neu.
Drei Jahre zuvor hatten John Lennon und Yoko Ono einen Film initiiert, in dem die nichts ahnende Passantin Eva Majlath von einem Kamerateam unermüdlich verfolgt wird, nach Anweisung »bis er [der Kameramann] sie in einer Gasse in die Enge treibt und, falls möglich, bis sie in einer fallenden Position ist«. Majlath sprach kein Englisch, vergeblich versuchte sie zwei Tage lang, mit ihren Verfolgern zu reden oder ihnen zu entkommen. Zwar wird sie nie von ihnen berührt, dennoch ist der gesamte 77minütige Film namens »Rape« sehr stark sexuell aufgeladen — und ist ebenso wie Burdens »T.V. Hijack« ein schwerer Eingriff in die psychische Unversehrtheit eines Unfreiwilligen. Beide stellen auf höchst anschauliche und beklemmende Art und Weise dar, dass das neue Medium »Fernsehen« seine Schattenseiten hat und in Überwachung bzw. Meinungsmonopolismus umschlagen kann.
Dennoch bleibt die Frage offen, wie weit Kunst gehen darf. Darf sie Gewalt üben? Darf sie Persönlichkeitsrechte verletzen? Dazu besteht m.E. kein öffentlicher, ethisch fundierter Konsens. Meine Meinung ist die, dass Kunst sich nicht fragwürdigen Gesetzen beugen darf, jedoch in keinem Fall Menschen‑, Persönlichkeits‑, und Grundrechte als Ausdruck universeller ethischen Grundverständnisses verletzen darf. Ein Künstler mag eine Botschaft haben, jedoch kann es dies nicht wert sein, Rechte anderer zu übergehen.
Dennoch scheint es mir, als geschehen solch extreme Aktionen wie »T.V. Hijack« nur vor Kameras. Ist es nicht bezeichnend, dass ein solch gewaltvoller Übergriff auf die mediale Hoheit gerade auf einer Plattform stattfindet, die von solchen Ereignissen lebt?