»Ersilia«, © Delavega, Ephemera, Lascarr
Der italienische Schriftsteller Italo Calvino veröffentlichte 1972 eines seiner schillerndsten Werke, »Le città invisibili« — »Die unsichtbaren Städte«. Darin beschreibt Marco Polo seinem Gastgeber Kublai Khan in 55 Prosagedichten die 55 Städte, die er auf seinem Weg nach Peking besucht hat. Jede von ihnen steht für eine bestimmte gesellschaftliche Situation und im Laufe der Erzählungen werden diese Beschreibungen immer düsterer ehe sie zum Schluss die Hölle auf Erden skizzieren. Der geneigte Leser kann deutliche Parallelen zum Decameron oder zur Göttlichen Komödie ziehen — oder aber dieses Sinnbild der gegenwärtigen Urbanisierung künstlerisch verarbeiten. Das übrigens sehr empfehlenswerte Buch hat schon so manchen Künstler inspiriert, sei es StreetArt, Fotografie oder Malerei.
Die jüngste dieser Adaptationen stammt von den Berliner StreetArtists Delavega, Ephemera und Lascarr. Sie setzten in einer leerstehenden Fabrik in Berlin-Mitte und in den Beelitzer Heilstätten eine Passage aus dem Kapitel »Die Städte und der Tausch 4: Ersilia« um:
In Ersilia spannen die Einwohner Schnüre von Haus zu Haus, um die Beziehungen festzulegen, die das Leben in der Stadt regeln: weiße, schwarze, graue oder schwarzweiße Schnüre, je nachdem ob sie Verwandtschaftsverhältnisse, Handel, Autorität oder Repräsentanz bezeichnen. Wenn die Schnüre so viele geworden sind, daß man nicht mehr durchkommt, ziehen die Bewohner fort: Die Häuser werden abgebaut; zurück bleiben nur die Schnüre und ihre Stützen.
Die StreetArt-Gruppe verwandelte dazu die Innenräume der leerstehenden Gebäude in ein Abbild von Ersilia, spannten mitunter herumliegenden Schutt zwischen den Wänden ein, kurzum: hinterließen für den nichtsahnenden Besucher einen surrealen Anblick.
»Les villes invisibles«, © Oliver Zenklusen
Der Schweizer Oliver Zenklusen dagegen erforscht anhand Calvinos Vorlage die Unterschiede und Gemeinsamkeiten urbaner Szenarien der Vergangenheit und der Zukunft. Er bannt seine Fotos auf abgenutzte Polaroidfilme, die er dann in ein Großformat überführt. So entstehen düstere Bilder einer mehr fiktiv denn real erscheinenden Stadt, von der man nicht recht sagen kann, ob sie im Hier und Heute existieren könnte oder doch in der grauen Vergangenheit — oder gar in einer dunklen Zukunft.
»Invisible Cities series #2«, © Arnold Helbling
Einen anderen Ansatz verfolgt dagegen Arnold Helbling: Der Schweizer fotografiert im Verfall begriffene städtische Szenerien und entfremdet die so entstandenen Bilder durch vielfaches Überzeichnen, Fotokopieren, Ausradieren und Vergrößern um das Ergebnis auf eine Leinwand zu projizieren und dort mit Farbe und Pinsel festzuhalten. So entstehen Landschaften, die nur noch vereinzelt Gebäude und Straßenzüge erkennen lassen und ein verwaschenes Schema dessen darstellen, was wir tagtäglich mit den eigenen Augen erkennen können.
Auch die Arbeitsweise Helblings wird zum Symbol dieser Entwicklung, wenn ewigliches Kopieren und Entfremden selbst den Kern des Ganzen ausradiert. Die rechtwinklige Welt unserer städtischen Kultur weicht den alles überdauernden geschwungen-organischen Formen des Zufalls und der Natur; Helblings Werke propagieren die Vergänglichkeit von Menschen errichteter Bauten. Die Neuauflage des mittelalterlichen Angkor Wat, der versunkenen Hochkultur eines Millionenvolks, ist das vielleicht nicht, doch in jedem Fall eine interessante Auslegung der unsichtbaren Städte.
Italo Calvinos möglicherweise bedeutendstes Werk hat unzählige Künstler inspiriert. Manche illustrierten eine oder alle der 55 Städte, andere bezogen sich auf die universelle Parabel des Buches. Entstanden ist eine nur schwerlich überschaubare Vielfältigkeit aus allerlei verschiedenen Genres der Gegenwartskunst.
Weitere sehenswerte Arbeiten: Rod McLaren: »Trude/Ersilia«, David Cousin-Marsy: »Villes invisible«, Olof Bruce: »Invisible cities«, Elena Armellini: »Le città invisibili«.