Die Gesetze des Marktes gelten bisweilen auch im Ausstellungsbetrieb, das heißt, auch dort, wo keine Verkaufsabsichten verfolgt werden, nämlich immer dann, wenn ein Heer an ambitionierten Künstlern und Kuratoren auf begrenzten Ausstellungsraum trifft. In einem an seine Grenzen stoßenden Kunstmekka wie Berlin bestimmen Raumangebot und ‑nachfrage zunehmend die Ausstellungspraxis, welche infolge dessen nach allen Seiten Entlastung sucht. Immer wieder neue Projekträume und PopUp-Galerien entstehen, um der wachsenden Künstlerschar zu Sichtbarkeit zu verhelfen, aber auch um aus dem Überangebot an Kunst das Gute und Wichtige auszusortieren. Während mancherorts das Ausstellungsmachen zum Hochdurchsatzbetrieb erklärt wird, schicken sich andernorts unabhängige und oftmals strukturschwache Initiativen an, in wenigen pointierten Schauen eine Bestenauslese der sie umgebenden Kunstszene zu treffen. Kunst muss schließlich ausgestellt werden. Das hat auch der Berliner Senat begriffen, als er erstmalig vor zwei Jahren zwar spät, aber immerhin überhaupt, seinen Förderpreis für künstlerische Projekträume und ‑initiativen auslobte. Kritiker und Befürworter des Preises halten sich die Waage, denn ja, Berlin braucht eine umfangreiche Kulturförderung, doch noch dringlicher mahnt die Errichtung und Etablierung belastbarer Strukturen. Solcher Strukturen, die dem wachsenden Zustrom junger Künstler und anderer Kreativer fernab projektbezogener Förderungsprogramme auch verlässliche und längerfristige Aussichten geben, in dieser Stadt Fuß fassen zu können.
Denn trotz seines hervorragenden Rufs ist Berlin für Künstler mitnichten eine Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Dabei scheint die Stadt alles zu bieten, was es zu einem erfolgreichen Künstlerdasein braucht: Die Mieten für Wohn- und Atelierraum sind vergleichsweise gering, freie Räumlichkeiten für Galerien und Projekträume sind zur Genüge vorhanden. Darüber hinaus begünstigt das Fehlen einer Finanzwirtschaft oder Großindustrie den Erhalt eines vergleichsweise günstigen Lebensstandards, der in Zusammenspiel mit dem multizentrischen Städtebau und der ausgeprägten Kiezkultur lokalen Initiativen entgegenkommt. Im Zentrum dieser Standortfaktoren steht billiger Wohnraum, der den Impuls für die Entwicklung regelrechter Kreativviertel setzen kann.
Die historische Prägung Berlins als Kulturhauptstadt hat solchen Bewegungen stets Vorschub geleistet. So traf bereits die Kunst der frühen Moderne auf ein breites öffentliches Interesse: Preußische Museen wie etwa das in der Weimarer Republik bedeutsame Kronprinzenpalais verschrieben sich zeitgenössischer Kunst, ebenso wie eine starke größtenteils jüdische Sammlerschaft und große Kunstvereine eine aktive Kunstförderung übernahmen. Die Bohème nach Pariser Vorbild war in den Berliner Salons zu Hause und eine große Schar weniger gut situierter Künstler, Musiker und Literaten strömte in die Hauptstadt, wo sie ideale Arbeitsbedingungen fand. Nach dem Krieg herrschte zwar zunächst eine klaffende Lücke, doch der Wiederaufbau setzte auch im Kulturbereich an. Eine öffentliche Sammlung wurde erst als gesamtstädtische Initiative strukturiert, jedoch bald wegen der politischen Entzweiung im Osten und Westen doppelt weitergeführt. Eine dieser Sammlungen suchte fortan als Neue Nationalgalerie an das Erbe des Kronprinzenpalais anzuknüpfen, in dessen Nachfolge es sich nicht zuletzt aus politischen Gründen immer wieder beweisen musste. Die städtischen und staatlichen Kulturinvestitionen wuchsen auf dem Westgebiet der Stadt stetig an, die Deutsche Gesellschaft für Bildende Kunst wurde 1965 gegründet, die wiederum bald wegen massiver Kritik an ihrer autoritären Veranlagung aufgelöst und 1969 sowohl im Neuen Berliner Kunstverein als auch der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst ihre Nachfolger fand.
In diesen und den folgenden Jahren entwickelte sich der Westteil der Stadt dank seiner Insellage zu einem geschätzten Rückzugsort für Künstler, Kreative und all jene, die der westdeutschen Provinzgesellschaft entkommen wollten. Hier konnten sie sich nicht nur maximal von der oftmals bieder empfundenen Heimat entfernen, sondern waren auch vor dem Zugriff der Staatsgewalt sicher, die hier niemanden zum verhassten Wehrdienst einziehen konnte. Nicht zuletzt war es auch diese einmalige exponierte Lage vor den Toren des Ostblocks, die auch international viele Künstler anzog.
Auch damals galt, was heute noch Bestand hat: Billiger Wohnraum lockt die notorisch verarmte Künstlerschar an. Stadtteile wie Schöneberg oder Kreuzberg waren jeweils wegen geplanter Verkehrstrassen dem städtebaulichen Untergang geweiht, doch so lange noch nicht der Spatenstich gesetzt war, konnte man hier – fern der monotonen Arbeitsrealität anderer deutscher Großstädte – bequem und frei leben. Beide Bezirke entwickelten sich schnell zu lebendigen Kreativvierteln, die heute längst Legende geworden sind.
Im Ostteil der Stadt herrschte lange Zeit ein ähnlicher Leerstand, der jedoch erst mit dem Mauerfall von den Künstlern entdeckt und für sich genutzt werden konnte. So eröffnete der sich bis dahin herangewachsenen Kunstszene mit einem Schlag ein neues Territorium, das seitdem insbesondere in Berlin-Mitte von Galeristen und Ausstellungsmachern genutzt wird. Die Kunstwerke Berlin hätten vermutlich ohne eine solch einmalige Gelegenheit nicht die Bedeutung erlangen können, die sie heute international genießen.
Erneut wiederholt sich diese archetypische Entwicklung seit einigen Jahren und lässt Berlin nun dank der vollständigen Öffnung zur Welt zu einem Kunstmekka unerreichter Ausmaße heranwachsen. In direkter Kontinuität zum Boom der Wendezeit stehen auch heute noch soziale und kulturelle Entwicklungen, die dank ihrer sich verselbständigenden Außenwirkung auf dem infrastrukturellen Nährboden einer Stadtpolitik des laissez-faire gedeihen können. Doch im Gegensatz zu vergangenen Konjunkturzeiten sind heute erstmals Effekte sichtbar, die das Fortbestehen eines Kreativmilieus gefährden.
Berlin erhielt sich zwar als eine Stadt, die Freiräume bewahrt und verschiedenste Lebensweisen ermöglicht, indem sie jeglichen finanziellen Existenzdruck von den Schultern ihrer Bewohner nahm und dadurch die Mittel zur Gestaltung ihrer Ideen und Pläne bei ihnen belässt. Ihre in diesem Sinne außerordentlich liberale Politik, aber auch ihre starke Musik- und Clubkultur machen sie für junge Kreative aus dem In- und Ausland sehr attraktiv. Doch bisweilen wird die Verheißung von der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten zu einem leeren Versprechen, das an der einfachen, aber harten Realität scheitert.
Der Zustrom junger, talentierter Künstler hat längst die Grenzen der lokalen Kunstszene gesprengt, ohne deren Beziehungen jedoch weiterhin nur wenig Erfolg möglich ist. Die Bohème ist längst erstorben. Ihre Nachfolger –: ein eklektischer Kreis aus Künstlern, Galeristen, Kuratoren, auch einigen Sammlern und Kritikern – bleiben unter sich, bilden einen kaum zu überwindenden Club, der dem jungen Spanier oder der jungen Asiatin kaum zugänglich ist. Doch die Stadt hat einen in der ganzen Welt hervorragenden Ruf, der junge Künstler mittlerweile kohortenweise anzieht. Ohne bisherige Erfolge und ohne Beziehungen zu ihren etablierten Kollegen sammeln sie sich in regelrechten Kreativghettos wie Nord-Neukölln, die mit den Künstlervierteln der Siebziger Jahre nichts mehr gemein haben.
Aus Mangel an einer lokalen, finanzkräftigen Sammlerschaft, aber auch an öffentlichen oder stiftungsgebundenen Förderungen, bedeutet die Arbeit abseits der privilegierten Strukturen für die Künstler, dass sie hier zwar Kunst produzieren, aber nicht davon leben können. Weiter erschwert wird diese Situation durch die bisweilen zu liberale Berliner Lebensweise, die es gerade der wachsenden Auswandererszene leicht macht, ihre Zeit in der Hauptstadt ungenutzt verstreichen zu lassen. Nicht wenige von ihnen kamen mit hohen Zielen, haben davon aber nur wenig erreichen können. Kaum kehren sie in ihre Heimat zurück, stellt sich oftmals der Erfolg ein – Berlin als Bildungsstätte im Sabbatjahr, auch das ist ein Teil der kreativen Realität.
Für eine gewisse Zeit konnten die hierher strömenden Kreativen immerhin darauf hoffen, gesehen und gehört zu werden. Heute sind auch die Ausstellungsräume knapp. Schlicht, weil es zu viele Künstler für die gleiche Ausstellungsfläche gibt. Einzelausstellungen werden außerhalb der Galerien und Institutionen längst nicht mehr realisiert, stattdessen sind seit geraumer Zeit Gruppen- und Massenausstellungen die Norm –eine Kuratorenlegion auktorialen Selbstverständnisses findet hier das Material zur Illustration ihrer Ideen und Gedanken.
Kunst muss ausgestellt werden. Und so suchen sowohl Künstler als auch Kuratoren und andere in diesem Umfeld tätige Akteure nach immer neuen, doch gleichsam kostenschonenden Ausstellungsformen: Projekträume werden nicht nur mehr, sie werden auch kleiner, kurzlebiger, sowie finanziell und strukturell schwächer. Verstärkt nehmen Ladencafés und PopUp-Stores die heimatlose Künstlerschar auf, werden seit einiger Zeit Wohnzimmer- und Keller-Ausstellungen veranstaltet. Die künstlerische Reichweite nimmt auf diese Weise freilich immer weiter ab. Kunst verliert zunehmend seine gesellschaftliche Bedeutung und verkommt immer mehr zur privaten Kommodität, zum persönlichen Zeitvertreib.
Auf der anderen Seite sichern solch begrenzte Kapazitäten eine strikte Bestenauslese: Die Kunstszene, die diese Bezeichnung verdient, funktioniert daher nicht zuletzt als Wächter über Geschmack und Talent (ist jedoch deswegen nicht mit einer Avantgarde gleichzusetzen, die sich diskursiv und kritisch mit ihren Gegenständen befasst). Gute Künstler werden auf diesem Wege einem dichten Netzwerk aus lokalen, nationalen und internationalen Künstlern, Kuratoren, Sammlern, Galeristen und Kritikern bekannt gemacht. Doch allein darin unterscheidet sich die Berliner Kunstszene nicht von anderen Beispielen; was sie ein Stück weit hervorhebt, ist ihr starkes Selbstverständnis als Moderator und Kurator neuer, frischer Inhalte, das hier insbesondere auch von den Galeristen mitgetragen wird. So etwa die Gruppenausstellung »Discussing Metamodernism«, mit der Tanja Wagner dem jungen Ideengebäude der Metamoderne 2012 erstmals eine ernsthafte künstlerische und diskursive Plattform bot. Zudem bieten inhaltlich ausgerichtete Galerien wie Société oder Kraupa-Tuskany Zeidler der gerade auch in Berlin gedeihenden Künstlergeneration im Umfeld von Spekulativem Realismus, Neuem Materialismus und Post-Internet die dringend notwendige Unterstützung, die sie für ein kontinuierliches Wachstum benötigen. Dank solcher und anderer mäzenatischer Initiativen wird vielen aussichtsreichen Künstlertalenten eine Förderung zuteil, mit deren Hilfe manche von ihnen zu international bekannten Exportschlagern heranreifen.
Doch auch diese viel versprechenden Talente sind vom Schwinden der Infrastruktur bedroht: Der Wohnraumbedarf steigt weiterhin nicht zuletzt wegen der zunehmenden Zuwanderung, Wohn- und Arbeitsraum ist längst nicht mehr erschwinglich und auch die übrigen Lebenshaltungskosten nehmen langsam, aber stetig zu. So werden wirtschaftliche Erwägungen für Künstler und Galeristen immer wichtiger, was schließlich die intellektuelle, nicht marktorientierte Kunst gefährdet. So lange die globale Kunstwelt den Wert eines Werkes über Markterlöse, nicht über inhaltliche Kriterien definiert, scheint dieses Dilemma nicht auflösbar. So rücken die Freiheiten und Möglichkeiten der Neunziger in immer weitere Ferne, sodass auch der Hype der Jahrtausendwende bereits spürbar abgenommen hat. Damit geht Berlin derzeit den Weg, den einst auch andere Kunstmetropolen wie New York, London oder auch das Paris der Bohème genommen haben: Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung (der hier freilich nur den Immobilienmarkt zu betreffen scheint) schwinden die notwendigen Parameter der freien künstlerischen Entfaltung. Längst treten andere Großstädte in spürbare Konkurrenz und so vergeht kaum ein Monat, in dem nicht eine andere Metropole als das neue Künstlerparadies ausgerufen wird. Glaubt man den Gerüchten, so werden sich die nächsten Künstlergenerationen vielleicht in Istanbul, in Buenos Aires oder Peking niederlassen. Eines Tages wird der Treck weiter gezogen sein und dann wird man sich nicht nur in Berlin fragen, wo all die Künstler und mit ihnen all das kreative Potential hingegangen sind.
Dieser Artikel erschien auch im Schirn-Magazin.
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