Wer sich in den letzten Wochen und Monaten einen Überblick über die Bildproduktion im künstlerischen, insbesondere aber auch im Laienbereich verschaffte, wird eine Renaissance des Selbstportraits bemerkt haben. Vorbei die Zeiten, als Instagrams fast schon enzylopädisches Bildarchiv vor allem #foodporn und Katzencontent kannte, als Facebooks Fotoalben noch vornehmlich mit Reisefotografie gefüllt waren, und selbst MMS, iMessage und WhatsApp alle erdenklichen Fotos, aber eben doch kaum Selfies übermittelten. Das Selfie: Ein schmissiger Begriff für den narzisstischen Akt, sein selbst angefertigtes Abbild in den sozialen Medien zu verbreiten, für einen Trend, der so kraftvoll ist, daß selbst die Hüter der altehrwürdigen Oxford Dictionaries sich veranlasst sahen, das »Selfie« entsprechend zu ehren. Mit diesem Ritterschlag wurde wohl auch die Salonfähigkeit des Begriffs ein für allemal festgestellt und so war es nur eine Frage der Zeit, daß auch die Bilddisziplin par excellence, die hohe Kunst, den Trend aufnahm. Um die oftmals nur einförmig geführte Diskussion nicht unnötig zu wiederholen, sei allein darauf hingewiesen, daß Alicia Eler in dieser Sache das vorerst letzte Wort hatte, als sie kürzlich für Hyperallergic eine kurze Theorie des Selfies aufstellte. Nachdem die Modeerscheinung dort und auch andernorts bereits wochenlang immer wieder Gegenstand mehr oder weniger humoristischer Betrachtungen war, die die Spuren dieses Trends in der zeitgenössischen Kunst zu verfolgen suchten, fasste dieser Kurzkommentar immerhin für das Kunstpublikum zusammen, welche Ausmaße das Selfie bereits in der Populärkultur annahm.
So entwickelte sich zwar der vage Ansatz einer Selfie-Ethik, doch das Kernphänomen, der Wertewandel des eigenen Bildes vor dem Hintergrund seiner medialen und technischen Bagatellisierung, wurde bisher nicht thematisiert. Gleichsam wurde weder auf die gesteigerte Verfügbarkeit technischer Bilder als Voraussetzung, noch auf die Identitätskrise des völlig im sozialen Netz untergehenden Abbildes des eigenen Selbst als Folge des Phänomens hingewiesen, das man als regelrechte Selfie-Kultur bezeichnen muss. Denn während dereinst die Getreuen Bismarcks ihre Lehren aus den überraschend veröffentlichten Fotografien vom Totenbett des Reichskanzlers zogen und 1907 aus ihrer Empörung über die technische Reproduzierbarkeit der Fotografie das Recht am eigenen Bild ins Strafgesetz hämmerten (fast zwanzig Jahre bevor die Kunstwelt die weitreichenden Folgen kennenlernen sollte), geht man mehr als ein Jahrhundert später nicht zuletzt dank des technischen Fort- und des medienkritischen Rückschritts auffällig leichtfertig und gelassen mit dem eigenen Bild um.
Gerade auch vor diesem Hintergrund stellten der Frankfurter Kunstverein und sein Team um Kurator Holger Kube Ventura die Schau »Per speculum me video« zusammen, die noch bis ins neue Jahr hinein getreu ihrem Titel den Blick in den Spiegel wagen möchte. Dem doppeldeutigen Motto zufolge durfte man erwarten, nicht nur einen Überblick über die zeitgenössische Praxis des Selbstporträts, sondern auch eine formalästhetische Kritik des Sujets geboten zu bekommen. Neun Künstlerinnen und Künstler sind mit vornehmlich filmischen, aber auch fotografischen Arbeiten vertreten, die seit 1996, vor allem aber in den vergangenen fünf Jahren entstanden, als das Selfie zwar noch kein Begriff, aber der leichtfertige Umgang mit Bildmaterial bereits gang und gäbe war.
Das erste dieser Selfies, wenn man sich dieser Terminologie anschließen möchte, empfängt den Besucher gewissermaßen noch ehe er das Gebäude am Römer betreten hat. Denn im schleusenartigen Vorraum des Frankfurter Vereins wird man zunächst von einer kurzweiligen Videoinstallation Benny Nemerofsky Ramseys abgelenkt, die sechzehn blasse Aufnahmen von Überwachungskameras auf einem Bildschirm vereint. An ähnliche Empfänge einschlägiger Geschäfte gewohnt, versteht man diese Begrüßung womöglich als Mahnung gegen Laden- oder in diesem Falle eben Kunstdiebstahl, doch der einstweilige Eindruck verfliegt schnell, wo doch vor den in alle Ecken dringenden Weitwinkelkameras ein und derselbe dunkel gekleidete Mann voller Inbrunst ein Ständchen zum Besten gibt. Wer nun die Einladung der bereitliegenden Kopfhörer annimmt, wird mit etwas Glück und Textsicherheit Madonnas »Live to tell« erkennen, das für Nemerofsky Ramseys sechzehnfach in je einem anderen Raum wiederholte Gesangs- und Tanzeinlage letztlich auch titelgebend war. Wie der Kanadier dort also für ein Publikum aus Überwachungskameras eine Ballade über Misstrauen, Täuschung und die damit verbundenen Beschwernisse schmettert um anschließend unbekümmert den Boden zu fegen, die Fenster zu öffnen oder aufzuräumen, lässt sein zwiespältiges Verhalten gegenüber der stummen Zuschauermenge eine doch eher unreflektierte Haltung erkennen. Man ahnt hier schon die naheliegende Kritik am allgemeinen Überwachungsfetisch, der auf einen sorglosen Umgang mit der eigenen Privatsphäre und wechselseitig eben auch der leichtfertigen Selbstdarstellung trifft. Man fühlt sich aber erst überführt, sobald man die ersten voyeuristischen Gelüste verspürt und sodann entweder schamergriffen flüchtet oder ganz bewusst weiterglotzt. Wie auch immer man sich entscheidet, wird man zu diesem Zeitpunkt, noch ehe man die eigentliche Ausstellung betritt, mit den eigenen Sehgewohnheiten konfrontiert, die in Zeiten des Selfies womöglich für keinen der Beteiligten, nicht einmal die Technologie, ein sonderlich wohlwollendes Urteil erwarten lassen.
»Live to tell« rückt aber schließlich auch das Verhalten vor der Kamera in den Mittelpunkt der künstlerischen Untersuchung, welches fortan in »Per speculum me video« gelegentlich wieder Gegenstand einer meist zaghaften, doch aber nachweisbaren Kritik wird. Wenn man sich also nun auf die eine oder andere Weise von Nemerofsky Ramseys Arbeit löst und das Foyer des Hauses betritt, wird man erneut, noch ehe überhaupt ein Ticket gelöst, ein Text gelesen oder der Mantel abgelegt wurde, mit einer Videoinstallation konfrontiert. Martin Brand zeigt hier seine überaus unterhaltsame, mehr als halbstündige Videosequenz »MySpace«, für die er Porträts gewöhnlicher Teenager aneinander reihte, die er vor der Kulisse ihres Kinderzimmerreichs posieren ließ. Während die doppelte Kameraansicht langsam das gesamte Panorama abfährt, schlüpfen die Jugendlichen in verschiedene Outfits, nehmen somit immer wieder neue Identitäten an und bringen die damit verbundenen, zarten Utopien zum Ausdruck. Denn während ihre Zimmer noch von vergangenen Kindertagen erzählen, kündigen ihre sorgsam zusammengestellten Aufmachungen bereits das Erwachsensein an, aus dessen vielen möglichen Rollen die Jugendlichen eine nach der anderen durchspielen. So dokumentarisch die Arbeit angelegt sein mag, so heiter und bisweilen drollig drückt sie die Wünsche und Träume dieser im Übrigen stets weiß behandschuhten Halbwüchsigen aus, wenn offensichtlich große Vorbilder mit bescheidenen Mitteln nachgeahmt oder in typisch jugendlicher Art Selbstbewusstsein und Stolz selbst über die größten stilistischen Fehlgriffe hinweg strahlen können.
»MySpace« verhandelt aber auch gerade wegen seiner dokumentarischen Strenge den Umgang dieser Teenager mit der Kamera, vor der sie sich wie vor einem Spiegel herausputzen, deren kühler Anonymität sie wärmste Intimität entgegensetzen. Adressat all dieser Bemühungen ist hier erneut die Kamera, nicht etwa das durch sie einseitig mediierte Publikum, das in Galerien und eben auch hier im Frankfurter Kunstverein ihren Blick einnimmt. Denn die Jugendlichen performen vor der Kamera, ohne darüber hinaus zu kommunizieren. Sie bieten ein Verhalten dar, das im Rahmen des technologisch Möglichen vollständig abbildbar bleibt, unternehmen aber keine Anstrengungen, ihr Auftreten durch den Gebrauch von Zeichen (sei es Sprache, Geste oder Mimik) mit Sinn anzureichern, der erst durch einen sehenden und fühlenden Gegenüber verstanden werden könnte. Diese Feststellung erscheint zunächst trivial, zumal ein nicht unerheblicher Teil unserer heutigen Bildpraxis diesem Beispiel nicht unähnlich ist: Wer etwa am Palmenstrand den Ikonenkatalog der Urlaubsfotografie Motiv um Motiv nachahmt, tut dies im Allgemeinen lediglich zum Zweck der Dokumentation, gern auch der Beweisführung –: »Ich war hier!« –, selten jedoch, um über die Bildfläche hinaus mit einem zukünftigen Betrachter in Kontakt zu treten. Ebenso zielt das übliche Gebaren vor den Kameras der Partyfotografen, wie erst kürzlich ein viral gewordenes Video nicht ohne Häme nachwies, vordergründig auf den Bildapparat und das Foto, nicht aber auf den Betrachter ab. Was diese Beispiele nämlich mit »MySpace« vereint, ist ein Verhalten, das die Anordnung aus Motiv, Apparatur, Bild und Betrachter um das letzte Element beschneidet und somit den Zweck der Bildproduktion auf sich selbst zurückwirft: Das Bild existiert um seiner selbst Willen und nur zu dieser Bestimmung, es bleibt solange ein Schnappschuss, bis ein anderer als der Selbstzweck gefunden wurde, der notwendigerweise seine Gültigkeit erst aus dem Zeigen entwickeln kann. Denn ebenso wie man Urlaubsbilder irgendwann aus der staubigen Kiste oder den Tiefen der Festplatte herausholt, wie Partyfotos irgendwann den darauf versammelten Feiernden wieder zugänglich gemacht werden, fand auch »MySpace« irgendwann den Weg in den Ausstellungsraum. Im Augenblick seiner Geburt genügte das Bild jedoch lediglich sich selbst, es war ganz Momentaufnahme, ohne Sinn und ohne Zweck allein auf sich selbst und, als Teil dessen, sein Motiv gerichtet. Ich sehe mich im Spiegel, per speculum me video.
Man muss an dieser Stelle schließlich auch die notwendige Frage stellen, ob das nachträgliche Zeigen einen Sinn generieren kann, wird aber zu dem Schluß kommen, daß diese Sache zu diesem Zeitpunkt nicht ohne Rückgriff auf vereinzelte Anekdoten verhandelt werden kann. Dennoch drängt sich das Gefühl auf, daß man dem Beispiel des Selfie, auf das sich die Ausstellung explizit (jedoch ohne es zu benennen) beruft, bereits an dieser Stelle ein gehöriges Stück näher gekommen sei.
Schade jedoch, daß die Schau es versäumt, diese prekäre Bildpraxis im Folgenden weiter zu untersuchen. Sie widmet sich stattdessen Selbstporträts, die sich deutlich von den noch am Eingang problematisierten Selfies abgrenzen, also wolle man eine kleine Inventur des Motivs in der Gegenwart durchführen. Dagegen ließe sich nichts einwenden, wenn dieser offensichtliche Gegensatz, der schließlich auch in den Begleittexten angesprochen wird, kuratorisch weiter aufbereitet würde als es eine bloße Gegenüberstellung zulässt. Dennoch findet man in den oberen Etagen des Frankfurter Kunstvereins einige Arbeiten, die diesen Mangel nicht auf sich ziehen lassen müssen. Allen voran sei an dieser Stelle lediglich das größere Konvolut aus Arbeiten von Barbara Probst hingewiesen, das durchaus eine eigene Betrachtung wert wäre. So interessant Probsts elaboriertes Spiel mit den unterschiedlichen, zeitgleich abgelichteten Perspektiven auf immer wieder dasselbe Motiv ist, fällt es doch schwer, es in einem angemessenen Rahmen über Selbstporträts zu diskutieren. Denn wenn auch manche der Arbeiten die Künstlerin zeigen mögen, sind alle Werke aus dieser Reihe viel mehr als das. Daher sei an dieser Stelle lediglich auf die vielen, insgesamt sehr informativen Essays und Interviews hingewiesen, die Probst auf ihrer Website sammelt.
Schließlich findet man aber auch hier, wo man kein Selfie mehr erwarten mag, einige Arbeiten von Eva Weingärtner, die eben genau das sind. Die kurze Videoarbeit »2me« treibt die Losung der Ausstellung in ihrem Beitrag auf die Spitze treibt, zeigt es doch die Künstlerin, die ihr Spiegelbild erst innig liebkost, bald küsst, dann damit zunehmend abweisend und endlich aggressiv umgeht. Ob man dieses Verhalten als auf sich selbst, den Spiegel als Bildträger oder das darin enthaltene Bild bezogen versteht, ist so offen wie zunächst unerheblich, weil das narzisstische unter allen Motiven schon allein aus bildhistorischen Gründen so sehr überwiegt, daß es gute Gründe braucht, der Künstlerin eine andere Intention zu unterstellen. Damit ist »2me« sicherlich die oberflächlichste der hier versammelten Arbeiten, doch immerhin prägnant genug, um ohne großes Gewese auszukommen.
Allein die Gegenüberstellung mit den restlichen Exponaten der Schau ist nennenswert genug, denn sie legt die Tendenz der Kuration nahe, daß es doch – irgendwie – um Selfies ging. Allerdings wird Eva Weingärtner Geduld beweisen müssen: Auf eine kritische, vor allem aber stringente Auseinandersetzung mit dem Phänomen muss man weiterhin warten.
An dieser Stelle sei auch dem 25h-Hotel »The Goldman« gedankt, das die Großzügigkeit bewies, mir den Besuch der Ausstellung und damit auch diesen Artikel mit einer kostenlosen Übernachtung in einem ihrer Zimmer zu ermöglichen. Das Konzept des zentral gelegenen Hauses umfasst die Gestaltung jedes der Zimmer aber auch der Flure durch die Hand des Künstlers Michael Dreher, der sich jeweils mit einer bedeutenden Person der Zeitgeschichte auseinandersetzte, um ihnen aus dieser Inspiration heraus je ein künstlerische Widmung zukommen zu lassen. Wer freundlich fragt, kann auf eine kurze Führung hoffen, die tatsächlich einige interessante Überraschungen bereithält.