
Horst Ademeit: Ohne Titel; courtesy Galerie Gebr. Lehmann
An einem lauen Sommertag sieht man einen älteren Herren verstohlen durch die Straßen Düsseldorf-Flingerns huschen. Ein dicker Mantel fällt von seinen Schultern, die Hände umklammern eine veraltete Polaroid-Kamera. Seine Blicke suchen akribisch die Umgebung ab, während mit jeder hastigen Bewegung ein leises Rascheln aus den Kleidern des Mannes dringt. Bald schießt er ein Foto. Schaut auf die Uhr, notiert die Zeit, blickt sich noch einmal genau um und verschwindet dann wieder.
Über Horst Ademeit ist nicht viel bekannt. Als Kunststudent von Beuys verschmäht, als Pädagoge nicht gebraucht, rutschte der Kölner bald in die Arbeitslosigkeit. Bald bezog er eine Sozialwohnung im zweiten Bezirk, wo er für mehr als zwei Jahrzehnte als einer jener kauziger Urgesteine gegolten haben muss, ohne deren Biographien und Geschichten ein jeder großstädtiger Kiezmythos undenkbar wäre.
Ob Ademeit tatsächlich als der scheue Fotograf Flingerns bekannt war, kann allerdings nur spekuliert werden. Es fällt jedoch leicht, anhand der tausenden beschrifteten Polaroids aus seinem Nachlass diese Vorstellung jenes Mannes zu gewinnen, von dem immerhin bekannt ist, daß er dreitausend selbstgedrechselte Holzkügelchen am Körper trug, um sich gegen schädliche Kältestrahlen zu schützen. Die allgegenwärtige Gefahr: ein Hirngespinst. Die Fotos galten der Dokumentation und Beweisführung: alles um ihn herum sandte jene gefährliche Strahlung aus, die den Körper verzehrt. Autos, Baustellen, Nachbars Privatleben, sogar die eigene Toilette. Derweil lieferten Weltgeschehen und auch die Werbung Hinweise auf die Ausbreitung der Kältestrahlen. Alles wurde peinlich genau mit der Kamera festgehalten.
Horst Ademeits Ideen und Gedanken waren zweifellos wahnhaft. Seine Fotografiebesessenheit war jedoch die Quelle für ein einzigartiges Zeugnis, das nach seinem Tode als Outsider Art anerkannt wird. Mit beachtlichem Erfolg: Ademeits Œuvre bereiste die Welt, wurde 2011 im Hamburger Bahnhof (»secret universe«) gezeigt, im Folgejahr auf der 30. São Paulo Biennale sowie in der Turiner Dependance der aus Berlin bekannten Galerie Norma Mangione ausgestellt, ehe es in diesen Wochen seinen Weg in die Galerie Gebrüder Lehmann fand.

Horst Ademeit: Ohne Titel (26.03.1993) und (10.12.1993); courtesy Galerie Gebr. Lehmann
Dabei wäre wäre das Lebenswerk des Düsseldorfers fast unentdeckt geblieben: Als der 1937 in Köln geborene Ademeit 2008 in ein Düsseldorfer Pflegeheim einzog, übergab er einer dort Angestellten seinen Nachlass, der auch eine Sammlung von 10.000 Fotografien enthielt, die seit 1987 entstanden. Erst später gelangten sie durch einen aufmerksamen Arzt zu Susanne Zander, deren Düsseldorfer Galerie sich auf Art Brut, also Kunst von Laien und geistig Kranken, eben: Outsider Art spezialisiert. Dort wurde der Nachlass gesichtet und nahm von da aus seinen Weg durch die Ausstellungshäuser.
Doch was macht sie aus, die Polaroids eines Paranoiden? Es ist die überwältigende Masse an Fotos samt mikroskopischer Annotationen, die den Rand der Polaroids säumen, sich auf ihrer Rückseite und beigelegten Blättern fortsetzen, die den Alltag eines Mannes dokumentieren, dessen Sorgen und Ängste einzig gefährlichen Kältestrahlen galten.

Horst Ademeit: Ohne Titel (16.02.1994); courtesy Galerie Gebr. Lehmann
Eine Aufnahme vom 16. Februar 1994 verdeutlichen das Ausmaß der paranoiden Vorstellungen Horst Ademeits. Sie zeigt einige Autos, im Hintergrund Wohnungsbauten, eine Bushaltestelle, eine Werbeanzeige. Man möchte meinen, eine gewöhnliche Flingerner Straßenszene. Ademeit jedoch notiert dazu folgendes:
»Albertstr/Behrenstr.
seit Wochenbeginn oder schon während des letzten Wochenendes:
links WALL-WERBUNG ›CHINA FERTIGKOST‹ für TIEFKÜHLKOST.
und rechts die LOTTO-RUBBELWerbung ›Mona Lisa‹ mit Sonnenbrille und Munch ›Schrei‹ «
Tiefkühlkost und Sonnenbrillen. Welchen Eindruck diese unheilvolle Konstellation auf ihn gemacht haben muss, lässt sich nur erahnen. Doch nicht alle Fotos entlarven die gefürchteten Strahlen so leicht. Ademeit erkennt in Baustellen, parkenden Autos, selbst im Turnus des Plakatwechsels Hinweise auf die Kältestrahlen. Das Verhalten ist für eine wahnhafte Störung typisch: Ademeits gesammelte Dokumentation offenbaren eine Person, die einer präzisen, aber objektiv irrealen Idee anhängt, und auch nicht von seinem Irrglauben abkommt, wenn Argumente und Beweise vorgelegt werden, die das Gegenteil bezeugen. Auch Details aus dem Alltags werden schnell in das Ideengebäude eingebracht. Ein systematischer Wahn entsteht, der für den Betroffenen eine solch große Bedeutung erlangt, daß jeder Kritiker in tiefen Zweifel gezogen wird, jeder Widerspruch ein Teil des aufwändig aufrecht erhaltenen Systems ist. Solch komplexe Wahninhalte können so stark ausgebaut und mit logischen Belegen unterstützt werden, daß eine echte Paranoia entsteht, die noch schwieriger zu durchbrechen ist.
Horst Ademeits Wahn nahm offenbar dieses Ausmaß an, dessen Beleg nun die vielen Tausend Fotografien sind. Mit diesem Dokumentations- und Argumentationssystem konnte er auch darlegen, daß sogar sein Nachbar Teil der Angelegenheit war. Am 23. August 1996 bemerkte er: »Voß Podest Sichtschutz vergrößert«. Februar 1997 dann: »Voß Bettzeug mal wieder im offenen Fenster seit mehreren Monaten«. Im folgenden Jahr wird der Zusammenhang des Nachbarn zu den Kältestrahlen noch klarer:
»am 20. April 97 1330 Uhr 3 Lux 10° Außentemperatur […] Voß Terrasse = vermutlich ist das Tuch naß/feucht – seit 12 Uhr Voß Aufenthalt bei 10° auch mal 9° auf der Terrasse in schwarzem Pullöverchen bzw. ganz in schwarz wie damals auch […] fast ganz nackt […]«
Auf diese Weise ging Ademeit mit höchster Obsession dem Sammeln weiterer Belege nach. Für »ewige Baustellen« entwickelt er ein besonders wachsames Auge (»gestern war der Teleskop Kran schwarzgelb noch damit beschäftigt die schwarzen Rohre auf den 13 blauen Wasser Silos anzubringen«, 21.3. 2003), aber auch kleinere Bauarbeiten beobachtet er mit Mißtrauen:
»am 26. April 95 – 1055 – 2 Arbeiter seit 930 auf Hof hauptsächlich mit Bohren beschäftigt auf Podest […] 1 Arbeiter mit Schnäuzer trägt Ohrring […] 1545 die 3 Stahlrohre = 10cm Ø mit Hammer auf Podest«

Horst Ademeit: Ohne Titel (13.06.1993); courtesy Galerie Gebr. Lehmann
Dennoch hielt sich Ademeit mit vorschnellen Urteilen zurück. Aus seinen Kommentaren geht er als wachsamer Beobachter seiner Umwelt hervor, der mit der größtmöglichen Genauigkeit und Vorurteilslosigkeit dokumentiert und archiviert, was um ihn herum geschieht. Nicht nur diese Observationsfotos, wie Zander sie nannte, auch die Serie der Tagesbilder offenbart einen wissenschaftlichen Anspruch von Objektivität. Ademeit fotografierte hierzu in ähnlich unüberschaubarem Umfang stets eine aktuelle Tageszeitung – meist die Bild –, sowie allerlei Messgeräte, um im Anschluss persönliches Befinden mit physikalischen Daten und aktuellem Weltgeschehen in Verbindung zu bringen. Vermutlich zu Archivierungszwecken wurden sie fortlaufend nummeriert und aufbewahrt. Mit Kompass, Uhr, Thermometer Helligkeits‑, Strom- und Feuchtigkeitsmessgerät, sogar einem Geigerzähler studierte er seinen Alltag und notierte knapp die Ergebnisse. »Am 1. Mai 99 = Samstag 101148x15’18’00 Lux 94349x15’17’00 Lux 2280, Tag ohne Blitz«. Naturereignisse nahm er offenbar als besonders wichtige Hinweise auf; so wies er in seinen Notizen unter anderem auch auf ein Erdbeben in Griechenland und den Ausbruch des Krakatau hin. Auch der Sport war von Belang: »Schalke 1:0 KarlsruherSC 2:0 Freiburg 4:1«. Selbst den Brandanschlag von Solingen kommentierte er: »- 15. Juni 93 über Solingen: »Türken Wohnungsbrände haben laut Polizeibericht keinen politischen Hintergrund!«
Horst Ademeit kontinuierliche Arbeit, die er über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg betrieb, nahm schnell eine besondere Bedeutung an. Nachdem seine Notizen in den frühen Neunzigern immer ausführlicher wurden, füllten sie wenige Jahre später in immer kleinerer Schrift nicht nur mehr die Vorderseite, auch die Rückseite aus. Ademeit wurde in kürzester Zeit zu einem Chronisten Düsseldorf-Flingerns, der ähnlich wie Roman Opałka, Hanne Darboven und vor allem On Kawara durch ein iteratives Niederschreiben und in Ademeits Falle auch Fotografieren, die Zeit einfing und auf dem Papier festhielt. Deren Lebenswerke begannen nur wenige Jahre, bevor Ademeit 1970 den Weg an die Düsseldorfer Kunstakademie fand, wo Beuys die Werke seines Schülers als »Kunstgewerbe« abtat. Ademeit war enttäuscht und verließ die Hochschule. Der Schluss, daß er sich in den Jahrzehnten nach seiner kurzen Künstlerlaufbahn an diesen Vorbildern der Day Paintings und Zählsysteme orientiert habe, geschieht leicht, missachtet aber, daß die Polaroids in einem krankhaften Kontext entstanden und später auch selbst von Ademeit so eingeordnet wurden. Als in den letzten Wochen und Monaten vor seinem Tode im Juli 2010 absehbar war, welches späte Interesse ihm die Düsseldorfer Kunstwelt entgegenbrachte, war Ademeit erstaunt, »denn im Ursprung war alles eigentlich nur ein Registrieren, Fotografieren, Tatsachen-Anerkennen zum eigenen Schutz«, wie er an Zander schrieb.
Wie wurde dieses Archiv dann aber zu Kunst? Dazu brauchte es weder die Intention des Künstlers, noch die ausgefeilte Komposition, die seinen Bildern von manchen Kritikern unterstellt wurde. Auch der verlockende Blick in die Psyche und den Alltag eines von einem Wahn ergriffenen Mannes ist zunächst ein medizinischer, den sich die Kunst in der Folge aneignete. Die Präsentation hinter Glas und im kuratorischen Kontext hat gewiss ihren Teil getan, wodurch erstmals geordnet und systematisch der Blick auf Werk und Künstler gerichtet werden konnte. Vielleicht findet man letztlich in der quasiwissenschaftlichen Methodik Ademeits, die seine Umwelt und die Kältestrahlen im Blick hatte, doch aber mehr über den Forschenden verrät, einen künstlerischen Wert in der Form, wie sich das Kunstwerk schon oft dem Künstler bemächtigte.