Eine heilige Dreifaltigkeit der besonderen Art traf sich am 1. Juli 1959 im Ypsilanti State Hospital, Michigan: Unter der Aufsicht des dort tätigen Psychologen Milton Rokeach begegneten sich an jenem milden Sommertag drei Männer und stellten einander vor. Der Erste: »Ich heiße Joseph Cassel und ich bin Gott.« Der Zweite: »Ich heiße Clyde Benson. Ich wurde Gott.« Der Dritte stellte sich jedoch nicht als der Leon Gabor vor, als den man ihn kannte, er sprach gleich klaren Wortes: »Auf meiner Geburtsurkunde steht, dass ich der wiedergeborene Jesus Christus von Nazareth bin.« Konflikte waren nicht nur vorprogrammiert, sie waren auch Ziel und Zweck des von Rokeach geplanten Experimentes.
Die drei Patienten teilten ein Zimmer, die Therapiesitzungen und vor allem viel Zeit, um sich gegenseitig mit der Frage zu konfrontieren, welcher der drei Männer der leibhaftige Messias sei. Sie entwickelten verschiedene Ansätze zur Aufklärung des Problems: Benson sah in seinen Kameraden plumpe Imitatoren. Für Cassel war die Angelegenheit klar: Er hielt seine Genossen für Maschinen. Gabor wusste immerhin, daß er der wahre Jesus Christus sei, schließlich befanden sich Benson und Cassel in psychiatrischer Behandlung. Selbstsicher händigte er in der Anstalt Visitenkarten aus: »Dr. Domino dominorum et Rex rexarum, Simplis Christianus Puer Mentalis Doktor, der wiedergeborene Jesus Christus von Nazareth«.
In den folgenden Jahren entwickelten die Patienten verschiedene Strategien, um einerseits die Behauptungen ihrer Genossen zu entkräften und andererseits ihre eigene Identität zu bewahren, ehe das Experiment abgebrochen und ihre Gemeinschaft aufgelöst wurde1.
Tatsächlich sind solche religiösen Wahnstörungen nicht selten. Derartige megalomanische Denkinhalte, ein Prophet, der Messias, Jesus Christus oder gar Gott zu sein, häufen sich jedoch auffällig stark im Heiligen Land, wo betroffene Einheimische, Pilger und Touristen an der besonderen Form des Jerusalem-Syndroms erkranken. Diese psychotische Störung ist in der heiligen Stadt endemisch, wo jährlich etwa einhundert Personen erkranken. Die Betroffenen halten sich für Figuren des Alten oder Neuen Testaments, häufig gar für Mose, König David oder Jesus Christus selbst. Stets erkennen sie sich in einer gleichgeschlechtlichen Identität wieder, die zudem mit der eigenen Religion übereinstimmt. Infolge dieser Erkenntnis vollziehen sie den Wandel vom Saulus zum Paulus nicht selten mit einer Umstellung der eigenen Lebensführung, angepasstem Verhalten und entsprechender Kleidung.
Die polnische Künstlerin Katarzyna Kozyra besuchte während der Osterzeit des vergangenen Jahres die Stadt und begab sich mit einem Filmteam auf die Suche nach Personen, die sich selbst für Jesus Christus halten. Nach bisher fünfzig Stunden gesammelten Filmmaterials, gibt die Galerie Żak Branicka dieser Tage eine Vorschau auf die noch laufende Arbeit: »Looking for Jesus«.
In den insgesamt etwa eine halbe Stunde ausmachenden Ausschnitten macht Kozyra immerhin eine Begegnung mit einem Jesus. Wie beiläufig findet sie ihn auf einer gewöhnlichen Jerusalemer Straße. Da steht er nun, im Gespräch mit einem älteren Muslimen, der mit einem Esel auf den Bus wartet: Dieser schlanke Jesus ist in ein strahlend weißes Gewand gekleidet, das durch einen goldenen Stern und ebenso goldene, kunstvoll verschlungenen Ornamente an Kragen und Ärmeln geschmückt ist. Der gepflegte, dunkle Bart läuft am Kinn zu einer kleinen Spitze zu, die dem penibel frisierten Mittelscheitel einen zackigen Kontrapunkt entgegensetzt. Langes, gewelltes Haar fließt von seinen Schläfen herab, umströmt das sonnenbeschienene Gesicht des jungen Mannes, der vielleicht erst um die dreißig Jahre alt ist. Wild gestikulierend und mit Bruchstücken englischen Vokabulars vereinbart er mit dem alten Mann, daß beide, aber unbedingt auch der Esel sich später treffen würden. Ihm ist diese sonderbare Gestalt sichtlich ungeheuer. Er versteckt sein Gesicht hinter langen Tuchbahnen, nickt freundlich, hofft vielleicht, daß dieser energische Jesus ihn in Ruhe ließe.

Katarzyna Kozyra: »Looking for Jesus« (filmstill), 2012/2013; Foto: courtesy Żak Branicka
Katarzyna Kozyra wohnt dem sonderbaren Schauspiel bei, versucht sich gelegentlich einzumischen: »Are you Jesus?« Der Zaungast bleibt unbemerkt, steht da nun eine Weile, vergessen und auch ein wenig naiv abwartend. Wichtig ist nur, daß abends der Esel erscheint. Später wird klar, daß der Sohn Davids am Palmsonntag auf ihm durch das Stadttor reiten würde. Doch vorerst war diese Angelegenheit geklärt, Jesus eilt mit einem Mal davon. Kozyra hinterher. »Jesus, wait for me!« – »I will come back« schallt es durch Jerusalems Gassen. Passanten werden neugierig, sie scheinen ebenso wie der Zuschauer über diese aberwitzigen Szene irritiert zu sein. Kozyra wirkt naiv, unsicher. In Jerusalem hat die Polin ihren Messias gefunden, doch der rennt einfach nur davon.
Später trifft sie ihn tatsächlich wieder. Der gebürtige Russe lädt sie nach Hause ein: zwei Männer sitzen auf dem Sofa, im Schlafzimmer stehen Doppelstockbetten. Eine Internatsstube, aber mit Balkon. Im Interview offenbart sich ihr Gastgeber als der Nachfahre Davids. Selbst in seinem Ausweis stünde, er sei der wiedergeborene Messias. Skepsis kommt nun auf beiden Seiten auf: Ein offensichtlich Geisteskranker realisiert, daß dieses Filmteam ihn nicht so vorbehaltlos als seinen Erlöser anerkennen will, wie er es erhoffte. Wie zum Beweis präsentiert der russische Christus Stigmata, die die Kamera ja ohnehin nicht erfassen könne: auf dem Rücken, nicht an den Händen oder Knöcheln, zeigt er einen kaum auszumachenden Fleck. Kozyra begutachtet und betastet das vermeintliche Wundmal. Ihrem israelischen Begleiter ist der Zweifel förmlich ins Gesicht geschrieben.

Katarzyna Kozyra: »Looking for Jesus« (filmstill), 2012/2013; Foto: courtesy Żak Branicka
Spätestens in dieser Szene wird deutlich, daß Katarzyna Kozyra nicht nur die Aufnahmeleitung für »Looking for Jesus« übernimmt, nicht nur als suchende Dokumentarin auftritt. Im Kontakt mit den restlichen Figuren des Films wird sie selbst zu einer Darstellerin, die stellvertretend für den Zuschauer in diese eigentümliche Welt der Osterzeit eintaucht. Kozyra selbst steht im Mittelpunkt ihrer dokumentarischen Suche, die neben dieser geschilderten Begegnung unter bisher dreien dieser Art, auch andere Erfahrungen und Momente im Jerusalem des vergangenen Frühjahres einfängt. Auch das muslimische, jüdische und weitere christliche Stadtleben werden zum Thema, wenn Kozyra Mohammed-Anhänger interviewt, zum Islam konvertierte Pilger begleitet oder einer orthodoxen Karfreitagsprozession in der Grabeskirche beiwohnt. Die in diesem Vorschaufilm schon eingebrachte harte Schnittweise vermengt die Angehörigen und Pilger all dieser Religionen und Konfessionen so bunt untereinander, wie das religiöse Leben in Jerusalem pulsiert.
Dadurch treten die vielen anonymen, aber auch einige wenige herausgegriffenen Figuren dieses Schauspiels als Darsteller einer Performance auf, die aus der stetig wiederholten Folge liturgischer Rituale, strömender Pilgerscharen sowie dem Tränen- und Blitzlichtgewitter ihrer Teilnehmer besteht. Diese Massenphänomene, in denen ein kollektiver, aber in seiner Ausprägung vielfältiger Leib dem einen Gott huldigt, in denen der Einzelne verschwimmt und untergeht, werden aber auch durch die Anwesenheit und das Verhalten Katarzyna Kozyras exemplifiziert, die nicht mehr nur als Beobachterin, sondern selbst als Teilnehmerin auftritt. Sie taucht in die Prozessionen ein, fotografiert und schaudert ebenso, ist aber – und nur darin offenbart sich ihre Distanz zum sie überrollenden Geschehen – oftmals unsicher und schüchtern. Dann steht sie inmitten der Ostergemeinde, traut sich aber nicht, einen dort ebenfalls anwesenden Jesus anzusprechen. Stattdessen filmt sie aus dem Hinterhalt (im Übrigen eine der wenigen auffallenden unkommentierten Szenen), gibt vor, sich selbst aufzunehmen und muss doch scheitern: ein sanftes Lächeln entgleitet dem sorgsam beobachtenden Beobachteten, dessen barmherziger Blick selbst durch Kamera und Bildschirm hindurch den Zuschauer trifft.

Katarzyna Kozyra: »Looking for Jesus« (filmstill), 2012/2013; Foto: courtesy Żak Branicka
In diesen raren Momenten, in denen das Persönliche aus der Masse heraussticht – sei es im Interview, in der Beobachtung oder dem Verhalten und Kommentar der Künstlerin –, ahnt man, daß in dieser Stadt zu dieser Zeit oder zumindest in diesem Film Rollen besetzt und erfüllt werden, die alles andere als fest und beständig, die fließend und manchmal auch willkürlich belegt sind. Der Jesus aus dem Wohnheim ist kein anderer als der Jesus aus der Ostergemeinde oder der unter Tränen vom Kreuze genommene hölzerne Jesus, ebenso wie sich der marokkanische Pilger nicht vom Mohammed-Scholaren oder dem Eseltreiber unterscheidet und auch Clyde Benson, Joseph Cassel und Leon Gabor ein und derselbe sind. Hier werden feste Rollenbegriffe immer wieder durchdekliniert und ausprobiert, neu besetzt und erweitert, sodaß ein jeder Jesus und ein jeder Pilger ist. Manche können diese Rolle nur aus einem Wahn heraus besetzen, andere folgen ihrer festen religiösen Überzeugung. Eine solche Konvertibilität religiöser Rollen kennt man bereits aus Christian Jankowskis »Casting Jesus«, auch in Anwandlungen aus der Geschichte der neuzeitlichen Stigmata, die entsprechend der lokal verbreiteten Darstellungsgewohnheiten des gekreuzigten oder auferstanden Jesus hier an den Händen und dort an den Handgelenken auftreten.
Die Erkenntnis hieraus ist, daß die kulturelle Gestaltung religiöser Inhalte einem kollektiven Prozess unterworfen ist, der sich in lokalen und zeitlichen Nuancierungen ausprägt. Glaube und Wahnsinn sind in dieser Hinsicht und auch für »Looking for Jesus« nachrangige Dimensionen einer sich stetig selbst reproduzierenden Kulturpraxis. Teilnahme und Beobachtung sind ebenfalls keine grundlegenden Determinanten für den Erfolg dieser Kulturen, mithin sind sie gar nicht von einander zu trennen, wenn Kultur als Experiment konstruiert wird, sich aber unversehens dieser Kontrolle entzieht. So bleibt sowohl mit Milton Rokeach als auch mit Katarzyna Kozyra zu konstatieren, daß die Wirkkreise der beteiligten Akteure unmerklich aber rasch verschwimmen. Wer ist Darsteller und wer ist Beobachter einer Performance? Diese Trennung ist hier nicht mehr möglich.
- Milton Rokeach: »The Three Christs of Ypsilanti«. New York City 1964. ↩