Auf der Pilgerschaft zur vergangenen Kitty-Kraus-Schau musste der entschlossene Besucher einige Hürden nehmen. Schließlich stellte die Künstlerin ihre neusten Arbeiten an einem von der Außenwelt abgeschotteten Ort aus. Zunächst war der Weg zu den Räumen der Galerie Neu in der Philippstraße zu bewältigen, die sich dort abseits großen der Kunst-Hotspots an den Campus der Charité schmiegt. Dieser Weg ist auf der Berliner Kunstkarte ein besonderer, denn an der Galerie Neu spaziert man nicht einfach vorbei wie man es auf einem Bummel durch die Potsdamer Straße pflegt, wo man auf diese Weise immer wieder eine Überraschung erlebt. Nein, den Weg zur Galerie Neu geht man stets nur festen Entschlusses. In den vergangenen Wochen war es Kitty Kraus, die zur Pilgerschaft in die Philippstraße lockte. Dort angekommen, blieb die Tür jedoch versperrt. Man möge den Seiteneingang nehmen. Auch dort: klopfen und warten.
Dann wurde einem die schwere Tür in den hermetisch abgeriegelten Bunker aufgetan, in den Kraus das zierliche Gebäude verwandelte. Durch das Büro gelangte man in den Ausstellungsraum, wo sich das Geheimnis um diese penible Isolation lüftete. Wo einst Fenster und Türen waren, schlossen sich nun die kalten Wände um den kleinen Raum und nahmen in sich schützend das Sanktuarium auf, das Kraus hier den Besuchern eröffnete. Hier inszenierte die Künstlerin abgeschottet von der Außenwelt die strenge, aber fragil vibrierende Kühle ihres bekannten, reduzierten Formeninventars. Foucault hätte an diesem Ort sicherlich seine Freude gehabt.
Das selbstgewählte Exil war jedoch gewiss kein Selbstzweck. Ebenso wie sich Mönche auf ihrer Peregrinatio vom Lärm ihrer profanen Umwelt ab- und dem Geist zuwandten, braucht auch Kraus‹ Kunst einen stillen Ort, um sich darin behutsam entfalten zu können. Im Trubel der hektischen Metropole ginge sie hinter der Glasfront jedes gewöhnlichen Ausstellungsraumes unter. Schließlich sind ihrer Arbeiten als das schwache Licht, das erst im Dunkeln funkelt, bekannt – hier, in der Galerie Neu, war dies durchaus wörtlich zu nehmen.
Materialität hat einen großen Stellenwert in Kraus‹ Installationen, ist oftmals sogar der Schlüssel zu einer stummen Dramatik. Dieses Mal war es Licht, ein für die Künstlerin ungewöhnliches Medium. Zwei gleichartige Stelen, ihrer Natur nach eher etwa einen Meter hohe Sockel quadratischen Querschnittes, die mit hellem Linden- oder Ahornholz ringsum verkleidet und oben mit einer getrübten Glasplatte abgeschlossen waren, standen je mittig in einem der Räume. Zwischen Stele und Glas drang durch einen schmalen Spalt nach allen Seiten ein helles, weißes Licht hervor. Als einzige Beleuchtung in dem sonst von allem künstlichen und Tageslicht abgeschotteten Raum beschien es die umliegenden Wände, jedoch so schwach, daß die Stelen wie Leuchttürme in der Dunkelheit standen. Jedoch, ein schwarzer Streifen bleibt frei. Auf Höhe der Stele zieht er einmal rings über die Wände, von einem Raum in den anderen, und teilt sie in ein lichtbeschienenes Oben und Unten – aber warum bleibt er selbst im Schatten?
Diese Frage beschäftigt den ratlosen Besucher, sie bohrt in ihm und so erkennt er auch bald handwedelnd, daß sein eigener Schatten sich nur dann scharf abzeichnet, wenn er seine Hand unmittelbar vor den Spalt hält. Ein Hindernis muss hinter dem Spalt eingebracht sein, so vermutet er drängenden Forschens – aber nein, berühren verboten. Es scheint bald, daß die Stele gar kein Licht ausstrahle, sondern, im Gegenteil, das gesamte Licht des Raumes in sich aufsauge. Die undurchdringlichen Wände schützen demnach nicht den Raum, den sie umfangen, sondern schirmen die Umwelt vor der Gefahr ihm ab.
Im Kontakt mit den Installationen von Kitty Kraus entstehen oftmals solche lebhaften Fantasien. Das braucht die Künstlerin nicht zu kümmern, denn die kühle Strenge ihrer bis aufs Äußerste reduzierten Formen und die stumme Dramatik ihrer bis an ihre Grenzen gebrachten Materialien sprechen mit beeindruckender Gewalt und doch wortlos für sich. Dies als minimale Kunst zu bezeichnen, würde ihre Essenz verfehlen, denn dieses Destillat, das langsam tröpfelnd aus der Reduktion der Formen gerinnt, ist weder Objektivität noch Entpersönlichung, sondern die heiße Wallung eines brodelnden Gemüts, das nicht der Künstlerin, sondern dem Material entspringt.
In diesem Sinne entsprechen die Stelen Kitty Kraus‹ einem wilden Konzept, das 2010 von Niels Betori Diehl und Barbara K. Prokop nach eingehender Beobachtung unter dem Schlagwort »Autofaschismus« in einer kuratierten Ausstellung auf den Prüfstand gestellt wurde. Unter dem Titel »UEBERMODELS« legten sie den Fokus »auf eine[r] Strategie der Reduktion, die zu einer Steigerung der Komplexität führt. Der Ausgangspunkt ist ein intellektueller Prozess und kein formaler Ansatz, der nur zu einem sterilen Minimalismus führt.»1. Diehl und Prokop sehen in dem Überfluss an Informationen, Bildern, Einflüssen und Wahlmöglichkeiten und dem daraus entstehenden Entscheidungszwang eine Scheinfreiheit die das »Bedürfnis nach etwas Scharfem und Klaren, nach einem ästhetischen Felsen in der Brandung« begründet. Sie konstatieren, daß die Positionen der autofaschistischen Kunst »von einer Sehnsucht nach einer genuinen und zeitgemäßen Form von Authentizität gesteuert zu sein [scheinen] […] und sie bringen dabei eine Art von Ironie zum Einsatz, die ein Ausdruck von gleichzeitigem Kommitment und Detachiertheit ist.« Zwar war Kitty Kraus in der Ausstellung bei Program nicht vertreten, doch hätten sich ihre leuchtenden Stelen gut dort eingereiht. Das unerwartete Verhalten des Materials Licht führt zu eben einer solchen Steigerung der Komplexität, auf die der forschende Betrachter mit dem Versuch reagiert, sie mit Gehalt aufzuladen. In der Verweigerung solcher Erklärungsmuster (der Detachiertheit) entsteht jene magische Ästhetik, die bereits in vielen anderen Arbeiten Kraus‹ den Betrachter fesselt. Er ist es gewohnt, daß der Alltag im Überfluss an Informationen, Bildern und Einflüssen solche Deutungsmuster anbietet. Wenn nun aber das Wesen der Dinge hinter einem Rätsel versteckt wird, zumal einem solch geschickten Rätsel wie Kraus‹ Schattenstreifen, und seine Lösung zurückgehalten wird, entsteht daraus eine starke Anziehung.
Das Prinzip ist kein neues, man kennt es schon von anderen Installationen der Künstlerin, die die Besucher vielerorts verwundert zurückließen: Wie kann Glas sich so stark biegen? Warum kann es so starr und der Schwerkraft zum Trotz im Raum haften bleiben? Wie kann ein Eisblock schwarze Tinte bluten und damit den Raum besudeln? Auf diese Fragen gibt Kitty Kraus keine Antwort. So hält schließlich die Begeisterung über diese fragile, stille Ästhetik an.
- aus: »UEBERMODELS« (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung bei PROGRAM e.V.). Berlin 2010. aus dem Vorwort (ohne Seitenangabe) ↩