Gebaute Räume sind stets auch kulturelle Räume: Als ein soziales Gefüge, das Architektur in Kultur und Kultur in Architektur übersetzt, ist das Phänomen der Stadt durch viele Autoren beschrieben worden. Infrastruktur entsteht demnach dort, wo der Homo faber seine Umwelt nach Gestalt seiner Routinen und seinem sozialen Gewebe umformt. Umgekehrt entsteht und verfestigt sich Kultur dort, wo ein gebauter Raum soziale Praxis erzeugt und formt. Beide Pole: Architektur und Kultur sowie ihre wechselseitige Wahrnehmung stehen demnach in einem ständigen Austausch der Umformung. Für das Beispiel New York beschreibt Rem Koolhaas die Anekdote des französischen Kupferstechers Jollain, der 1672 eine Stadtansicht anfertigte, um dem fernen Europa ein Bild der Neuen Welt zu zeichnen. Dieser detaillierte Stich Neu Amsterdams zeige ausgedehnte Hafenanlagen und weitläufige Komplexe für die Verarbeitung und Lagerung von Fellen – Merkmale, die die Stadt auf dem nordamerikanischen Kontinent verorten. Dahinter erstrecke sich ein Raster aus Straßenzügen und Blocks, das einzig durch den Broadway durchkreuzt werde. Koolhaas entlarvte diese Darstellung Neu Amsterdams als fiktives Arrangement europäischer Komponenten, die in einem unerkennbaren, »doch letztlich akkuraten« Ganzen aufgingen, das Koolhaas als ein utopisches Europa erkennt. »The city is a catalogue of models and precedents: all the desirable elements that exist scattered through the Old World finally assembled in a single place.»1 Soziale Praxis formt auch hier, in Jollains Vorstellung einer üblichen Stadtordnung abstrahiert, den wiederum im Bild kartierten, gebauten Raum. Einmal offenbart, spiegelt die Diskrepanz zwischen Bild und Stadtbild unweigerlich auch die Diskrepanz zwischen den Kulturen Europas und Neu Amsterdams wider.
Beispiele wie dieses sammelten die vier Künstler, die in der Galerie Alexander Levy für die Ausstellung »The world is stable now« aufeinandertrafen. Ausgehend von einem gleich lautenden Zitat aus Aldous Huxleys »Brave New World«, das mit dieser unheimlichen Feststellung seine Dystopie der Ewigkeit weiht, demonstrieren sie, daß das derart verfestigte soziale Gefüge gegenwärtig auf einem brüchigen Fundament steht. Auf der Suche nach den Rissen und Spalten zwischen Faktum und Fiktum einer sich baulich und kulturell reziprok konsolidierenden Welt vermessen sie die Kluft zwischen Utopie und Realität kulturell aufgeladener Räume: Filmsets, Werbefotografie, Postkartenidyllen, aber auch der städtische Raum müssen sich ihrer Prüfung unterziehen.
So spürt Diana Artus in einem umfangreichen Teil der Ausstellung die Metrik öffentlicher Räume auf. Mit herkömmlichen Printverfahren zu Papier gebracht, verfremdet sie Stadtansichten und Architekturfotografien mithilfe einer Vielzahl von Verfahren: Faltung, Abnutzung, Übermalung, Kleistern und Erweiterung mit aufgebrachtem Pappmaché halten diesen Räumen einen Zerrspiegel vor. Gebäude schmelzen sich und sinken zusammen, tropfen wie zähes Kerzenwachs auf Passanten nieder und erstarren in langgezogenen, grotesk aufgeblähten Klinkersteinwalzen. Andernorts geht eine Erschütterung durch den Raum und legt die Fassaden von in Becher’scher Präzision abgebildeten Gebäuden in Wogen und manchmal verschluckt eine Falte im Raum gar einen ganzen Straßenzug.
Im Kollaps offenbart das Weltgefüge zwischen klaftertiefen Spalten einen metrischen Brei aus gebauter und gelebter Realität. Artus liest darin die strukturelle Instabilität des öffentlichen Raumes ab. Sie verzerrt ihn bis zur Unkenntlichkeit und versetzt ihn ins Wanken, zieht die Wahrnehmung in Zweifel und konfrontiert sie mit einer anderen, einer neuen Raumordnung. Das kartesische System, auf dem das Weltgebäude in Stein und in Kultur errichtet ist, weicht den chaotischen Turbulenzen, in denen sich die vielfältigen, wechselhaften Abhängigkeiten zwischen gebauten und sozial geformten Räumen verknoten.
Doch es sind nicht nur Strukturen, sondern auch Inhalte von der in »The world is stable now« vorgenommenen Inventur kulturell geprägter Räume betroffen. Eine Kritik des instrumentalisierten Bildes wird in Leon Kahanes für sich stehenden Beitrag einer Studiosituation mit Greenscreen angestimmt, in der monochrome Fotografien aus der Werbebroschüre eines Windradbauers zum inhaltslosen und austauschbaren Versatzstück verkümmern. »Industria Mirabilis« karikiert mit zynischem Duktus die schnöde und seelenlose Stockfotografie, die mithilfe vieler Low-Budget-Kampagnen den öffentlichen Bildkörper prägt; allein, die reklamierte Anspielung auf Leibniz‹ Gedicht über den »Phosphor Mirabilis« bleibt offen.
An Kahanes Bildwelten schließen sich in »The world is stable now« die Filmkulissen des marokkanischen »Atlas Cinema« nahtlos an. Die weitläufige Filmstadt wurde bereits von den Schauspieler- und Statistenvölkern aus »Ben Hur« und »Gladiator« bewohnt. In den Drehpausen weht jedoch der heiße Saharawind durch dieses menschenleere, Potemkinsche Dorf. Lilli Kuschel widmete den Filmstudios einen Werkkörper aus Film und Fotografie, in dem sie hinter die Bretterfassade der Kulissen blickt, die Imperfektionen des Bühnenbildes aufspürt und das skurrile Doppelleben der Stadt nachvollzieht. In der gezeigten Videoarbeit »Atlas Cinema« stellt sie Szenen aus einigen hier gedrehten Filmen nach, wählt dafür dieselben Einstellungen, Kamerabewegungen und Schnittfolgen und hinterlegt sie mit dem jeweiligen Originalton. Kuschel stellt den oftmals übertrieben wirkenden filmischen Gestus ihrer Vorlagen nach und stellt sie den Räumen gegenüber, die, nun von jeglicher Handlung befreit, als leere und formbare Träger einer mannigfaltigen, doch in sich geschlossenen Filmwelt erscheinen. Die Künstlerin führt die Filmstadt weiter ad absurdum, wenn sie in meisterlicher Beobachtungsgabe die neugierigen, doch unter den Temperaturen ächzenden Touristenscharen einfängt, die, Busladung für Busladung, zwischen den unbelebten Szenen in Kuschels Videoarbeit die Bretterstadt bevölkern. Ein Zigarettenstummel liegt im antiken Forum, die Kameras klackern im Papptempel, im Hintergrund schiebt sich der Verkehr über die Landstraße. Zu schön, um wahr zu sein.
Kuschel wagt jedoch auch den Blick hinter die Kulissen und sucht dort buchstäblich nach dem Gerüst, das diese Illusion aufrecht erhält.
In Flammarions Holzstich schaut der »Wanderer am Weltenrand« hinter die Grenze des Erdkreises und erkennt dort im göttlichen Empyreum, jenem Feuerhimmel, der den Blicken der Menschen verwehrt bleibt, die Weltenmechanik. In Kuschels Fotografien sieht diese jedoch weitaus profaner aus. Krumme Gestänge und notdürftig zusammengezimmertes Gebälk steht kreuz und quer im dunklen Zwischenraum, der sich hinter den Kulissen aufspannt. Baufällig und brüchig wirken diese geflickschusterten Luftschlösser, denn, so viel wird hier offenbar, diese Welt ist janusköpfig, aber gewiss nicht stabil.
- Rem Koolhaas: »Delirious New York: A Retroactive Manifesto for Manhattan«. 1978. ↩