In den Straßen St. Petersburgs, in denen im Jahr zuvor die Zarengarden patrouillierten, lagen noch immer die Ereignisse der Oktoberrevolution in der Luft, als Moissej Nappelbaum zum Smolny-Institut eilte. Ob der früh ergraute, drahtige Rauschebart des fast fünfzigjährigen Weißrussen im roten Revolutionswind wehte, ist nicht überliefert; gesichert dürfte jedoch sein, daß er es sehr eilig hatte, den Regierungssitz des noch jungen Sowjetrusslands zu erreichen. Es soll Lenin selbst gewesen sein, der Nappelbaum in den Palast zitierte: er möge ein Porträt von ihm anfertigen. Der Fotograf hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen gewissen Ruhm in wohlhabenden Minsker und Petersburger Künstler- und Intellektuellenkreisen erlangt, allein, die Revolutionsunruhen vertrieb viele ins Ausland und so war auch Nappelbaums Zukunft in der Sowjethauptstadt ungewiss. Es war jedoch einer Empfehlung des Parteigenossen und Kulturpolitikers Anatoli Lunatscharski zu verdanken, daß Lenin nun Nappelbaum zu seinem vielleicht wichtigsten Auftrag in den Smolny beorderte. Hier entstand ein Porträt, das zu dem bekanntesten des Revolutionärs werden sollte, nur wenige Tage bevor ein Anschlag auf den Parteivorsitzenden fast mit dessen Tod ausging. Vielleicht war es das Glück über sein knappes Überleben, mit Sicherheit aber auch die einzigartige Fotografie, die den Regierungschef dazu bewegte, Nappelbaum zur Einrichtung des ersten staatlichen Fotostudios im Gebäude des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees der neuen Sowjethauptstadt Moskau zu beauftragen. Fortan bediente er die neue Elite des neuen Russlands, bald auch der jungen Sowjetunion.
Es hätte für den Fotografen auch anders ausgehen können. Schließlich war seine Arbeitsweise eine sehr ungewöhnliche. In oftmals stundenlangen Sitzungen ließ er seine Kunden immer wieder Hut und Mantel an- und wieder ausziehen, sich mal hier und mal auf diese Weise, dann wieder dort und in anderer Pose zu setzen, aufzustehen, umherzugehen, oder lieber ein anderes Mal wieder zu kommen. Mancher Kundin empfahl Nappelbaum gar eine Änderung der Frisur, »weil ich der Meinung war, eine andere würde ihr besser stehen. Ja, es konnte passieren, dass ein Kunde kam, um sein fertiges Portrait abzuholen, und dabei sah ich ihn in einem anderen Licht und begann noch mehr Aufnahmen von ihm zu machen.« Doch Moissej Nappelbaums strapaziöser Umgang mit seinen Auftraggebern zahlte sich aus: Trotz der ausführlichen Gestaltung seiner Porträts gelangen ihm immer wieder neue, einzigartige Darstellungen, die nicht etwa gestellt wirkten, sondern, im Gegenteil, Persönlichkeit und Charakter in feinstem Maße herausarbeiteten.
So hielt er Boris Jakowljew in einer grübelnden Pose fest, die dem reservierten und nachdenklichen Charakter des Bildhauers gerecht wurde. Ein gestaucht sitzender Sergej Eisenstein wirft dem Betrachter bohrende Blicke entgegen. Lion Feutchtwanger stützt seinen Kopf auf seiner geballten Faust und schaut bubenhaft aus dem Bild heraus, während Jewgeni Wutschetitsch den demütigen Arbeiter gibt und allen Blick ausweicht. Michail Slonimski und Solomon Michoels erscheinen als jugendliche Bohémiens, die lässig ihre Zigaretten zwischen ihre Finger klemmen, während sie bei einem Wladimir Tatlin gar locker im Mundwinkel hängt: der hühnenhafte Maler sitzt breitbeinig und frontal vor der Kamera, seine grobe Statur lässt unter all den feinen Gestalten in Nappelbaums Kundschaft Tatlins kühnen Avantgardismus erahnen. Dabei nimmt das Spiel der Hände bei Nappelbaum wie bei einigen anderen Zeitgenossen eine wichtige Rolle ein: Pjotr Kontschalowski nestelt zufrieden grinsend an seinem Pelz, ein charmant-jovialer Konstantin Stanislawski nimmt seine Brille galant ab, Schostakowitsch blättert in einem Buch, Boris Eichenbaum fasst sich wenige Jahre vor seiner politischen Schmähung sichtlich ratlos an die Stirn, während Michail Iljin und Wladimir Schtschuko bescheiden und im Charakter gefestigt ihre Hände übereinanderlegen.
Nappelbaum gelang diese oftmals dramatische Herausarbeitung der Persönlichkeiten nicht nur mit dem Spiel der Gestik und Mimik, er griff darüber hinaus auch zu einer damals ungewöhnlichen Beleuchtungsstrategie, die lediglich eine einzige Lichtquelle vorsah. Kein Geringerer als Rembrandt soll es gewesen sein, dessen Malerei den Weißrussen einst bei einem Besuch in der Moskauer Tretjakow-Galerie buchstäblich erleuchtet habe. Noch in seinen Memoiren klingt Nappelbaums tiefe Ehrfurcht für den Altmeister hervor: »Hier ist mein Lehrer! … Der Gott des Chiaroscuro.« Ebenso wie bei seinem Vorbild, tauchen bei dem Fotografen die Figuren aus dem Dunkel hervor und treten in den Lichtkegel hinein, als lehnten sie sich in den Bildraum, dessen Schärfebereich hier so eng und flüchtig wie seine Motive ist. „Ich kam schließlich darauf, nur eine einzige Lichtquelle zu benutzen«, schreibt Nappelbaum, »eine 1000-Watt-Lampe, die in einem Kasten untergebracht war, der an einen umgedrehten Eimer erinnerte. Auf diese Weise erhielt ich ein gerichtetes Licht, das den Kompositionen eine räumliche Tiefe verlieh. Wenn ich in der Kunst der Portraitphotographie irgendetwas erreicht habe, dann verdanke ich es zum großen Teil dieser recht primitiven Konstruktion.« Auf diese Weise versinkt etwa Wutschetitschs rechte Körperhälfte im Bilddunkel, während Slonimski gerade erst daraus auftaucht. Tolstoi erscheint samt Schlagschatten gleich zweifach und doppelt gefestigt im Bild, wohingegen Henri Barbusses Kopf vom Rumpf getrennt so greifbar nah im Bildraum schwebt, daß der Schriftsteller hier nur wenige Monate vor seinem Tode ein letztes Mal in solch unmittelbarer Präsenz körperlich spürbar wird.
Nappelbaum griff auch selbst zum Pinsel. Erstmals bearbeitete er im Jahre 1921 auf diese Weise eine Glasplatte, um dem Hintergrund des Porträts von Alexander Blok mehr Raum und Struktur zu geben. Die Technik machte bald die Handschrift des Fotografen aus, der darin nachhaltig den Kontakt mit seinen Modellen gestaltete. Mal unterstrich er die Ruhe eines tief gründenden Geistes, dann verlieh er etwa Pavel Antokolski einen frischen Impetus, um dann mit kräftigem Pinselstrich den thronenden Körper Maxim Gorkis mit viel Nachdruck in den engen Bildraum hineinzudrängen. Feuchtwangers Kopf begleitete er in kokardenartigem Spiel, während die geometrische Exaktheit des selbstbewusst aufrecht sitzenden Wassili Molokows mit ebenso geometrisch exaktem Strich weiter herausarbeitet. Allein, ein Porträt unter den fünfzig seltenen Exemplaren, die die Kreuzberger Galerie Berinson kürzlich ausstellte, zeigt die Scheu und Unsicherheit, mit der Moissej Nappelbaum vor seinem Modell zurückweicht: Als Nikita Chruchtschow 1940 auf dem Stuhl des Fotografen Platz nahm, offenbart nicht nur dessen stählerner Blick den kalten Charakter des politischen Aufsteigers, der damals bereits den ukrainischen Parteikader erbarmungslos der stalinistischen Säuberung unterzog. Nappelbaum tastete sich nur zögerlich an diesen ehernen Koloss heran, bringt nur wenige, äußert zaghafte Pinselkleckse auf, als fürchtete er, den Furor des Politikers nur weiter anzuheizen.
Der Jude Nappelbaum entgeht jedoch dem Terror des Stalinismus, dem viele seiner Kunden zum Opfer fielen, verhaftet und ermordet wurden. Gerade er, der tief in die Seele seiner Kunden eindring und dabei »die endgültigen Portraits der neuen sowjetischen Elite« erschuf, sollte den antisemitischen Verfolgungen entrinnen. Im Jahr der Machtergreifung Chruschtschows stirbt Moissej Nappelbaum, mit ihm blieb sein Werk unangetastet, das der Sowjetära ein Gesicht gegeben hatte.
Heute können die Werke des Schülers des Chiaroscuro ein letztes Mal bestaunt werden. Denn ein Käufer wird bereits gesucht: Der sorgfältig aufgebaute Werkkorpus soll möglichst als Ganzes an eine öffentliche Sammlung veräußert werden.