Der Raum hinter dem Bild

22. November 2012 von Matthias Planitzer
Nina Pohl vereint Abstrakte Malerei und Fotografie – mit verblüffendem Ergebnis
Nina Pohl: "Quadrophenia", 2012. © Nina Pohl, courtesy Sprüth Magers Berlin London

Nina Pohl: »Qua­dro­phe­nia«, 2012. © Nina Pohl, cour­te­sy Sprüth Magers Ber­lin London

Kasi­mir Sewe­ri­no­witsch Male­witsch hat­te für sein »Schwar­zes Qua­drat« einen beson­de­ren Platz im Sinn. Als er es im Dezem­ber 1915 im herr­schaft­li­chen Ada­ma­ni-Haus am St. Peters­bur­ger Mars­feld erst­mals in einem künst­le­ri­schen Rah­men aus­stell­te, hing er die Arbeit in die Ecke des Rau­mes, hoch oben über den Köp­fen der Betrach­ter. Damit die Besu­cher es auch gut sehen konn­ten, plat­zier­te er es leicht nach vorn gekippt. Dort im Win­kel, gleich unter der Stuck­leis­te, thront es über allem: dem Raum, der rest­li­chen Kunst und den Betrach­tern. Obgleich die rest­li­chen Wän­de der Gale­rie Dobyt­schi­na eben­falls nach Art der damals übli­chen Peters­bur­ger Hän­gung mit den Arbei­ten Male­witschs, Wla­di­mir Tat­lins und zwölf ande­rer Künst­ler bedeckt waren, stand das klei­ne, unschein­ba­re Qua­drat im Mit­tel­punkt der Aus­stel­lung. Schließ­lich war sei­ne Stel­le im spätz­aris­ti­schen und hoch­or­tho­do­xen Russ­land den schil­lern­den Iko­nen vor­be­hal­ten. Male­witsch hat­te sich, wie eini­ge mein­ten, der Blas­phe­mie schul­dig gemacht, »eine Wüs­te« geschaf­fen, wie die Kri­ti­ker befan­den. Spä­ter wur­de der Künst­ler oft zitiert, »die Kunst von dem Bal­last des Gegen­ständ­li­chen zu befrei­en […] Es war dies kein ›lee­res Qua­drat‹, was ich aus­ge­stellt hat­te, son­dern die Emp­fin­dung der Gegen­stands­lo­sig­keit.»1 In die­ser viel gerühm­ten Geburts­stun­de des Supre­ma­tis­mus2 voll­zog Male­witsch aber auch einen ent­schei­den­den Schritt auf dem Weg zur Abs­trak­ten Male­rei, deren Akteu­re nur weni­ge Jah­re spä­ter die Fra­gen des Gegen­stan­des und des Rau­mes rigo­ros aus den Flä­chen ihrer Lein­wän­de ver­bann­ten. Nun war es jedoch in jenem schick­sals­haf­ten Peters­bur­ger Win­ter gera­de ein Raum gewe­sen, der die­se kunst­his­to­ri­sche Zäsur durch die Eman­zi­pa­ti­on der Male­rei von eben dem sol­chen mar­kier­te3. Raum und Gegen­stand bil­de­ten fort­an die Domä­ne der Archi­tek­tur bzw. der Fotografie.

Fast hun­dert Jah­re nach dem Supre­ma­tis­mus und eini­ge Jahr­zehn­te nach­dem die­ses Dog­ma der medi­en­spe­zi­fi­schen Ästhe­tik bereits zu wan­ken begann, wer­den im Ober­ge­schoss der Ber­li­ner Gale­rie Sprüth Magers eine Hand­voll Arbei­ten Nina Pohls gezeigt, in der die Künst­le­rin den Raum in der Abs­trak­ten Male­rei sucht. Und ihn mit­hil­fe der Foto­gra­fie wie­der­fin­det. »New Pain­tings«, das ver­spricht die Ausstellung.

Nina Pohls Ver­such ist kei­nes­wegs tri­vi­al, waren doch noch für die Moder­ne die Dis­zi­pli­nen der Abs­trak­ten Male­rei sowie der Foto­gra­fie klar von­ein­an­der getrennt. Zumal sie dazu den Neben­schau­platz der Dar­stel­lung des Rau­mes wählt. Rosa­lind E. Krauss brach­te die­ses span­nungs­vol­le Ver­hält­nis der Gen­res zur Welt auf eine schmis­si­ge Formel:

»Nichts scheint wei­ter aus­ein­an­der zu lie­gen als Foto­gra­fie und Abs­trak­te Male­rei, ist doch das eine als Bild­quel­le gänz­lich auf die Welt ange­wie­sen, wäh­rend die ande­re die­se Welt und die Bil­der, die sie lie­fern könn­ten, mei­det.»4

Nina Pohl: "Running into a picture", 2012. © Nina Pohl, courtesy Sprüth Magers Berlin London

Nina Pohl: »Run­ning into a pic­tu­re«, 2012. © Nina Pohl, cour­te­sy Sprüth Magers Ber­lin London

Die Grund­la­ge bil­det bei Nina Pohl erneut die Abs­trak­te Male­rei. Von dort aus wagt Pohl die foto­gra­fi­sche Ver­schrän­kung der Medi­en: Pin­sel­stri­che und Farb­kleck­se, pas­to­se Ges­ten und lavier­te Farb­schich­ten erschei­nen im auf­merk­sa­men Blick des Bild­ap­pa­ra­ten. Die Struk­tur der Farb­flä­che, ihre feins­ten Ris­se und Sprün­ge, erscheint zwar nicht, sie ver­schwin­det schlicht zwi­schen den Pig­men­ten, weicht einem zar­ten Bild­rau­schen. Zu dem in der Foto­gra­fie fest­ge­hal­te­nen Gemäl­de gesel­len sich wei­te­re Moti­ve: hier ein roter Ara, mal ein LKW-Rei­fen, dort ein Ver­kehrs­hüt­chen. Die super­im­po­nier­ten Moti­ve erschei­nen jedoch nicht etwa bezug­los auf der Bild­flä­che, Pohl col­la­giert sie im bes­ten Sin­ne; sie öff­net dar­in einen Bild­raum, der auch auf die male­ri­sche Kom­po­nen­te übergreift.

Das ein­drucks­volls­te Bei­spiel der Aus­stel­lung wie­der­holt die­se Räum­lich­keit bereits im Titel: »Run­ning into a pic­tu­re«. Franz Kli­nes »Maho­ning« bil­det den einen, eine Rap­pen­her­de den ande­ren Teil. Schwar­zer Pin­sel­strich ver­läuft in schwar­zer Fell­flä­che. Das ange­grau­te Weiß des Mal­grunds wie­der­holt sich im Schim­mer des Pfer­de­haars, in den Spren­keln eines Gescheck­ten, als tropf­te hier Far­be her­ab. Dazwi­schen, im Unge­wis­sen, wo die Tie­re mit­ein­an­der ver­schwim­men und Kli­nes Ges­ten im Dun­kel ver­schluckt wer­den, eröff­net sich ein unge­mein schar­fer Raum, der weder male­risch noch foto­gra­fisch sein kann. Gewiss, er ist bild­lich, doch sein Anfang und sein Ende sind nicht aus­zu­ma­chen. Ledig­lich sei­ne Begren­zung ist bekannt;  dort, wo er nicht auf die Kan­ten der Bild­flä­che trifft, stößt sich der Raum an den Kon­tu­ren der Pinselstriche.

Wäh­rend er sich in »Run­ning into a pic­tu­re« förm­lich hin­ter der Ober­flä­che auf­tut, muss die­ser Bild­raum in den ande­ren Arbei­ten erst mühe­voll gesucht wer­den. Eines der bei­den Papa­gei­en­bil­der, das rote, kann in die­ser Hin­sicht noch über­zeu­gen. Joan Mit­chells bun­tes Far­b­en­sem­ble »Lady­bug« befin­det sich mal vor, mal hin­ter dem Kör­per des leuch­ten­den Vogels, geht in sei­nen Schwanz­fe­dern ganz dar­in über, wäh­rend sein gel­ber Art­ge­nos­se in nur gerin­gem räum­li­chen Bezug zum Unter­grund steht. In »Qua­dro­pho­nia« zie­hen etli­che Skla­ven einen schwar­zen Gesteins­block ins Bild. Nicht nur eine »Homage to the squa­re«, auch Male­witsch wird mit Grü­ßen bedacht. Der »LKW«-Reifen ver­schwin­det fast im Mal­grund, geht jedoch schnell wie­der dar­aus her­vor und erscheint qua­si­plas­tisch in einem Raum vor dem Bild. Der Pylon wie­der­um löst sich so stark von Franz Kli­nes titel­lo­ser Arbeit (1957), daß der allein per­spek­ti­visch erschlos­se­ne Raum in die­sem Dazwi­schen kon­tras­tie­rend zur Gel­tung kommt. Die Unter­la­ge scheint unend­lich fern, wäh­rend ledig­lich die dunk­len Schram­men des Ver­kehrs­hüt­chens eine visu­el­le Ver­bin­dung schaffen.

Nina Pohl: "LKW", 2012. © Nina Pohl, courtesy Sprüth Magers Berlin London

Nina Pohl: »LKW«, 2012. © Nina Pohl, cour­te­sy Sprüth Magers Ber­lin London

In die­ser Hin­sicht ste­hen Nina Pohls letzt­ge­nann­te Wer­ke im kla­ren Gegen­satz zu Richard Hamil­tons Serie »Eight-Self-Por­traits«, die die­sen Raum streng hin­ter der Bild­flä­che eröff­nen. Vor knapp drei­ßig Jah­ren fer­tig­te der Bri­te Pola­roids an, die er mit weni­gen Pin­sel­stri­chen wech­seln­der Far­be über­mal­te. Dabei bedeck­te der Künst­ler mit­un­ter gro­ße Tei­le sei­nes Gesichts, zumeist aber die Augen, und schuf so nach­drück­lich eine Distanz zwi­schen sich und Betrach­ter, Bild­raum und Bild­flä­che. Zehn Jah­re spä­ter wur­den die Abzü­ge digi­ta­li­siert und im Ther­mo­druck­ver­fah­ren ver­grö­ßert repro­du­ziert. Gera­de durch die­se Aus­wei­tung der Bild­flä­che wur­de der Bild­in­halt einer gestei­ger­ten Sicht­bar­ma­chung unter­zo­gen, die die Unmit­tel­bar­keit des Por­träts, jedoch auch der dar­über gezo­ge­nen Farb­flä­che und auf die­se Wei­se auch die Span­nung zwi­schen bei­den Bild­ebe­nen verstärkt.

Indes wer­den Pohls Moti­ve bis auf den Pylo­nen ent­ge­gen der anders lau­ten­den Behaup­tung in der aus­stel­lungs­be­glei­ten­den Ana­ly­se Ste­fa­nie Diek­manns nicht etwa »stark ver­grö­ßert wie­der­ge­ge­ben«. Tat­säch­lich wer­den die male­ri­schen wie foto­gra­fi­schen Bild­vor­la­gen nur wenig grö­ßer, im Fal­le von »Maho­ning« sogar wesent­lich ver­klei­nert ver­ar­bei­tet. Den »Lady­bug« bil­det Pohl gar nahe­zu eins zu eins ab. Es kann daher nicht unter­stellt wer­den, daß es »die ers­te Auf­ga­be der Foto­gra­fie« sei, »die Ober­flä­chen von Gemäl­den abzu­tas­ten, um sie einer Inven­tur zu unter­zie­hen»5. Im Gegen­satz – und dar­in in Ana­lo­gie zu den »Eight-Self-Por­traits« – bleibt die Unmit­tel­bar­keit sowohl der male­ri­schen Vor­la­ge, damit auch ihrer foto­gra­fi­schen Repro­duk­ti­on, als auch der bei­gefüg­ten Moti­ve unan­ge­tas­tet. Pohls »New Pain­tings« unter­neh­men nicht den Ver­such einer foto­gra­fi­schen Ana­ly­se, die unter dem unbe­stech­li­chen Blick des Appa­rats die Mate­ria­li­tät des Gemal­ten offen­bart, und damit auch nicht die Unmit­tel­bar­keit des erzeug­ten Rau­mes um eine qua­si­hap­ti­sche Kom­po­nen­te ver­stärkt. Über­haupt fin­det sich in den »New Pain­tings« kein Hin­weis auf Mate­ria­li­tät – die Dibonds und Dia­secs ebnen den zer­wor­fe­nen Mal­grund ein –, zumal dies in Hin­blick auf das ver­wen­de­te Instru­men­ta­ri­um nicht zu erwar­ten wäre.

Dar­über­hin­aus löst sich die Mate­ria­li­tät des Rei­fens, der Pfer­de, auch des Pylo­nen und der Papa­gei­en wei­ter auf. Auch hier gilt, eben­so wie für die Mal­flä­chen: ihre Ober­flä­che ver­schwin­det schlicht zwi­schen den Pig­men­ten, weicht dem zar­ten Rau­schen. Nicht nur in der Schär­fe des Rau­mes, auch hier­in, in die­ser unge­wis­sen Unschär­fe, ver­ei­nen sich Nina Pohls Bildfragmente.

  1. Kasi­mir Male­witsch: »Die gegen­stands­lo­se Welt«. Des­sau 1927.
  2. s.a. Lin­da San­dra Boers­ma: »0,10: The Last Futu­rist Exhi­bi­ti­on of Pain­ting«. Rot­ter­dam 1994.
  3. Dahin­ge­gen sah Male­witsch im Supre­ma­tis­mus die Gele­gen­heit, auf der Grund­la­ge der Gegen­stands­lo­sig­keit die »plas­ti­sche Emp­fin­dung« von der Bild­flä­che auf den Raum aus­zu­brei­ten. »Der Künst­ler (der Maler) ist nicht mehr an die Lein­wand (an die Bild­flä­che) gebun­den und kann sei­ne Kom­po­si­tio­nen von der Lein­wand in den Raum über­tra­gen.« (in: »Die gegen­stands­lo­se Welt«, s.o.) Obgleich die­ses Schlag­wort der »Emp­fin­dung« eine maß­geb­li­che Grund­la­ge des Supre­ma­tis­mus dar­stellt, bleibt Male­witsch immer­hin in der vor­lie­gen­den Schrift wei­te­re Aus­füh­run­gen schul­dig, wie die­se Ver­bin­dung zwi­schen Flä­che und Raum gestal­tet wer­den kön­ne.
  4. Rosa­lind E. Krauss: »Anmer­kun­gen zum Index Teil II«; in: Krauss: »Die Ori­gi­na­li­tät der Avant­gar­de und ande­re Mythen der Moder­ne«. Amsterdam/Dresden 2000. S. 265ff.
  5. Ste­fa­nie Diek­mann: beglei­ten­der Aus­stel­lungs­text