Als Joseph Beuys 1977 im Rahmen der 6. documenta ein ständig tagendes Forum aus Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten, politischen Minderheiten und Vertriebenen ins Leben rief – ein Symposium der Free International University –, war seine Theorie der sozialen Plastik bereits in aller Munde. Das Forum diskutierte hundert Tage lang über einen neuen, gerade auch einen Beuys’schen Kunstbegriff, aber auch über die Fragen einer direkten Demokratie und einer sozialeren Zukunft. Der Zeitgeist war stark genug, daß sich sogar der Hessische Rundfunk veranlasst sah, per Satellit einen halbstündigen Ausschnitt live in die USA zu übertragen. Was mehr als ein Jahrzehnt zuvor in der östlichen Hemisphäre als Bitterfelder Weg sang- und klanglos unterging, erlebte nun unter der Feder von Kumpel Beuys einen zweiten Versuch, der unter weitgehendem Verzicht auf die alte politische Doktrin in Kassel viel Gehör fand um schließlich im grünen Lager eine neue Heimat zu finden. Im Katalog der 6. documenta präzisierte er seine künstlerische Weltanschauung:
Alle Fragen der Menschen können nur Fragen der Gestaltung sein, und das ist der totalisierte Kunstbegriff. Er bezieht sich auf jedermanns Möglichkeit, prinzipiell ein schöpferisches Wesen zu sein, und auf die Fragen des sozialen Ganzen.»1
Beuys sprach in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Rudolf Steiners sozialer Dreigliederung auch von einem sozialen Organismus, der sich in Steiners »Geistesleben« in Form von Kreativität, Phantasie und Spiritualität ausdrücke. Drei Jahrzehnte später erlebt die soziale Plastik neuen Diskussionsbedarf: Während Beuys‹ Gestaltungsauftrag bisher vornehmlich vor dem Hintergrund eines diesseitigen Gestaltungsraumes rezipiert wurde, äußerte der Raumkünstler Gregor Schneider vor vier Jahren in einem Interview mit Heinz-Norbert Jocks, daß selbst das Sterben Kunst sein kann. »Im Grunde ist ein Sterberaum ein persönlicher Gestaltungsauftrag für den Raum und die Umgebung, in der wir sterben, uns auflösen, um dann Tod zu sein. Eine Gestaltungsaufgabe, die jedem Menschen bevorsteht.»2
Nun mag zwar jeder Mensch ein Künstler sein, in Bezug auf diesen letzten Gestaltungsauftrag bleibt jedoch noch viel Diskussionsbedarf. Als Schneider sein Vorhaben erstmals formulierte, wurde die Zurschaustellung der »Schönheit des Todes« öffentlich als Tabubruch aufgefasst. Einen Sterbenden auszustellen, das ginge entschieden zu weit. Menschenverachtend, pietätlos, so urteilte die Presse fast einstimmig. Während im Feuilleton die erste Journalistenriege vom Leder zog, predigte in den Randspalten die Geistlichkeit. Obgleich bereits damals die demographische Entwicklung den öffentlichen Umgang mit angrenzenden Themen wie der Palliativmedizin förderte, fielen die Reaktionen auffällig rückständig-epikureisch aus: Mit dem Tod hatte niemand zu schaffen. Schließlich, so der Grieche lapidar: »Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.»3
Doch in der Zwischenzeit rückte das öffentliche Sterben ein Stück weiter in die Mitte der Gesellschaft: Im selben Jahr verstarb Esmin Elizabeth Green im Warteraum einer New Yorker Rettungsstelle unter den Blicken der Überwachungskameras. Craig Ewert nahm wenig später im britischen Live-Fernsehen die Sterbehilfe der Schweizer Organisation »Dignitas« in Anspruch. Die britische Big-Brother-Teilnehmerin Jade Goody machte 2009 nach dem Leben im Container auch ihren Tod zu einer öffentlichen Angelegenheit. Ob Christoph Schlingensiefs »Kirche der Angst«, Manfred Stolpes Besuch bei Sandra Maischberger oder, ein älteres Beispiel, der Besuch des NDR am Totenbett von Marianne Bachmeier: Das Sterben ist nicht länger nur Privatsache, der Tod wird öffentlich. Allein, es fehlt an Gestaltung. Vergangene Woche war dies Thema einer Podiumsdiskussion im polnischen Stettin. 35 Jahre nach dem Kasseler Forum diskutierten neben Gregor Schneider Künstler, Kuratoren, Wissenschaftler und Politiker über jene finale Frage des Menschen, jene finale Frage der Gestaltung. Schneiders »Sterberaum« war Anlass und Stichwort zugleich.
Es sollte mehr als drei Jahre dauern, bis Gregor Schneider seinen »Sterberaum« – eigentlich: »Toter Raum« – erstmals ausstellen durfte. Ein mutiger und beherzter Veit Loers entschied sich auf eine Anfrage Schneiders hin, ihn im Kunstraum Innsbruck zu zeigen. Ebenso wie sein »Totes Haus U r«, für den der Künstler 2001 den Goldenen Löwen der Venedig Biennale gewann, ist auch der »Sterberaum« ein detaillierter Nachbau eines bestehenden Vorbildes. Den in Innsbruck gezeigten Raum versteht Schneider als Annäherung an jenen Ausstellungsraum im Haus Lange/Esters, einen Mies-van-der-Rohe-Bau, in dem er seine erste museale Ausstellung hatte. Damals, 1984, lag er selbst wie tot darin. Verunsicherte Besucher stießen ihn an. Nur eine Puppe? Eine Leiche? Undenkbar. Der ursprünglich privat genutzte Raum bildete nun die ideale Vorlage für einen Sterberaum, der Ausstellungs- und Wohnpraxis vereint. Als Displacement wurde er in Innsbruck dem schwarz verhüllten Ausstellungsraum einverleibt. Betrachtet wird der verschlossene Raum jedoch nur von außen, der eigentlichen Gartenseite. Eine Fensterfront erlaubt den Einblick, das Dunkel des Ausstellungsraumes gibt die Richtung des Sehens vor, schafft aber auch Distanz, als beobachte man die Bewohner dieses Raums aus dem Schutz der Nacht heraus, kann aber ihre Gespräche nicht hören. »Man sieht nur das Innere und ahnt das Äußere«, so Loers.
Das Innere, obgleich bis ins Detail nachgebildet, auch das ist nicht viel: Eine dunkel furnierte, umlaufende Fußbodenleiste grenzt das Fischgrätenparkett von der weiß verputzten Wand ab, geht in Tür- und Fensterzarge über und bildet mit den gleichermaßen verkleideten, tief ruhenden Heizkörpern eine visuelle Einheit. Marmorne Fensterbänke begleiten die hohe und ebenfalls umlaufende Fensterfront, die nur durch schmale Leisten und einfach gehaltene Messingfenstergriffe unterbrochen wird. Auf der anderen Raumseite führt eine gleich furnierte Tür in einen ebenfalls unzugänglichen Hinterraum, sie bleibt jedoch ebenso wie die Gartentüre verschlossen. Vier antiquierte Galerieleuchten bescheinen eine der Wände mit warmem Licht, allein, ein Bild findet man nicht. Auch sonst: keine Einrichtung, kein Möbelstück, auch kein Bett und keine Bahre. Der Raum bleibt leer, doch, so Loers, »daß da jemand sterben kann, ist grundsätzlich nicht auszuschließen«. Ein Sterbender jedoch war innerhalb der Ausstellung nicht zu sehen. Als der Raum in Innsbruck nach zwei Monaten wieder abgebaut wurde, war er so versiegelt geblieben wie am ersten Tag. Der »Sterberaum« blieb leer, eine nach ihrer Funktion ausgestaltete Idee, die weiterhin auf eine zukünftige Nutzung wartet.
Gerd Gerhard Löffler könnte dieser Sterbende werden. Bei dem Landshuter Künstler wurde 2007 ein Hirntumor diagnostiziert. Zwei bis fünf Jahre, viel mehr Zeit habe ihm damals nicht mehr geblieben. Diese Frist ist nun vorbei, Löffler weiterhin am Leben. Einzig eine breite Narbe über seiner Stirn weist auf sein Schicksal hin. Jeden Tag könne es soweit sein, so der Künstler. Da wolle er sich lieber vorbereiten. Als er von Gregor Schneiders Vorhaben hörte, einen Sterbenden auszustellen, bot er sich an, diesen Platz einzunehmen. Den »Sterberaum« selbst sah Löffler jedoch erst in der vergangenen Woche im Stettiner Nationalmuseum, wo er nach Innsbruck erstmals wieder ausgestellt wurde.
Ebenso wie vor 35 Jahren in Kassel fand hier kürzlich eine Podiumsdiskussion statt, in der neben Gerd Löffler und Gregor Schneider Wissenschaftler und Politiker über jene letzte Frage des Menschen, jene letzte Frage der Gestaltung diskutierten. An dieser Formgebung mangele es »sowohl in Frage als auch Antwort«, wie der Kurator und Pfarrer Friedhelm Mennekes bereits zur Eröffnung des deutsch-polnischen Forum konstatierte. Angst und Unsicherheit dominierten den Umgang mit dem Tod – »Ich habe Angst«, so schrieb Rosemarie Trockel einst in riesigen Lettern über Mennekes Altar zu St. Peter in Köln.
»Der Tod ist außerhalb von Lebensinhalten angesiedelt.«
Der Umgang mit der Angst ist nur durch die Auseinandersetzung mit dem Sterben möglich. Denn für den Trauerbegleiter Fritz Roth sind wir »sepulkrale Analphabeten, wir werden vom Tode entzogen, wir werden nicht mehr erzogen.« Das Sterben liege in den Händen der Spezialisten, wohingegen Roth die Menschen einlade, »den Tod selbst zu begreifen«. In seinem »Haus der menschlichen Begleitung« gibt er ihnen Raum zur Gestaltung, zuvor jedoch hole er sie »mitten im Leben ab« und finde mit ihnen Wege für einen aktiven Umgang mit dem Tod. »Die Menschen dürfen diese Krise selbst in die Hand nehmen, selbst Perspektiven finden.« Wenn sie es wünschen, können sie nachts oder am Wochenende bestattet werden. Lediglich das Bestattungsrecht setze enge Grenzen, doch Roth lässt auch hier nichts unversucht, schließlich sei der Tod »der beste Lehrmeister zum bürgerlichen Ungehorsam«. Immerhin hat er mit Deutschlands ersten privaten Friedhof einen wahren Achtungserfolg erzielt. Die Wünsche sind jedoch oft bescheiden: Manch einer wolle seinen Sarg selbst bauen, ein anderer finde seine ganz eigenen Rituale. Diejenigen, die sich Roth anvertrauen, sterben je nach Wunsch daheim, im Kreise ihrer Lieben oder auch umgeben von Kunst, in einem eigenen Raum, den Roths Einrichtung eigens hierfür bereit hält.
Auch ein solcher Sterberaum, wie Gregor Schneider ihn gedacht und gebaut hat, könne eine Möglichkeit sein, den eigenen Tod zu gestalten. Das Ausstellen eines Sterbenden oder Toten sorgte 2008 nur deshalb für eine solche Empörung, weil der Tod außerhalb von Lebensinhalten angesiedelt sei. Lediglich die Trauer ist sozial kodifiziert, doch das Sterben hat keinen Platz in unserer Gesellschaft. Für Ulrich Loock indes ist es »nicht die Aufgabe der Kunst, den Tod sozial kompatibler zu machen«. Dies könne, so der Kurator an der Kunsthalle Bern und langjährige Protegée Schneiders, auch der Sterberaum nicht leisten. Loock hat Zweifel daran, daß der Raum tatsächlich das Sterben oder den Tod thematisieren würde. Schneiders Arbeit suche stattdessen nach »extremen Momenten, deren Zugänglichkeit eingeschränkt sind, die jenseits der Grenze des Zugänglichen liegen«. Bereits 1996 offenbarte Schneider in einem Gespräch mit Loock dieses Interesse:
»Mich interessiert ein Leerlauf von Handlungen. Mich interessiert es, einen neutralen Punkt anzusteueren, den ich selbst nicht mehr kennen kann. Solche Momente entstehen zufällig. Durch die nicht bewusst wahrnehmbaren Bewegungen von Dingen und jeweiligen Tageszeiten entsteht – so nenne ich das – ein nicht mehr zu wissender Zeitraum. Es entsteht ein Ort, der kein Ort mehr sein kann, eine Ahnung von etwas, was wir nicht kennen. »4
Ein solcher Ort, ein solcher Topos stellt auch der Sterberaum und mit ihm das Sterben als Handlung dar, deren Leerlauf hier in einem neutralen Punkt gipfelt. Solange der Raum ungenutzt, doch in seiner Bestimmung erhalten bleibt, geht aus ihm das Sterben als eine kategorisch umrissene Handlung hervor, die zwar nie vor den Augen, doch aber in der Vorstellung abläuft. Diese Ahnung des Sterbens ist unmittelbar, zugleich subtil, schockierend, doch wiederum sanft. Durch seine Ausstellbarkeit – und sei es nur in ihrem Potential – wird der Tod zu einer öffentlichen, einer sozialen Angelegenheit. Durch das Verharren im Leerlauf wird der Tod jedoch zu einem moralisch indifferenzierbaren, bestenfalls neutralen Punkt sowohl im gesellschaftlichen Gefüge als auch im Leben eines jeden Einzelnen.
Für Loock ist der Tod in Gregor Schneiders »Sterberaum« lediglich eine Verkörperung dieser Abstraktion. Auch dessen Inversion, das ewige Leben, finde sich in seinem Werk. Es war wiederum Friedhelm Mennekes, der 2006 Schneiders »Cryo ‑Tank Phoenix« anstelle des Altars im Kirchenschiff von St. Peter platzierte. Die solcherart sakral aufgeladene, modellhafte Nachahmung eines Gerätes zum Einfrieren und späteren Wiedererwecken lebendiger Organismen wurde zur zentralen Reliquie der Überwindung des Todes. Die Ausstellung wurde zur feierlichen Messe mit eigener Liturgie: zur Eröffnung der Ausstellung sangen sie ein Requiem.
Friedhelm Mennekes weiß, solche Positionen wie die Schneiders oder Trockels für den offenen Umgang mit metaphysischen und spirituellen Fragen zu nutzen. »Die Kirche muss Fragen stellen, sie ist keine Antwortagentur«, da ist sich der Jesuit sicher. Die Kunst sei ein wichtiger Gehilfe. Das weiß auch Wojciech Ciesielski, der Kurator am Nationalmuseum Stettin: »Das Museum soll Fragen stellen.« Daß Gregor Schneider diese Fragen sowohl in der Kirche, als auch im Museum formulieren darf, erscheint an diesem Abend als größter Gewinn für einen kunstgeführten Diskurs über die Gestaltung des Sterbens.
Noch bleibt die Heilsbotschaft des Cryo-Tanks jedoch in weiter Ferne, das Sterben weiterhin bittere Realität. Der Umgang mit dem Tod, die Gestaltung des eigenen Sterbens drängt mehr denn je. Wenn die Palliativmedizinerin Mariola Lembas-Sznabel fragt, ob »die Selbstgestaltung des Sterbens die Qualität der Existenz« verändere, dann stimmt ihr das Podium geschlossen zu. Die Kunst vermag Impulse geben, diese private Angelegenheit über den Umweg der Öffentlichkeit wieder zu jenem Stellenwert zu verhelfen, den Fritz Roth seinen Hilfesuchenden einräumt.
Derweil findet Gerd Löffler seinen eigenen, künstlerischen Weg, sich mit seiner Diagnose und seinem Schicksal auseinanderzusetzen. Er arbeitet mit dem »Müll, der aus meiner Krankheit entsteht«, türmt etwa leere Tablettenschachteln auf oder nutzt die MRT-Aufnahmen seines Schädels als sichtbares Zeugnis seine Erkrankung. Die Bestrahlungsmasken, die seinen Kopf während der kräftezehrenden Therapie in der immer selben Form halten, formt er in Keramik ab. Wie er seinen eigenen Tod gestalten wird, will Löffler noch entscheiden: »Was ist, wenn es soweit ist? Vielleicht baue ich selbst einen Sterberaum für mich?« Gregor Schneider hat ihm bereits seine Hilfe zugesagt.
- »Katalog zur documenta 6«, Kassel 1997. Bd. 1 S.156 ↩
- aus: »Kunstforum International«. Nr. 192 (Juli-August 2008). S. 239ff; zuvor Abdruck in Teilen in: »K.WEST – Das Feuilleton für NRW«. Nr. 6 (Juni 2008). S. 2ff ↩
- aus dem Brief an Menoikeus, 125. Original in Griechisch: »τὸ φρικωδέστατον οὖν τῶν κακῶν ὁ θάνατος οὐθὲν πρὸς ἡμᾶς͵ ἐπειδήπερ ὅταν μὲν ἡμεῖς ὦμεν͵ ὁ θάνατος οὐ πάρεστιν͵ ὅταν δὲ ὁ θάνατος παρῇ͵ τόθ΄ ἡμεῖς οὐκ ἐσμέν.« ↩
- Katalog zur Ausstellung »Gregor Schneider« in der Kunsthalle Bern, Bern 1996. S. 22 ↩