Eine erleuchtete Kammer

29. Oktober 2012 von Matthias Planitzer
Christian Martinellis Camera obscura zeichnet ungewöhnliche Bilder auf.
Christian Martinelli: "Timmelsjoch", © Christian Marinelli, Galerie son

Chris­ti­an Mar­ti­nel­li: »Tim­mels­joch«, © Chris­ti­an Mari­nel­li, Gale­rie son

Wür­fe er kei­nen Schat­ten, er wäre leicht zu über­se­hen. Auf dem Pas­so del Rom­bo, dort, wo bereits seit Jahr­hun­der­ten die Rei­sen­den und Händ­ler den Weg vom Ötz­tal nach Süd­ti­rol neh­men, steht ein ver­spie­gel­ter Kubus. Der zwei Meter mes­sen­de Wür­fel ist mit hoch­po­lier­tem Alu-Dibond ver­klei­det, sei­ne Spie­ge­lung ist fast per­fekt. Die sich elas­tisch wöl­ben­de Außen­haut legt die umlie­gen­den Wie­sen, die Fel­sen, die Ber­ge und die Alt­schnee­fel­der des Tim­mels­jochs, wie der Pass auf der öster­rei­chi­schen Sei­te der hier über­quer­ten Län­der­gren­ze heißt, in zar­te Wogen – ein Ver­satz­stück die­ser ewi­gen Alpen­land­schaft, ein Raum im Raum.

Doch der Kubus ist auch Objekt: Sei­ne künst­lich-küh­le Per­fek­ti­on steht im unüber­wind­ba­ren Gegen­satz zu der gewach­se­nen Natur die­ses Alpen­pan­ora­mas. Sei­ne mono­li­thi­sche Erschei­nung ist die eines men­schen­ge­mach­ten Arte­fakts, das den Unter­gang einer Hoch­kul­tur über­dau­ert hat. Der Spie­gel­wür­fel ist jedoch weit jün­ge­ren Ursprungs. Chris­ti­an Mar­ti­nel­li hat zusam­men mit Andrea Piz­zini und Andrea Sal­và den Kubus erdacht und erbaut, demon­tiert, auf den Pas­so del Rom­bo geschafft und dort wie­der zusam­men­ge­setzt. Doch sein Gast­spiel ist nur tem­po­rär, sein Zweck ein ande­rer – das Äuße­re ist ledig­lich Schmuck, im Sin­ne Lou­is Sul­li­vans ver­weist die Gestal­tung auf sei­ne Funk­ti­on. Denn der Kubus nimmt sei­ne Umwelt in sich auf, bannt sie foto­gra­fisch auf ein mal einen Meter mes­sen­des Ilfochrome-Papier.

Erst kürz­lich bau­ten Mar­ti­nel­li und das Künst­ler­kol­lek­tiv CubeSt­ories den »Cube« inmit­ten der Haupt­stadt, in der Park­land­schaft des Tem­pel­ho­fer Flug­fel­des auf. Prä­pa­rier­tes Dam­wild vor Ber­li­ner Him­mels­grau­grau. Die Kame­ra ist in Leicht­bau­wei­se gear­bei­tet, sodaß Mar­ti­nel­li und sei­ne Kol­le­gen sie jeder­zeit in Ein­zel­tei­len zu ihren Ein­satz­or­ten schaf­fen können.

Christian Martinelli & CubeStories: "o.T. (nach Giorgio Morandi)", © Christian Martinelli, Galerie son

Chris­ti­an Mar­ti­nel­li & CubeSt­ories: »o.T. (nach Gior­gio Moran­di)«, © Chris­ti­an Mar­ti­nel­li, Gale­rie son

Ihre Came­ra obscu­ra redu­ziert die Foto­gra­fie auf ihr Wesent­li­ches: Ein 890mm-Objek­tiv sam­melt das ein­fal­len­de Licht, gibt es in den sonst licht­dich­ten Raum, wor­in sich der Foto­graf wäh­rend der Auf­nah­me befin­det. In minu­tiö­ser Arbeit wer­den alle Auf­nah­me­vor­gän­ge vor­ge­nom­men: Nach­dem die Belich­tungs­zeit berech­net und die Bild­schär­fe dif­fi­zil aus­ta­riert wur­de, wird das Foto­pa­pier auf­ge­spannt, ehe der Ver­schluß geöff­net wird. Wäh­rend­des­sen zeich­net sich das Bild im Posi­tiv­ver­fah­ren buch­stäb­lich auf dem Ilfochro­me ab. Das Ergeb­nis: groß­for­ma­ti­ge, farb­bril­li­an­te und licht­be­stän­di­ge Foto­gra­fien, die einem wei­test­ge­hend mini­mier­ten Ent­ste­hungs­pro­zess entstammen.

Die mit der Came­ra obscu­ra erstell­ten Bil­der bestechen auf­grund der beschränk­ten Mit­tel des Pro­duk­ti­ons­pro­zes­ses durch eine für Foto­gra­fien unge­wohn­te Media­li­tät. Wie Vere­na Mal­ferthei­ner über das Posi­tiv­ver­fah­ren bemerkt, »sind die Bil­der in die­ser Hin­sicht wahr­haf­tig vom Licht gemalt«. Die Begeis­te­rung Wil­liam Tal­bots über das foto­gra­fi­sche Ver­fah­ren, das Bil­der »by Nature’s hand« zeich­ne, wird durch Mar­ti­nel­lis »Cube« erneut deut­lich. Aller­dings ist es auch dem unge­wohn­ten Ein­blick in den Belich­tungs­pro­zess zu ver­dan­ken, daß die­se Ana­lo­gie gezo­gen wer­den kann. Der »Cube« ist in ers­ter Linie eine came­ra, eine begeh­ba­re Kam­mer, die im Unter­schied zu übli­chen Kame­ras ein­seh­bar ist. Die Black Box offen­bart ihr Inners­tes, Pro­zes­se, die dank des direk­ten, auf Ent­wick­lungs­gän­ge ver­zich­ten­den Ver­fah­rens in Mal­ferthein­ers Wor­ten »Gemäl­de« ent­ste­hen lassen.

Christian Martinelli & CubeStories: "Harry & Nicole (Hasental)", © Christian Martinelli, Galerie son

Chris­ti­an Mar­ti­nel­li & CubeSt­ories: »Har­ry & Nico­le (Hasen­tal)«, © Chris­ti­an Mar­ti­nel­li, Gale­rie son

Ande­rer­seits schränkt sich durch das Posi­tiv­ver­fah­ren die von dem Medi­um gewohn­te tech­ni­sche Repro­du­zier­bar­keit ein. Nega­tiv­ab­zü­ge sind nicht mög­lich, sodaß die mit dem »Cube« auf­ge­nom­me­nen Fotos solan­ge Uni­ka­te blei­ben, bis sie erst auf­wen­dig durch Scan­ner und Dru­cker ver­viel­fäl­tigt wer­den. Daß dabei jedoch gänz­lich ande­re Belich­tungs­ver­fah­ren zum Zuge kom­men, die sich von der direk­ten Belich­tung »by Nature’s hand« denk­bar weit ent­fer­nen, bedingt die Ein­zig­ar­tig­keit der Ori­gi­na­le. Den­noch ist dadurch noch nicht das aura­ti­sche Bild­ver­ständ­nis zurück­ge­won­nen, das Tal­bot noch begeis­tern konn­te. Der gewohn­te Umgang mit foto­gra­fisch erstell­ten Bil­dern lässt eine sol­che Erfah­rung, wie sie der »Cube« durch­aus zu erzeu­gen ver­mag, nicht zu.

Chris­ti­an Mar­ti­nel­li und CubeSt­ories taten jeden­falls gut dar­an, sich nicht dadurch auf­hal­ten zu las­sen, statt­des­sen ihrer Kame­ra und ihren Bil­dern im Gebrauch näher zu kom­men. In den der­zeit in der Gale­rie son gezeig­ten Arbei­ten wid­me­ten sich Chris­ti­an Mar­ti­nel­li und CubeSt­ories Moran­dis Still­le­ben sowie Lui­gi Ghir­ris foto­gra­fi­schen Ent­spre­chun­gen, grif­fen Pathos­for­meln der Por­trät­fo­to­gra­fie auf und expe­ri­men­tier­ten auch mit Berg­pan­ora­men auf her­kömm­li­cher Sil­ber­ge­la­ti­ne. Fer­ner ent­wi­ckelt sich die äußerst gerin­ge Schär­fen­tie­fe, wel­che durch das unge­wöhn­li­che gro­ße Abbil­dungs­for­mat nur ein­ge­schränk­te Dar­stel­lun­gen erlaubt, zu einem Stil­mit­tel des »Cubes«, das mit­un­ter nach bekann­ter Art des Tilt Shift zu dem Ein­druck eines minia­tu­ri­sier­ten Motivs führt. Die durch­gän­gig redu­zier­te Bild­kom­po­si­ti­on, die Vor­der- und Hin­ter­grund zuguns­ten eines exakt abge­bil­de­ten Mit­tel­grun­des beschränkt, ver­mag jedoch die­sem Effekt ent­ge­gen­zu­wir­ken und statt­des­sen den gewähl­ten Fokus ein­drück­lich zu ver­stär­ken. Das Por­trät von »Har­ry & Nico­le (Hasen­tal)« gewinnt dadurch trotz des gerin­gen Bild­an­teils der akku­rat Posie­ren­den eine fast leben­di­ge Prä­senz, obgleich sich Har­rys Ober­kör­per bereits in dezen­ter Über­be­lich­tung auflöst.

Ilford stell­te indes im ver­gan­ge­nen Jahr die Pro­duk­ti­on des Ilfochro­me-Papiers auf­grund man­geln­der Nach­fra­ge ein. Chris­ti­an Mar­ti­nel­li und CubeSt­ories konn­ten sich noch eini­ge Exem­pla­re sichern und nun auf noch etwa 150 Blät­ter zurück­grei­fen. Plä­ne gibt es dafür auch schon: Die Künst­ler wol­len mit dem »Cube« im Schlepp­tau durch Euro­pa fah­ren, ihn hier und dort auf­bau­en und »Gemäl­de« schie­ßen. Für ein Urlaub­s­al­bum der unge­wöhn­li­chen Art dürf­te es rei­chen, doch was wird mit dem »Cube« gesche­hen, sobald das Papier aus­geht? Viel­leicht fin­det sich dafür ja ein Samm­ler. Ein Zweit­stück aus Edel­stahl wur­de immer­hin bereits für musea­le Zwe­cke angefertigt.