Am 27.6. 2012 schloß um 15 Uhr die letzte Schlecker-Filiale ihre Türen. Endgültig. Damit wurde auch die fast vierzig Jahre währende Konzerngeschichte abgeschlossen, deren Insolvenzverfahren als das bisher größte gelten sollte, das die Bundesrepublik gesehen hatte. Zuletzt waren es 2800 Drogeriemärkte, die die Kette nach den vielen Um- und Neustrukturierungen noch besaß. Der Niedergang des Familienunternehmens war unausweichlich.
So war auch das Ende einer der letzten Konzernfilialen im Prenzlauer Berg besiegelt. Das dreiköpfige Künstlerkollektiv FORT wurde darauf aufmerksam und rief kurzerhand Markus Peichl, Geschäftsführer der Galerie Crone, an: Man wolle die gesamte Einrichtung – Regale, Kasse, Laufband, Rollcontainer, selbst die Beleuchtung – in der vom Insolvenzverwalter anberaumten Verramschung ersteigern. Die Auktion: findet in einer halben Stunde statt. Peichl war begeistert und sicherte umgehend seine Unterstützung zu. Wochen später bildet das Mobiliar eine Rauminstallation im Obergeschoss der Galerie Crone.
Beim Betreten des Raumes wird der Besucher durch einen gewölbten Überwachungsspiegel begrüßt. Ein wenig davon entfernt: ein nach außen abgeschlossener, etwa zwölf mal sechs mal zwei Meter messender Klotz, dessen stumpf schimmernde Blechwände alle paar Meter von braunen Stahlstreben getragen werden. Das Blech umschließt einen abgetrennten Innenraum, der tief in den Galerieraum hineinragt. Ein leise ratterndes, sich beständig wiederholendes Motorengeräusch brummt in der Ferne.
Der Aufbau beflügelt die Neugier: Was mag sich dahinter verbergen? Was geht hier vor? Auf der Suche nach einem Hinweis geht man das Objekt ab, lässt seine unermüdlichen Blicke darüber schweifen. Dann, eine Öffnung, bereit zum Betreten: Regalreihen, ein Förderband, eine Kasse. Einkaufswägen stehen bereit, ebenso Rollcontainer sowie ein vergitterter Kasten. Wer bis hierhin nicht wusste, worum es geht, spürt die seltsame Vertrautheit des Ortes.
Vier Regalreihen lassen enge Gänge zwischen sich frei. Die inneren Reihen sind etwas kleiner als die äußeren, sodaß der gesamte Innenraum der Installation jederzeit überschaubar bleibt. Die hellen Regale sind als Modularstecksystem in vier Reihen mit nach oben hin abnehmender Tiefe konstruiert. Blaue Plastikleisten schließen jede Etage ab. Die oberste Lage befindet sich knapp über Augenhöhe, während die unterste gerade tief genug ist, um noch in ungebückter Haltung bis nach ganz hinten schauen zu können. Manche der mittleren Reihen einer Regalwand befinden sich nicht auf derselben Höhe, Sprünge treten auf, Abstände vergrößern und verkleinern sich. Einige der Lagen tragen sichtbare Spuren: dunkler Dreck hat sich in bizarren Mustern in die schutzlackierte Oberfläche eingearbeitet, während andernorts Abdrücke von Flaschenböden oder bunte Abfärbungen der Unterlage fest anhaften. Eine der Rückwände gibt Hinweis auf ein Waschmittel, das dort einst stand: das Flaschenetikett ist fast vollständig übergegangen.
Doch die Regale stehen leer, als warteten sie auf ihre Ware und deren Auspreisung. Auch die Rollcontainer bleiben ungenutzt: In ihrer sorgsam umfriedeten Auslage wird kein Produkt beworben, während die Halterung für das Aktionsschild ebenso ungeschmückt bleibt, wie die grauen Seiten des Containers. Es herrscht eine geisterhafte Stimmung. Während das Rollband unermüdlich rattert und auf den nächsten Kunden wartet, ist mitunter zunächst nicht klar, welches verlassene Geschäft hier gastiert. Die Künstlerinnen haben jeden Hinweis auf den Firmennamen sorgsam entfernt. Werbeposter, ‑transparente, und ‑aufkleber fehlen. Die Einkaufswägen sind schlicht blau, auch hier wird man kein Firmenlogo finden. Das Kassendisplay bleibt ebenfalls stumm.
Manche der Besucher wären völlig ahnungslos, staunt Peichl. Sie fühlten zwar eine gewisse Vertrautheit mit dem Ort, wüssten allerdings nicht, woher diese Bekanntschaft rührt. Wenn sie unter dem typischen, grellen Neonlicht nach Spuren suchen, dabei jedoch auf keinen Hinweis stoßen, seien sie überrascht zu hören, daß es sich bei der Installation um die Einrichtung einer Schlecker-Filiale handelt.
Gerade ein untergegangenes Wirtschaftsimperium wie Schlecker, dessen Regale nie leer standen und das stets alle Werbeflächen für Sonderangebote nutzte, das nun in einem langen Ausverkauf zerschlagen wurde, findet in einer Rekonstruktion, wie FORT sie präsentiert, eine passende Entsprechung. Die Parabel auf den Überfluss der Schleckerschen Drogeriegüterquelle und ihrer schleunige Austrocknung ist zwar vermutlich eine vordergründige. »Leck« bietet als Rauminstallation jedoch mehr.
FORT greift darin auf ein Artefakt zurück, das zwar gänzlich in der Vergangenheit verwurzelt ist, aber weiterhin im Gedächtnis präsent bleibt. Indem die Einrichtung der ehemaligen Schlecker-Filiale in den Galerienraum transponiert wird, wird sie zu einem archetypischen Relikt, das einerseits museal archiviert, durch seine Vorführung jedoch reinstitutiert wird. Auf diese Weise wird ein Erinnerungsprozess angestoßen, der jedoch mit der Sinnentleerung des Artefakts konfrontiert wird: Durch die modellhafte Darstellung werden Fehlstellen aufgetan, die es mit Erinnerungen zu füllen gilt: mit Logos, Waren, Verkäuferinnen und Kunden; mit Gerüchen, Geräuschen und Emotionen. Diese Sinnentleerung führt ebenfalls dazu, daß das Artefakt zu einer Kulisse wird, deren Künstlichkeit mit diesen sie belebenden Erinnerungen konkurriert. Dieser Konflikt offenbart ihren Mangel an Identität mit der tatsächlichen, bekannten Filiale, wodurch sie zum Tatort eines (geistigen) Re-Enactments wird. Ähnlich wie in den Kulissen Thomas Demands – der sich in der Ausgabe des Zeit-Magazins vom 30.08. 2012 ebenfalls mit Schlecker auseinandersetzte – löst sich hier die Wirklichkeit des nachgebildeten Raumes durch die Summation ihrer modellierten Teile auf. Dies spitzt sich insbesondere am Beispiel der Rollcontainer zu, die einst in Scharen vor den Schaufenstern standen, mit allerlei Drogeriewaren überhäuft und mit einem einzelnen, schüchtern aus dem Ramsch aufsteigenden Werbeaufsteller verziert waren, die die offensichtlichen Sonderangebote wie ein einsames Fähnchen im Wind feilboten. In der Verstummung dieser traurig leeren Rollcontainer zeigt sich exemplarisch und zugespitzt die Konfrontation des sinnentleerten Modells mit den zu kurz greifenden, nachmodellierenden Erinnerungen.
Doch, man staune, die Installation kämpft gegen dieses Vergessen an: Das unermüdlich ratternde Fließband brummt nicht nur wie beschrieben stetig vor sich hin, es dünstet außerdem nach einer Weile den vertrauten Seifengeruch der Schlecker-Filialen aus. Doch an der Illusion dieser Totenbeschwörung kann kein Zweifel bestehen: Denn die letzten Worte des Sterbenden verrät den langsamen Tod:
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Wer genauer hinschaut, kann sogar noch das letzte Rechnungsdatum erkennen: 29.06. 2012, 21:03:13 – zwei Tage nach dem Schlecker-Aus. Gespenstisch.