Was unterscheidet München von Berlin? Auf diese Frage wird man viele Antworten hören. Etliche werden auf ein bestimmtes Lebensgefühl abzielen: Dann wird München oftmals als charmanter Ort der gehobenen Gelassenheit und Herzlichkeit beschrieben und Berlin als pulsierende, sich immer wieder neu erfindende Künstlerstadt beschworen. Auch wird man oft vom Münchner Snob und Berliner Schnorrer hören und doch wird man sich schwer tun, all diese Behauptungen auf eine objektive Grundlage zu stellen. Dennoch werden nur wenige an der Richtigkeit dieser Zuschreibungen zweifeln, denn schließlich handelt es sich um allgemein bekanntes Wissen, das in Nord wie Süd, Ost wie West jeder kennt, selbst wenn man noch keine der beiden Städte selbst kennenlernen konnte.
Ein ähnlich klares Bild können die meisten von Rom zeichnen und so ist es auch nicht weiter überraschend, daß Joel Sternfelds Werkreihe »Campagna Romana«, die kürzlich in Auszügen in der Buchmann Galerie gezeigt wurde, auch ohne weitere Hinweise ihre Herkunft offenbart. Sternfeld hätte seine Arbeiten ebenso gut titellos belassen können, denn schließlich sprechen sie für sich und offenbaren ein Bild eines Roms der frühen neunziger Jahre. Der Künstler, der dort für einige Zeit wohnte, fing darin den Alltag der römischen Außenbezirke ein, der zwischen verfallenen Aquädukten und Neubausiedlungen ein seltsam hybrides Leben gestaltet.
Die Kulisse besteht aus einem eigensinnigen Nebeneinander der Epochen und Zeitalter, gleichsam gebaut wie gelebt, das sich bei Sternfeld immer wieder neu abzeichnet. Die letzten modischen Spuren der italienischen Siebziger treffen hier auf architektonische Spuren der Renaissance; da teilen sich frisch geklebte Zirkusposter mit ebenso neuen, steinernen Heiligendanksagungen den knappen Platz auf einer alten Mauer; und Frauen treffen sich täglich im Schatten einer antiken Mauer zum Kaffeekränzchen. Wie selbstverständlich hängt die Polyesterjacke an einem rostigen Haken, der noch von Aufstieg und Fall der Kaiser und Könige berichtet.
Sternfeld versammelt auf seinen Fotografien der »Campagna Romana« die gelebte Realität im über die Jahrtausende gewachsenen Rom, das Alter und Geschichte in architektonischer und kultureller Praxis vereint. Dadurch zeichnet sich ein spezifischer Charakter der Stadt aus, der in jedem der Fotografien Sternfelds durchscheint. Allerdings ist diese Präsenz nicht etwa auf einen gesonderten Hinweis angewiesen. Sternfelds Stadtbilder bleiben zwar mangels bekannter Wahrzeichen zunächst anonym, werden jedoch wiederum durch dieses architektonische und kulturelle Gefüge als Abbilder Roms, nicht etwa Jakartas oder São Paulos lesbar und erkennbar. Das Vermögen, diesen Unterschied zu vermitteln, kann jedoch nicht nur allein den Bildern zugeschrieben werden. Denn offensichtlich existiert ein irgendwie geartetes, übergeordnetes Zeichensystem, auf das der Betrachter zurückgreift und somit folgerichtig Rom von Jerusalem unterscheidet.
Es erscheint mitunter zunächst als Banalität, daß sich die meisten Städte nicht nur in ihrer Infrastruktur – sprich der Anordnung der Straßen, Plätze und Stadtteile – oder den architektonisch fassbaren Eigenheiten unterscheiden, sondern jede Stadt zudem ein spezifisches Gefühl vermittelt. Während erstere sich leicht überprüfen lassen und zweifelsohne zu einem Stadtcharakter beitragen, ist die Rolle jenes spezifischen Gefühls einer Stadt ebenso wenig von der Hand zu weisen, aber ungleich schwieriger auf die Spur zu kommen. Wir können ebenso von Fotografien wie aus Erzählungen mit erstaunlicher Sicherheit schließen, daß es sich um die eine oder die andere Stadt handeln muss, und doch bleibt oftmals ungeklärt, auf welcher Grundlage dieses Urteil geschieht. In allen Fällen handelt es sich (im übertragenen Sinne) um Stadtbilder, die die Identität der Stadt formen und auch nach außen hin verkörpern und wiedergeben. Erstaunlicherweise gelingt die Beschreibung einer bestimmten Stadt oftmals auch ohne die persönliche Kenntnis und stimmt oft verblüffend genau mit den Erfahrungen der Einheimischen überein. In der Soziologie spricht man bereits seit längerer Zeit von einem kollektiv verankerten Stadtbild, das auf höchst unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommen kann: Fotografien, Stadtpläne, Reiseberichte, lokale und nationale Nachrichten, politische und soziale Gefüge etc. bilden einen spezifischen Stadtcharakter ab. Bei Martina Löw heißt es zudem, daß eine Stadt auf diese Weise eine mehr oder minder aktive Bildpolitik betreibe oder wenigstens betreiben müsse, um sich nachhaltig im kollektiven Gedächtnis einprägen zu können. Dazu bediene sich die Stadt eines Bildapparates, dessen Eigenschaften und seine Strategien, Möglichkeiten und Limitationen Löw in ihrer »Soziologie der Städte« untersucht.
Es bleibt jedoch weiterhin zu klären, welche Rolle dieser Bildapparat Roms in Sternfelds Fotografien einnimmt. Dem Künstler kann nicht unterstellt werden, daß er sich mit seiner Werkserie »Campagna Romana« dieser soziologischen und gleichermaßen bildwissenschaftlichen Domäne nähern wollte, das ist allein aufgrund des Entstehungszeitpunktes und der Motivwahl nicht anzunehmen. Sternfelds Aufnahmen konzentrieren sich auf das Leben in einer historisch gewachsenen Stadt, womit er in der langen Tradition von Malern wie Piranesi, Corot und Poussin steht, die der Campagna ebenfalls ein künstlerisches Denkmal setzten. Wie der Ausstellungstext zutreffend feststellt, hallt im Gegensatz zu den Vorgenannten bei Joel Sternfeld kein Mythos nach; stattdessen gibt er einen ehrlichen Einblick in die gelebte Realität eines historisch nachhaltig geprägten Roms. Sternfelds Interesse gilt dem Umgang der Bewohner Roms mit ihrer Stadt und ihrer Geschichte, der Gestaltung und Nutzung ihrer strukturellen, sozialen und kulturellen Gefüge. Wenn er sich antiken Aquädukten und neuzeitlichen Wohnsiedlungen, dem Leben und Alltag zwischen beiden – ausschließlich historischen – Extremen widmet, dann hat er mitunter eine phänomenologische Aufarbeitung des römischen Stadtcharakters im Sinn, jedoch ist daraus nicht zu ersehen, daß es um den übergeordneten Bildtypus »Stadt« im Allgemeinen ginge.
Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich Sternfeld dieses Bildapparates Roms bedienen musste, auf die auch jedes Reiseprospekt, jedes Urlaubsfoto und nicht zuletzt auch Piranesi, Poussin, Lorrain etc. zurückgreifen. Seine Fotografien hätten ohne den Rückgriff auf diesen Zeichenkatalog ihre Wirkung, ihre Präsenz aber auch ihre Relevanz verfehlt. Dieser liegt wiederum in einer kollektiven Auffassung von Gestalt und Wesen Roms begründet, den sich Sternfeld bewusst machen musste. Was jeder Tourist, aber auch jeder Städtefotograf und Filmemacher in ihre Motivwahl bedenken müssen, ist nur vermeintlich eine Banalität, denn schließlich sind sie implizit an der Gestaltung jenes Stadtbildes beteiligt. Tatsächlich ist dieser Aspekt ein intensiv debattierter Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung, der nicht zuletzt auch das Arbeitswerkzeugs des Stadt-Marketings ist. (An dieser Stelle sei wiederum die Lektüre von Löws »Soziologie der Städte« empfohlen, die darin an einer vergleichenden Analyse Münchens und Berlins beeindruckende Erkenntnisse zutage fördert.) Denn letztlich geben sie nicht nur passiv den Charakter einer Stadt wieder, sondern nehmen auch aktiv Einfluss darauf.
Denn neben der bescheidenen Schönheit der Ehrlichkeit in Joel Sternfelds Fotografien liegt genau darin der Reiz, sich als Geistesübung darüber bewusst zu werden, was diesen Bildapparat Roms auszeichnet. Man wird viele Anhaltspunkte finden und vielleicht fortan auch die heimische Großstadt aufmerksamer beobachten.