An der Grenze der Wahrnehmung

21. März 2012 von Matthias Planitzer
Die Kuratorin Dr. Gabriele Knapstein im Gespräch

Die Kuratorin Dr. Gabriele Knapstein im Gespräch, Foto: Michał SamolenkoDie Kura­to­rin Dr. Gabrie­le Knapstein im Gespräch, Foto: Michał Samolenko

Die Aus­stel­lung »db« Ryo­ji Ikedas befin­det sich der­zeit auf ihrem Höhe­punkt und hat bereits etli­che Besu­cher ins Stau­nen ver­setzt. Die einen sind ange­tan, ande­re füh­len sich von dem Klang- und Licht­ge­wit­ter des Japa­ners schier über­for­dert. Wie bereits an die­ser Stel­le berich­tet wur­de, hat Ikeda in zwei sym­me­trisch gele­ge­nen Räu­men des Ham­bur­ger Bahn­hofs sein mul­ti­me­dia­les Spek­ta­kel errich­tet und for­dert dort seit Ende Janu­ar die Sin­ne der Besu­cher heraus.

In Zusam­men­ar­beit mit Art­con­nect Ber­lin traf ich vor eini­gen Wochen die Kura­to­rin der Aus­stel­lung »db«, Dr. Gabrie­le Knapstein, zum Gespräch. Dar­in unter­hiel­ten wir uns über die küh­le Per­fek­ti­on der Instal­la­ti­on, der drän­gen­den Suche nach der Unend­lich­keit im Werk Ikedas und sei­ne Ver­bin­dung zu ande­ren Künst­lern, die mit mini­ma­lem For­men­re­per­toire maxi­ma­le Effek­te erzielen.

Mat­thi­as Pla­nit­zer: Frau Knapstein, mit der Aus­stel­lung »db« füh­ren Sie und Ryo­ji Ikeda den Besu­cher an die Gren­zen sei­ner Wahr­neh­mung. Wie neh­men die Besu­cher, aber auch die Auf­se­her die Aus­stel­lung auf? Gab es bereits Beschwer­den über kör­per­li­ches Unbehagen?

Gabrie­le Knapstein: Für die Auf­se­her ist es natür­lich schwie­rig. Sie lösen sich häu­fi­ger ab als es in ande­ren Räu­men des Muse­ums der Fall ist. Natür­lich gibt es Besu­cher, die die Sounds sowohl im wei­ßen wie im schwar­zen Raum als aggres­siv und fast schmerz­haft emp­fin­den. Aber es gibt auch vie­le Besu­cher, die sehr fas­zi­niert von die­sem Gesamt­erleb­nis sind, das Ryo­ji Ikeda mit die­ser Ver­schrän­kung von akus­ti­schem und visu­el­lem Erleb­nis geschaf­fen hat. Bei einem so gro­ßen Muse­um sieht man sich natür­lich immer einer gro­ßen Band­brei­te an Reak­tio­nen gegen­über. Ich habe aller­dings den Ein­druck – jeden­falls den Reak­tio­nen zufol­ge, die ich bis­her bekom­men habe –, daß die Besu­cher die Aus­stel­lung sehr posi­tiv wahr­neh­men und daß sie es auch inter­es­sant fin­den, daß wir hier in die­sem Muse­um der bil­den­den Kunst eine sonst eher aus dem medi­en­künst­le­ri­schen Zusam­men­hang bekann­te Posi­ti­on prä­sen­tie­ren und die Mög­lich­keit geben, sie auch mit ande­ren For­men der bil­den­den Kunst in Bezie­hung zu set­zen. Ich den­ke, daß man sol­che Kate­go­ri­sie­run­gen und Insti­tu­tio­na­li­sie­run­gen auch immer wie­der auf­he­ben und befra­gen muss, wes­we­gen wir ja auch mit dem Musik­fes­ti­val März­Mu­sik und mit einem Medi­en­kunst­fes­ti­val wie der Trans­me­dia­le koope­rie­ren, um eben die­se Durch­läs­sig­keit voranzutreiben.

Ein Aufseher des Hamburger Bahnhofs in der Ausstellung "db", Foto: Matthias PlanitzerEin Auf­se­her des Ham­bur­ger Bahn­hofs in der Aus­stel­lung »db«, Foto: Mat­thi­as Planitzer

Die Aus­stel­lung »db« ist die ers­te Ein­zel­aus­stel­lung von Ryo­ji Ikeda in Deutsch­land; sie ist ein­ge­bet­tet in eine län­ge­re Ver­an­stal­tungs­rei­he, näm­lich der »Musik­wer­ke bil­den­der Künst­ler«. War­um fiel die Wahl gera­de auf Ryo­ji Ikeda?

In der Rei­he »Musik­wer­ke bil­den­der Künst­ler« stel­len wir Künst­ler und Künst­le­rin­nen vor, die in dem Grenz­ge­biet zwi­schen bil­den­der Kunst, visu­el­ler Kunst und Klang ope­rie­ren. In die­sem Zusam­men­hang geht es uns durch­aus auch dar­um, daß wir dem Publi­kum eine gro­ße Varia­ti­ons­brei­te vor­füh­ren. Aus­ge­spro­chen bil­den­de Künst­ler, die ihre Kon­zep­te in den Bereich des Klan­ges über­set­zen,  stel­len ihre Arbei­ten eben­so aus wie auch Klang­künst­ler, die bis­her in die­sem Bereich auf­ge­tre­ten sind und nun Aus­stel­lungs­for­ma­te für sich ent­wi­ckelt haben. Ihnen ist gemein, daß sie unter­su­chen, was ent­we­der die Über­set­zung eines Kon­zep­tes bil­den­der Kunst in einen Klang­raum bedeu­tet oder wie man mit Klang und dem The­ma »Musik« Räu­me gestal­ten und die­se Fra­gen visu­ell dar­stel­len kann.

Ryo­ji Ikeda hat uns des­we­gen inter­es­siert, weil wir in die­ser Rei­he auch das, was übli­cher­wei­se als Medi­en­kunst klas­si­fi­ziert wird, ein­be­zie­hen möch­ten und auch danach befra­gen, was pas­siert, wenn sich die­se Künst­ler auf ein Feld der bil­den­den Kunst bege­ben, wo es dann auch Anschluß­mög­lich­kei­ten an die Kunst­ge­schich­te gibt. Es ist mein per­sön­li­ches Inter­es­se, daß wir hin und wie­der Künst­ler ein­be­zie­hen, die digi­ta­le Medi­en ver­wen­den oder reflek­tie­ren, die eigent­lich in Berei­chen der Medi­en­kunst rezi­piert wer­den – gera­de auch wenn ich deut­li­che Bezü­ge zur Kunst­ge­schich­te sehe. Und da, fin­de ich, ist Ryo­ji Ikeda eine wich­ti­ge Figur. Aus die­sem Grund waren wir an ihm inter­es­siert und haben ihn ein­ge­la­den, für die Rei­he »Musik­wer­ke bil­den­der Künst­ler« ein Kon­zept vorzuschlagen.

Ryo­ji Ikeda ist für die kla­re Struk­tu­rie­rung in der Pla­nung sei­ner Aus­stel­lun­gen bekannt. Wie gestal­te­te sich die Pla­nung und Umset­zung von »db«?

Wir haben Ryo­ji Ikeda zunächst vor andert­halb Jah­ren ein­ge­la­den, für die­se Serie einen Vor­schlag vor­zu­le­gen. Die­ser län­ge­re Vor­lauf war nötig, weil wir wuss­ten, daß eine Aus­stel­lung von Ryo­ji Ikeda, wie auch vie­le ande­re Pro­jek­te in die­ser Rei­he, zusätz­li­che För­der­mit­tel benö­ti­gen wür­de. Also haben wir ihn zunächst ange­spro­chen und ein­ge­la­den. Er ist dann hier­her gekom­men und hat sich die Räum­lich­kei­ten im Ham­bur­ger Bahn­hof ange­schaut. Er betont stets, wenn er über sei­ne Aus­stel­lungs­tä­tig­keit spricht, daß er gezielt die­sen Vor­schlag gemacht habe, die­se bei­den sym­me­tri­schen Räu­me in den Flü­geln des Ham­bur­ger Bahn­hofs zu ver­wen­den. Das hat bis­her kein Künst­ler hier im Haus unter­nom­men. Auch für unse­re Besu­cher ist es inter­es­sant, die Erfah­rung zu machen, daß es sich tat­säch­lich um zwei sym­me­tri­sche Räu­me han­delt, die man erle­ben kann, indem man sich in den einen Flü­gel begibt, dann den Weg durch das Erd­ge­schoss nimmt und im ande­ren Flü­gel das Pen­dant dazu sieht. Ich habe die Räu­me, die auf die­sem Weg lie­gen, ent­spre­chend umge­stal­tet, damit hier auch der Bezug zwi­schen der Posi­ti­on von Ryo­ji Ikeda und der Tra­di­ti­on in der Kunst­ge­schich­te für die Besu­cher anklingt. Dann hat Ikeda sei­nen Ent­wurf für die­se bei­den Räu­me vor­ge­legt: ein ganz kla­res Kon­zept, das von Anfang an die zen­tra­le Arbeit »db« und die zusätz­li­chen, auf Zah­len­ma­te­ri­al basie­ren­den Prints und Pro­jek­tio­nen vor­sah. Wir sahen dar­in einen so stim­mi­gen und schlüs­si­gen Vor­schlag, daß wir dar­auf ver­traut haben, daß er auch die Jurys über­zeu­gen wür­de, denen spä­ter die­ser Antrag vorläge.

Offen­sicht­lich waren die Juro­ren beein­druckt – »db« konn­te rea­li­siert wer­den und ermög­licht uns und den Besu­chern nun den Blick in die kom­ple­xe Sym­me­trie eines mul­ti­me­dia­len Kaleidoskops.

Ja, dar­über sind wir sehr froh. Sei­ne Aus­stel­lung »db« – eine Abkür­zung für Dezi­bel – im Ham­bur­ger Bahn­hof zeigt zwei sym­me­trisch im Muse­um gele­ge­ne Räu­me: einen wei­ßen und einen schwar­zen Raum. Im Zen­trum die­ser Dop­pel-aus­stel­lung steht die titel­ge­ben­de Arbeit »db«. Sie besteht im wei­ßen Raum aus einem schwar­zen, gro­ßen Laut­spre­cher, der eine ste­hen­de Sinus­wel­le in den Raum abstrahlt, und einem rie­si­ger Schein­wer­fer, der einen mas­si­ven Licht­strahl in den schwar­zen Raum pro­ji­ziert. Zusätz­lich wer­den in jedem die­ser bei­den Räu­me noch zwei Wer­ke bzw. Werk­kom­ple­xe gezeigt, in denen Ryo­ji Ikeda mini­ma­le Bau­stei­ne von Klang und Licht mit einem Gegen­pol kon­fron­tiert, näm­lich mit unend­li­chen bzw. irre­du­zi­blen Zahlen.

Am Eingang zu Ryoji Ikedas "db", Foto: Matthias PlanitzerAm Ein­gang zu Ryo­ji Ikedas »db«, Foto: Mat­thi­as Planitzer

In die­sem Zusam­men­hang ist neben dem beein­dru­cken­den tech­ni­schen Equip­ment auch die kom­pro­miss­lo­se Per­fek­ti­on bemer­kens­wert, mit der er die alten Gemäu­er vor eini­ge Her­aus­for­de­run­gen stellt. An wel­che Gren­zen sind Sie bei der Kon­zep­ti­on gestoßen?

Wir befin­den uns ja in einem his­to­ri­schen Gebäu­de und da gibt es aus mei­ner Sicht ledig­lich Gren­zen der Per­fek­ti­on, die man sich bei den kla­ren Kon­zep­ten Ryo­ji Ikedas wünscht. Man rich­tet also den wei­ßen Raum mit wei­ßem Boden ein, hat glück­li­cher­wei­se auch eine Licht­de­cke von einer Strahl­kraft, die die­sem Raum zugu­te kommt. Aber plötz­lich sieht man, daß die Türen schon län­ger nicht mehr lackiert wor­den sind, die natür­lich auch noch strah­lend weiß sein müs­sen. Auf den schwarz gemal­ten Wän­den sieht man die Spur eines jeden Ärmels, der dort ent­lang gestreift wur­de. Ryo­ji Ikeda trat ja bis­her eher als Musi­ker und Per­for­mer her­vor und hat­te stets alles selbst unter Kon­trol­le. Aber dann, wenn er in die Aus­stel­lungs­häu­ser und Muse­en geht, braucht er auch ihr Ver­ständ­nis, um die Radi­ka­li­tät die­ser Kon­zep­te zu pfle­gen und zu prä­sen­tie­ren, sodaß dies für die Besu­cher auch erleb­bar ist. Schließ­lich ist es ent­schei­dend, daß der wei­ße Raum sei­ne Strahl­kraft und der schwar­ze Raum sei­ne gleich­mä­ßig schwarz gefärb­ten Wän­de und den Boden bis zum Ende der Lauf­zeit behal­ten. Hier­in liegt die eigent­li­che Her­aus­for­de­rung für das Muse­um: die­sen Zustand mög­lichst per­fekt zu hal­ten, gera­de auch über eine so lan­ge Laufzeit.

Wie lan­ge hat der Auf­bau gedauert?

Zunächst muss­ten wir die Räu­me ent­spre­chend vor­be­rei­ten: strei­chen, den Boden aus­zu­le­gen – dafür haben wir zwei Wochen gebraucht. Die Vor­be­rei­tung des tech­ni­schen Equip­ments war von Ryo­ji Ikeda und sei­nem Stu­dio per­fekt mit Spe­zi­al­fir­men abge­stimmt, die einer­seits den Laut­spre­cher und ande­rer­seits die­sen Schein­wer­fer stell­ten. Den eigent­li­chen Tech­nik­auf­bau konn­ten wir dann in vier, fünf Tagen bewältigen.

Ryoji Ikeda: db, Foto: Matthias PlanitzerRyo­ji Ikeda: db, Foto: Mat­thi­as Planitzer

Ange­sichts des tech­ni­schen Groß­auf­ge­bo­tes, mit dem »db« die Sin­ne der Besu­cher her­aus­for­dert, über­ra­schen die­se Anstren­gun­gen kaum. Wel­che sind die größ­ten Hür­den, mit der die Wahr­neh­mung des Besu­chers kon­fron­tiert wird?

Zunächst ist der Besu­cher in die Situa­ti­on gestellt, daß der wei­ße Raum auf den Farb­kon­trast weiß/schwarz und den Sinus­ton redu­ziert ist, der sich als drei­ßig­mi­nü­ti­ge Kom­po­si­ti­on ver­än­dert, wel­che über den Laut­spre­cher in den Raum gestrahlt wird. Eini­ge im Umgang mit elek­tro­ni­scher Musik erfah­re­ne Besu­cher stau­nen, daß jemand, dem alles zur Ver­fü­gung steht, sich auf ein sol­ches Mini­mum beschränkt, und sind dann fas­zi­niert, wel­che fei­nen Nuan­cen zu hören sind, wenn man sich durch den Raum bewegt. Dann gibt es natür­lich aber auch Besu­cher, für die ein sol­cher Dau­er­ton befremd­lich ist, der – so erscheint es ihnen – ste­tig gleich bleibt. Die­ses Zusam­men­spiel von visu­el­ler und akus­ti­scher Erfah­rung, das durch Cages Musik­be­griff stark in die bil­den­de Kunst ein­ge­drun­gen ist, bie­tet Ryo­ji Ikeda in extre­mer Wei­se, wenn er die­se Kom­bi­na­ti­on von Sound und visua­li­sier­ten Zah­len­fol­gen ein­setzt und somit auf das The­ma »Musik und Mathe­ma­tik“ ver­weist. Ryo­ji Ikeda macht in die­sem Sin­ne dem Besu­cher vie­le Ange­bo­te. Ich den­ke, daß die kla­re Pola­ri­tät zwi­schen dem wei­ßen und dem schwar­zem Raum für jeden Besu­cher eine gro­ße Erleb­nis­qua­li­tät hat, gleich wel­che Erfah­run­gen er mitbringt.

Gera­de die von Ihnen ange­spro­che­ne akus­ti­sche Kom­po­nen­te fin­det sich bei Ryo­ji Ikeda immer wie­der, nicht zuletzt ist er auch für sei­ne Kom­po­si­tio­nen bekannt. So ist etwa in »+/-« zu Beginn durch­gän­gig ein durch­drin­gen­der Sinus­ton zu hören, der irgend­wann nicht mehr auf­fällt, um dar­auf­hin zu ver­stum­men und ein sehr befremd­li­ches Gefühl aus­zu­lö­sen. Sound spielt aller­dings auch in Ikedas Instal­la­tio­nen eine gro­ße Rol­le. Wie in ande­ren Aus­stel­lun­gen auch, herrscht in »db« eine Syn­äs­the­sie zwi­schen Licht und Ton, das heißt, bei­de tre­ten in eine enge Ver­schrän­kung miteinander.

Im Ver­gleich zu ande­ren kon­zer­tan­ten Auf­trit­ten hat er für »db« sein For­men­in­ven­tar noch ein­mal redu­ziert, ähn­lich wie auch in der gro­ßen Aus­stel­lung, die er in Tokyo hat­te, in der er eben­falls die Prints mit den irre­du­zi­blen Zah­len zeig­te1. Wäh­rend man bei den kon­zer­tan­ten Auf­füh­run­gen von einer kom­ple­xen Sound­spur und per­ma­nent wech­seln­den Visu­als ein­ge­nom­men ist, wird man hier mit einer redu­zier­te­ren Spra­che kon­fron­tiert. Indem es eben nur die­se Sinus­wel­le gibt und auf der einen Sei­te die schwar­zen Prints, auf der ande­ren Sei­te die Zah­len­pro­jek­tio­nen – aber nicht in den über­wäl­ti­gen­den For­ma­ten, wie er sie in man­chen ande­ren Instal­la­tio­nen gezeigt hat (vor eini­gen Jah­ren konn­te man auf der Trans­me­dia­le in eine vier mal acht Meter mes­sen­de Pro­jek­ti­on ein­tau­chen2) –, hat er hier erneut eine Kon­zen­tra­ti­on vor­ge­nom­men. Die Aus­stel­lung hat für ihn daher einen beson­de­ren Stel­len­wert, weil er ver­sucht hat, die Grund­ele­men­te sei­ner visu­el­len und musi­ka­li­schen Arbeit auf den Punkt zu bringen.

Ryoji Ikeda: db, Foto: Matthias PlanitzerRyo­ji Ikeda: db, Foto: Mat­thi­as Planitzer

Sie erwähn­ten bereits das Kon­zept der Unend­lich­keit, das nicht nur in »db« eine tra­gen­de Rol­le ein­nimmt. Wel­chen Stel­len­wert haben Mathe­ma­tik und Zah­len­mys­tik in Ikedas Werken?

Im Lau­fe der Jah­re hat er eine Fas­zi­na­ti­on für Zah­len und ins­be­son­de­re das mathe­ma­tisch-phi­lo­so­phi­sche Feld der unend­li­chen Zah­len ent­wi­ckelt. Er hat sich peu-á-peu die­ser Unend­lich­keit ange­nä­hert, bis er an der Gren­ze der Wahr­neh­mung ange­lang­te, die er in sei­ner Kunst unter­sucht. Was kann man hören, was kann man als musi­ka­li­sches Erleb­nis wahr­neh­men? Wie mini­mal kann das sein? Auf der ande­ren Sei­te steht aber auch die Fra­ge, wann unse­re Wahr­neh­mung aus die­sen Schwin­del erre­gen­den Zah­len­wel­ten aussteigt.

Er kann sei­ne Fas­zi­na­ti­on sehr leb­haft beschrei­ben: Man stel­le sich ein­mal vor, wel­che Unend­lich­keit allein zwi­schen den Zah­len Null und Eins auf­scheint, wenn man mal anfängt, die Nach­kom­ma­stel­len auf­zu­ma­chen – 0.1, 0.01 und so wei­ter und so fort. Wenn man anfängt dar­über nach­zu­den­ken, tut sich plötz­lich ein unend­li­cher Raum auf, der in sei­ner maxi­ma­len Aus­deh­nung für uns gar nicht mehr fass­bar ist, und dann eben in einen Kon­trast zu die­ser mini­ma­len Beschrän­kung auf bestimm­te Sounds und visu­el­le Infor­ma­tio­nen gerät. Die­se Span­ne zwi­schen dem Mini­ma­len und dem Maxi­ma­len macht sei­ne Kunst in beson­de­rer Wei­se aus und schlägt eine inter­es­san­te Brü­cke zur Mini­mal Art, die sich nach mei­nem Ver­ständ­nis eben­falls dadurch aus­zeich­net. Das ist ein sol­ches Moment, in dem ich eine inten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit der bil­den­den Kunst sehe.

Pas­send dazu haben Sie im Erd­ge­schoss Arbei­ten von Roman Opałka aus­ge­stellt, wel­cher sich ja eben­falls inten­siv der Unend­lich­keit wid­me­te. Was ver­bin­det, aber was unter­schei­det auch Opał­ka und Ikeda?

Roman Opał­ka nahm es sich 1965 als Lebens­pro­jekt vor, Zah­len von eins bis gegen unend­lich in weiß auf schwar­zem, bzw. im Lau­fe der Jah­re auf grau­em Grund zu malen. Um täg­lich eine bestimm­te Stre­cke zurück­zu­le­gen, tat er dies in einem stren­gen Rhyth­mus. Die Zah­len, die er mal­te, hat er dabei gespro­chen und das auch auf­ge­nom­men. Eine sol­che Auf­nah­me prä­sen­tie­ren wir hier eben­falls. Bei Opał­ka ist das Ver­hält­nis sei­ner eige­nen per­sön­li­chen Lebens­zeit zu einem Kos­mos von unend­li­chen Zah­len über sei­ne eige­ne kör­per­li­che Tätig­keit ver­mit­telt. Daß er selbst die­se Zah­len aus­schreibt, ist ein star­kes Ele­ment in sei­ner Arbeit. Man kann ihn in die­sem Punkt mit ande­ren Künst­lern wie Han­ne Dar­bo­ven3 und On Kawa­ra4 und ihren Auf­schrei­be­sys­te­men in Bezie­hung brin­gen. Dage­gen ist es bei Ikeda die Fas­zi­na­ti­on für die unend­li­chen Zah­len, die im tech­ni­schen Fort­schritt der com­pu­te­ri­sier­ten Berech­nung ein Uni­ver­sum eröff­nen, das weit über unse­re Gehirn­ka­pa­zi­tä­ten hin­aus reicht. Wie man es im schwar­zen Raum ein­drück­lich erfährt, kön­nen wir die­se Dimen­sio­nen mit unse­rer Wahr­neh­mung gar nicht fas­sen. Ikeda inter­es­sie­ren auch die durch Com­pu­ter geschaf­fe­nen Dar­stel­lungs­mög­lich­kei­ten, die nicht mit der Lebens­zeit des Künst­lers und der Beschrän­kung belegt sind, die not­wen­di­ger­wei­se damit ver­bun­den ist. Dadurch bekommt sei­ne Arbeit gera­de eine Abs­trakt­heit und eine Ten­denz zum Phi­lo­so­phi­schen, die Roman Opał­ka in eine Fass­bar­keit und per­sön­li­che Bezie­hung zu die­sen Zah­len umzu­mün­zen ver­such­te. Das sind durch­aus pola­re Inter­es­sen, doch sind bei­de fas­zi­niert von dem Phä­no­men der unend­li­chen Zah­len. Die­se Ver­bin­dung erscheint mir sehr interessant.

Die Kuratorin Dr. Gabriele Knapstein im Gespräch, Foto: Michał SamolenkoDie Kura­to­rin Dr. Gabrie­le Knapstein im Gespräch, Foto: Michał Samolenko

Den leicht nach­voll­zieh­ba­ren Ite­ra­tio­nen Opał­kas ste­hen jedoch die unfass­ba­ren Zah­len­wei­ten Ikedas gegen­über. Als in sei­ner Wahr­neh­mung ein­ge­schränk­ter Besu­cher wird man sich unwei­ger­lich fra­gen, ob die­se mons­trö­sen Zah­len­rei­hen tat­säch­lich in der Unend­lich­keit kumu­lie­ren oder ob die mathe­ma­ti­sche Prä­zi­si­on die­ser über­wäl­ti­gen­den Dimen­si­on nicht eigent­lich in einem Rau­schen zusammenbricht.

Ich emp­fin­de es als fas­zi­nie­rend, in ein Uni­ver­sum von Zah­len ein­zu­tau­chen, mit dem man sich sonst nicht so häu­fig kon­fron­tiert sieht, wenn man kein Mathe­ma­ti­ker ist. Es hat ein gro­ßes immersi­ves Moment, wie er die Zah­len dar­stellt, die im Fal­le der Pro­jek­ti­on per­ma­nent wei­ter geschrie­ben wer­den, so daß man als Betrach­ter dann doch eine kör­per­li­che Erfah­rung im Uni­ver­sum die­ser Zah­len machen kann, die Roman Opał­ka als Maler  auf eine ganz ande­re Art für sich her­ge­stellt hat.

Sie haben Ikedas »db« nicht nur dem Lebens­werk Opał­kas gegen­über­ge­stellt, son­dern neh­men auch Bezug auf Dan Fla­vin, des­sen gesetz­ter Mini­ma­lis­mus den Besu­cher im Erd­ge­schoss emp­fängt. Bei Ikeda fin­det man mini­ma­le For­men, die bis ins Maxi­ma­le aus­ge­reizt wer­den um dadurch über­wäl­ti­gen­de Ergeb­nis­se zu erzie­len. Eine ähn­li­che Wir­kung fin­det man auch bei Cars­ten Höl­ler, vor des­sen rie­si­ger, fla­ckern­der LED-Wand »Light Wall“ man in Ehr­furcht erstarrt. Kürz­lich zeig­te die daad­ga­le­rie mit Yuta­ka Maki­no eine »db« sehr ähn­li­che Aus­stel­lung5. Auf der ande­ren Sei­te eröff­net uns Andre­as Gurs­ky bei­spiels­wei­se in »Mont­par­nas­se« mit mini­ma­len For­men ein über­wäl­ti­gen­des Spek­trum. Wie ver­or­ten Sie Ikeda in die­sem Spektrum?

Ryo­ji Ikeda steht in sehr engem Aus­tausch mit Künst­lern wie Cars­ten Nico­lai, der ja auch an die­ser Gren­ze zwi­schen elek­tro­ni­scher Musik und Visua­li­sie­rung von mini­ma­len Impul­sen und Daten arbei­tet. Bei Andre­as Gurs­ky sehe ich eine ande­re Rich­tung, weil hier eine erzäh­le­ri­sche Kom­po­nen­te hin­zu­tritt, die in den Wer­ken von Ryo­ji Ikeda oder Cars­ten Nico­lai in die­sem Sin­ne nicht vor­han­den ist. Die Fra­ge, inwie­fern den Wer­ken eine Über­wäl­ti­gungs­äs­the­tik inne­wohnt, mit der jemand wie Ryo­ji Ikeda arbei­tet, muss von jedem Betrach­ter anders beant­wor­tet wer­den. Andre­as Gurs­ky über­wäl­tigt eher mit bestimm­ten For­ma­ten, Moti­ven und der Bear­bei­tung, die er ihnen ange­dei­hen lässt. Bei Ikeda kommt aller­dings auch ein musi­ka­li­scher Ansatz hin­zu, was einen ganz gro­ßen Anteil an der Erzeu­gung der Erfah­rung hat, die der Besu­cher macht. Dar­in sehe ich einen grund­sätz­lich unter­schied­li­chen ästhe­ti­schen Ansatz, den Ryo­ji Ikeda in Ver­gleich zu Andre­as Gurs­ky wählt.

Cars­ten Nico­lai war ja auch bereits in der Neu­en Natio­nal­ga­le­rie ver­tre­ten6, eben­falls in der Rei­he »Musik­wer­ke bil­den­der Künst­ler«, und ist auch gleich­zei­tig lang­jäh­ri­ger Freund und Kol­le­ge Ryo­ji Ikedas. Sie ver­öf­fent­li­chen ihre Musik bei Nico­lais Label ras­ter noton und erstel­len auch gemein­sa­me Wer­ke. Ist im Rah­men der »Musik­wer­ke bil­den­der Künst­ler« oder ande­rer For­ma­te eine Koope­ra­ti­on geplant? Könn­te man bald Cars­ten Nico­lai und Ryo­ji Ikeda zusam­men hier im Hau­se sehen?

Wir haben den Anspruch, sehr vie­le ver­schie­de­ne Posi­tio­nen vor­zu­füh­ren und eine Vari­anz zu zei­gen. Wie­der­hol­te Auf­trit­te wür­den dann eher nicht in sol­chen Ein­zel- oder Dop­pel­aus­stel­lun­gen vor­kom­men. Etwas ande­res sind natür­lich Grup­pen­aus­stel­lun­gen oder Samm­lungs­prä­sen­ta­tio­nen, soll­te eine sol­che Arbeit in die Samm­lung ein­ge­hen. Wir woll­ten die­se bei­den Künst­ler auch gezielt mit ihren jewei­li­gen Posi­tio­nen vor­stel­len, gera­de auch weil im Fal­le die­ser bei­den Pro­jek­te die Kom­bi­na­ti­on von Visu­als und Sound unter­schied­lich war. Bei Cars­ten Nico­lais Pro­jekt »syn chron« war es so, daß die Visu­als von den Sounds gene­riert wur­den. Das ist bei »db« nicht so: Die Sounds, die man im schwar­zen Raum hört, sind nicht unmit­tel­bar auf die Zah­len bezo­gen, die pro­ji­ziert wer­den. Statt­des­sen sind es zwei par­al­le­le Ebe­nen, die er zusam­men kom­po­niert hat.

»syn chron« wur­de damals mit viel Begeis­te­rung auf­ge­nom­men. Gera­de auch die Kin­der hat­ten sicht­lich Spaß dar­an. Inwie­fern begeis­tert auch Ikedas »db« Ihre jun­gen Besucher?

Die Kin­der sind natür­lich zunächst von der kör­per­li­chen Erfah­rung die­ses Laut­spre­cher­sounds und von dem Licht­strahl fas­zi­niert. Sie haben eine unmit­tel­ba­re Lust an die­ser Inter­ak­ti­on. Sie spü­ren, daß sie mit ihrem Kör­per beein­flus­sen, was sie erle­ben kön­nen. Man kann hier auch basis­phy­si­ka­li­sche Fra­ge­stel­lun­gen wie »Was ist eine Klang­wel­le? Was ist ein Licht­strahl?« sehr anschau­lich ver­mit­teln und inso­fern ist »db« auch etwas für unse­re klei­nen Besucher.

Die Aus­stel­lung »db« kann noch bis zum 9. April im Ham­bur­ger Bahn­hof besucht werden.

Inter­view: Mat­thi­as Planitzer
Video, Post-Pro­duc­tion: Michał Samolenko
in Koope­ra­ti­on mit Art­con­nect Ber­lin, Maria Ebbinghaus

Das gan­ze Inter­view als PDF-Datei.

  1. Muse­um für zeit­ge­nös­si­sche Kunst, Tokyo: »+/-«, 02.04. – 21.06. 2009 (u.a. mit den in Ber­lin eben­falls aus­ge­stell­ten »the irre­du­ci­b­le (n°1–10)« und »the tran­s­cen­den­tal (e) (n° 2‑a)«)
  2. transmediale.10 und CTM 10, Ber­lin: »Pat­tern Reco­gni­ti­on feat. Ryo­ji Ikeda, Jür­gen Reb­le & Tho­mas Köner«, 03.02. 2010
  3. s. bspw. Han­ne Dar­bo­ven: »Schreib­zeit« (1975 – 1980), »Hom­mage à Picas­so« (1995 – 2006)
  4. s. On Kawa­ra: »Today« (1966 – andau­ernd)
  5. daad­ga­le­rie, Ber­lin: »The con­di­ti­ons of the pro­cess«, 10.12. 2011 – 22.01. 2012
  6. Neue Natio­nal­ga­le­rie, Ber­lin: »syn chron«, 25.02. – 03.04. 2005