Die Frage schien naheliegend: Wie werden in der zeitgenössischen Videokunst Erzähltechniken aus Mythen und Sagen, Märchen und Fabeln für gegenwärtige Themen genutzt? Schließlich vereinen sich hier Narration und Fantasmen wie kaum ein zweites Mal in den visuellen Künsten. Was hätte nur Greenberg dazu gesagt…? Doch im Ernst: Die Ausstellung »Once upon a time« in der Deutschen Guggenheim will unvoreingenommen an diese Untersuchung herangehen und dafür anhand einer kleinen Auswahl aus den Beständen des Guggenheim-Museums aufzeigen, wie fantastische Narration in der Videokunst aufgefasst wird.
Jetzt, wo die Ausstellung Halbzeit hat und der Besucherstrom versiegt, lohnt es sich, die Ruhe für einen genaueren Blick auf die sechs unterschiedlichen Positionen zu nutzen. Kuratorin Joan Young hat hierfür Arbeiten u.a. von Francis Alÿs, Mika Rottenberg und Cao Fei zusammengestellt und es geschafft, daraus eine thematisch sehr überzeugende Ausstellung zu formen.
Aleksandra Mir: First woman on the moon, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011, Deutsche Guggenheim
Beim Betreten der Ausstellungsräume Unter den Linden wird dem Besucher zunächst mit einem kurzweiligen Video von Aleksandra Mir konfrontiert. »First woman on the moon« verspricht nicht zu viel: Mir spinnt den Faden der Mondlandung von 1969 weiter und inszeniert an einem niederländischen Badestrand die feministisch gefärbte Fortsetzung. Daß sie die künstlich aufgeworfenen Krater in Begleitung einiger begeisterter Kinder erklimmt, hindert sie nicht daran, vor den versammelten Kameras der eigens bestellten Presse die amerikanische Flagge auf – naja, fast – lunarem Boden zu hissen.
Das zwölfminütige Video erinnert ob der sorgfältig erzählten Inszenierung auch ohne Kenntnis des Titels schnell an die bekannten Bilder von Apollo 11. Natürlich ist auch die dazugehörige Verschwörungstheorie nicht weit, doch Mir geht gekonnt und humorvoll damit um: Sie lässt beide hinter sich und bietet lieber ihre eigene Version an. Originalfunkaufnahmen von den als Vorbildern dienenden Mondlandungen und atmosphärische Musik geben manchmal die nötige Authentizität, dann wieder eine irritierende Albernheit, die im Wechsel mit den Bildern von Badegästen und den Sandbergen nicht sicher erahnen lassen, ob man es mit einer Dokumentation oder einem Possenspiel zu tun hat. Die Verwirrung darüber spiegelt sich wunderbar in den eigenen Vergleichen über die vormals gekannten Versionen einer Mondlandung und so bleibt nur eine Erkenntnis über: Wie auch immer sie vor sich ging, ihren eigenen Narrativ hat sie allemal gefunden.
Nachdem man also zunächst gelernt hat, den Erzählmodus vom Inhalt zu trennen, darf man sich an Pierre Huyghes »One million kingdoms« üben: Der Franzose ist ebenfalls mit einem Video einer vermeintlichen Mondlandung vertreten, jedoch darf bei ihm eine leuchtende Zeichentrickfigur eine geometrisch abstrahierte Landschaft entdecken. Jules Vernes »Reise zum Mittelpunkt der Erde« und Funksprüche Neil Armstrongs verschränken sich bei Huyghe zu einer Untersuchung einer Ära von Entdeckern, die die Grenzen der Erdoberfläche überwinden.
Ob diese in der Realität oder der Fantasie nach neuen Welten suchen, ist bei Huyghe einerlei: Er fragt nach den Mechanismen beider Erzählmodi, die in diesem vergleichenden Stück eins werden. Die Vereinigung von Science und Fiction wird dank der exzellent gewählten Beispiele nahezu perfekt herbeigeführt. Wäre nicht die beständig über die Lautsprecher tönende Abhandlung über das Wesen von Wahrheit und Lüge, Wissen und Unwissen, dann würde man nicht immer wieder daran erinnert, die Authentizität des Dargebotenen zu hinterfragen. Denn »One million kingdoms« verbirgt hinter fantastischen Landschaften und demonstrativer Langsamkeit nicht etwa den Echtheitsbeweis, sondern die einfache Erkenntnis, daß dieser, im narrativen Dickicht versteckt, nicht abschließend erbracht werden kann.
Francis Alÿs: When faith moves mountains, © Foto: Mathias Schormann, Deutsche GuggenheimEbenso aussichtslos ist es für den Besucher, die Echtheit des Dargebotenen in Francis Alÿs‹ Werk »When faith moves mountains« beliebig genau bestimmen zu wollen. In seiner bekannten Arbeit lässt er fünfhundert Freiwillig eine Sanddüne um zehn Zentimeter verrücken. Dem großen, doch aber nur wenig wirksamen Aufwand spürt er mit verschiedenen Kameraeinstellungen nach, die die schaufelnde Kolonne auf ihrem Weg begleiten. Eine zeigt sie in der Nahaufnahme, eine andere hält ihren Aufstieg fest, eine weitere wartet auf das Überschreiten der Kuppe. Die Anordnung der Schirme ermöglicht zwar eine umfassende Verfolgung dieses Vorgangs, jedoch bleibt durch die Asynchronität der Aufnahmen unklar, welche man als Referenz ansehen kann.
Alÿs sorgfältige Arbeitsweise, die ja bereits im MoMA PS1 detailliert dargelegt wurde, wurde auch in der Deutschen Guggenheim darzustellen versucht. Durch die Aufhebung von Gleichzeitigkeit, der Gleichgewichtung von Planung und Ausführung eines Projekts lösen sich diese Grenzen bei Alÿs ganz in der Idee auf und entrücken sie auf eine höhere Sphäre der Transzendenz. Alÿs‹ Arbeiten streifen ihre Fesseln der Immanenz ab und befreien sich somit auch von dem Zwang, über Echtheit und Wahrheit klare Aussagen zu machen. Wenn Huyghe die Antwort auf diese Frage gut versteckt, dann lässt Alÿs diese gar nicht erst zu. Dies wird aber – ähnlich wie im Kino Quentin Tarantinos – erst durch die parallele Anordnung unterschiedlich gelagerter Erzählstränge ermöglicht (dafür jedoch ungemein wirkungsvoller). Der märchenhafte Charakter entsteht erst danach, nämlich aus der Unbedeutsamkeit der Zeitlichkeit.
Cao Fei: Whose Utopia, © 2011 Cao Fei, Vitamin Creative Space, Guangzhou, Deutsche GuggenheimVon dort ist es auch nicht mehr weit zu Janaina Tschäpes »Lacrimacorpus«, in dem die fortwährende Drehung einer Tänzerin die Zeit überwindet und auch an die alles überdauernde Tristesse der Effi Briest (sowie ihres Untergangs) erinnert. Auch Mika Rottenbergs »Dough« bezwingt durch Repetition die Endlichkeit einer zwecklos scheinenden Handlung.
Cao Fei nutzt in »Whose Utopia« im Gegensatz zu Huyghe nicht etwa Gleichförmigkeit sondern Kontrast für die Vermittlung seines Anliegens: Bei ihm treffen traditionelle chinesische Tänze und die Algorithmen einer Glühbirnenmanufaktur knallend aufeinander und zeichnen ein scharfes Bild von einer Gesellschaft, die den Verlust von Individualität mit einer Besinnung auf ihre kulturelle Identität wett machen will.
Wer damit alle sechs Videoarbeiten der Ausstellung gesehen hat, geht tatsächlich mit dem Gefühl heim, die Strategien des Einsatzes fantastischer Narrative in der zeitgenössischen Videokunst kennengelernt zu haben. Man sieht nicht häufig eine Ausstellung, deren roter Faden so gut sichtbar ist wie in »Once upon a time«. – Wer wie Jane Young aus einem so reichhaltigen Archiv wie dem des Guggenheim schöpfen kann, sollte damit auch keine allzu große Mühe haben. Dennoch ist »Once upon a time« eine vorbildlich kuratierte Videoausstellung, die auch den häufig begangenen Fehler der Langatmigkeit nicht begeht. Keines der ausgewählten Werke dominiert in Länge oder Schwere über die anderen. Stattdessen harmonieren die Arbeiten mit einander und fügen sich durch ihre Anordnung zu einem spannenden Ganzen zusammen. »Once upon a time« macht erfrischend viel Spaß und ist – jetzt, wo man nicht durch schnatternde Besucherscharen gestört wird – allemal einen Besuch wert.