Moderne Märchen entzaubert

24. August 2011 von Matthias Planitzer
Cao Fei: Whose Utopia, © 2011 Cao Fei, Vitamin Creative Space, Guangzhou, Deutsche Guggenheim Die Frage schien naheliegend: Wie werden in der zeitgenössischen Videokunst Erzähltechniken aus Mythen und Sagen, Märchen und Fabeln für gegenwärtige Themen genutzt? Schließlich vereinen sich hier Narration und Fantasmen wie kaum ein zweites Mal in den visuellen Künsten. Was hätte nur Greenberg dazu gesagt…? Doch im Ernst: Die Ausstellung "Once upon a time" in der Deutschen Guggenheim will unvoreingenommen an diese Untersuchung herangehen und dafür anhand einer kleinen Auswahl aus den Beständen des Guggenheim-Museums aufzeigen, wie fantastische Narration in der Videokunst aufgefasst wird. Jetzt, wo die Ausstellung Halbzeit hat und der Besucherstrom versiegt, lohnt es sich, die Ruhe für einen genaueren Blick auf die sechs unterschiedlichen Positionen zu nutzen. Kuratorin Joan Young hat hierfür Arbeiten u.a. von Francis Alÿs, Mika Rottenberg und Cao Fei zusammengestellt und es geschafft, daraus eine thematisch sehr überzeugende Ausstellung zu formen.
Cao Fei: Whose Utopia, © 2011 Cao Fei, Vitamin Creative Space, Guangzhou, Deutsche GuggenheimCao Fei: Who­se Uto­pia, © 2011 Cao Fei, Vit­amin Crea­ti­ve Space, Guang­zhou, Deut­sche Guggenheim

Die Fra­ge schien nahe­lie­gend: Wie wer­den in der zeit­ge­nös­si­schen Video­kunst Erzähl­tech­ni­ken aus Mythen und Sagen, Mär­chen und Fabeln für gegen­wär­ti­ge The­men genutzt? Schließ­lich ver­ei­nen sich hier Nar­ra­ti­on und Fan­tas­men wie kaum ein zwei­tes Mal in den visu­el­len Küns­ten. Was hät­te nur Green­berg dazu gesagt…? Doch im Ernst: Die Aus­stel­lung »Once upon a time« in der Deut­schen Gug­gen­heim will unvor­ein­ge­nom­men an die­se Unter­su­chung her­an­ge­hen und dafür anhand einer klei­nen Aus­wahl aus den Bestän­den des Gug­gen­heim-Muse­ums auf­zei­gen, wie fan­tas­ti­sche Nar­ra­ti­on in der Video­kunst auf­ge­fasst wird.

Jetzt, wo die Aus­stel­lung Halb­zeit hat und der Besu­cher­strom ver­siegt, lohnt es sich, die Ruhe für einen genaue­ren Blick auf die sechs unter­schied­li­chen Posi­tio­nen zu nut­zen. Kura­to­rin Joan Young hat hier­für Arbei­ten u.a. von Fran­cis Alÿs, Mika Rot­ten­berg und Cao Fei zusam­men­ge­stellt und es geschafft, dar­aus eine the­ma­tisch sehr über­zeu­gen­de Aus­stel­lung zu formen.

Aleksandra Mir: First woman on the moon, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011, Deutsche GuggenheimAlek­san­dra Mir: First woman on the moon, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011, Deut­sche Guggenheim

Beim Betre­ten der Aus­stel­lungs­räu­me Unter den Lin­den wird dem Besu­cher zunächst mit einem kurz­wei­li­gen Video von Alek­san­dra Mir kon­fron­tiert. »First woman on the moon« ver­spricht nicht zu viel: Mir spinnt den Faden der Mond­lan­dung von 1969 wei­ter und insze­niert an einem nie­der­län­di­schen Bade­strand die femi­nis­tisch gefärb­te Fort­set­zung. Daß sie die künst­lich auf­ge­wor­fe­nen Kra­ter in Beglei­tung eini­ger begeis­ter­ter Kin­der erklimmt, hin­dert sie nicht dar­an, vor den ver­sam­mel­ten Kame­ras der eigens bestell­ten Pres­se die ame­ri­ka­ni­sche Flag­ge auf – naja, fast – luna­rem Boden zu hissen.

Das zwölf­mi­nü­ti­ge Video erin­nert ob der sorg­fäl­tig erzähl­ten Insze­nie­rung auch ohne Kennt­nis des Titels schnell an die bekann­ten Bil­der von Apol­lo 11. Natür­lich ist auch die dazu­ge­hö­ri­ge Ver­schwö­rungs­theo­rie nicht weit, doch Mir geht gekonnt und humor­voll damit um: Sie lässt bei­de hin­ter sich und bie­tet lie­ber ihre eige­ne Ver­si­on an. Ori­gi­nal­funk­auf­nah­men von den als Vor­bil­dern die­nen­den Mond­lan­dun­gen und atmo­sphä­ri­sche Musik geben manch­mal die nöti­ge Authen­ti­zi­tät, dann wie­der eine irri­tie­ren­de Albern­heit, die im Wech­sel mit den Bil­dern von Bade­gäs­ten und den Sand­ber­gen nicht sicher erah­nen las­sen, ob man es mit einer Doku­men­ta­ti­on oder einem Pos­sen­spiel zu tun hat. Die Ver­wir­rung dar­über spie­gelt sich wun­der­bar in den eige­nen Ver­glei­chen über die vor­mals gekann­ten Ver­sio­nen einer Mond­lan­dung und so bleibt nur eine Erkennt­nis über: Wie auch immer sie vor sich ging, ihren eige­nen Nar­ra­tiv hat sie alle­mal gefunden.

Nach­dem man also zunächst gelernt hat, den Erzähl­mo­dus vom Inhalt zu tren­nen, darf man sich an Pierre Huyg­hes »One mil­li­on king­doms« üben: Der Fran­zo­se ist eben­falls mit einem Video einer ver­meint­li­chen Mond­lan­dung ver­tre­ten, jedoch darf bei ihm eine leuch­ten­de Zei­chen­trick­fi­gur eine geo­me­trisch abs­tra­hier­te Land­schaft ent­de­cken. Jules Ver­nes »Rei­se zum Mit­tel­punkt der Erde« und Funk­sprü­che Neil Arm­strongs ver­schrän­ken sich bei Huyg­he zu einer Unter­su­chung einer Ära von Ent­de­ckern, die die Gren­zen der Erd­ober­flä­che überwinden.

Ob die­se in der Rea­li­tät oder der Fan­ta­sie nach neu­en Wel­ten suchen, ist bei Huyg­he einer­lei: Er fragt nach den Mecha­nis­men bei­der Erzähl­mo­di, die in die­sem ver­glei­chen­den Stück eins wer­den. Die Ver­ei­ni­gung von Sci­ence und Fic­tion wird dank der exzel­lent gewähl­ten Bei­spie­le nahe­zu per­fekt her­bei­ge­führt. Wäre nicht die bestän­dig über die Laut­spre­cher tönen­de Abhand­lung über das Wesen von Wahr­heit und Lüge, Wis­sen und Unwis­sen, dann wür­de man nicht immer wie­der dar­an erin­nert, die Authen­ti­zi­tät des Dar­ge­bo­te­nen zu hin­ter­fra­gen. Denn »One mil­li­on king­doms« ver­birgt hin­ter fan­tas­ti­schen Land­schaf­ten und demons­tra­ti­ver Lang­sam­keit nicht etwa den Echt­heits­be­weis, son­dern die ein­fa­che Erkennt­nis, daß die­ser, im nar­ra­ti­ven Dickicht ver­steckt, nicht abschlie­ßend erbracht wer­den kann.

Francis Alÿs: When faith moves mountains, © Foto: Mathias Schormann, Deutsche GuggenheimFran­cis Alÿs: When faith moves moun­ta­ins, © Foto: Mathi­as Schor­mann, Deut­sche Guggenheim

Eben­so aus­sichts­los ist es für den Besu­cher, die Echt­heit des Dar­ge­bo­te­nen in Fran­cis Alÿs‹ Werk »When faith moves moun­ta­ins« belie­big genau bestim­men zu wol­len. In sei­ner bekann­ten Arbeit lässt er fünf­hun­dert Frei­wil­lig eine Sand­dü­ne um zehn Zen­ti­me­ter ver­rü­cken. Dem gro­ßen, doch aber nur wenig wirk­sa­men Auf­wand spürt er mit ver­schie­de­nen Kame­ra­ein­stel­lun­gen nach, die die schau­feln­de Kolon­ne auf ihrem Weg beglei­ten. Eine zeigt sie in der Nah­auf­nah­me, eine ande­re hält ihren Auf­stieg fest, eine wei­te­re war­tet auf das Über­schrei­ten der Kup­pe. Die Anord­nung der Schir­me ermög­licht zwar eine umfas­sen­de Ver­fol­gung die­ses Vor­gangs, jedoch bleibt durch die Asyn­chro­ni­tät der Auf­nah­men unklar, wel­che man als Refe­renz anse­hen kann.

Alÿs sorg­fäl­ti­ge Arbeits­wei­se, die ja bereits im MoMA PS1 detail­liert dar­ge­legt wur­de, wur­de auch in der Deut­schen Gug­gen­heim dar­zu­stel­len ver­sucht. Durch die Auf­he­bung von Gleich­zei­tig­keit, der Gleich­ge­wich­tung von Pla­nung und Aus­füh­rung eines Pro­jekts lösen sich die­se Gren­zen bei Alÿs ganz in der Idee auf und ent­rü­cken sie auf eine höhe­re Sphä­re der Tran­szen­denz. Alÿs‹ Arbei­ten strei­fen ihre Fes­seln der Imma­nenz ab und befrei­en sich somit auch von dem Zwang, über Echt­heit und Wahr­heit kla­re Aus­sa­gen zu machen. Wenn Huyg­he die Ant­wort auf die­se Fra­ge gut ver­steckt, dann lässt Alÿs die­se gar nicht erst zu. Dies wird aber – ähn­lich wie im Kino Quen­tin Taran­ti­nos – erst durch die par­al­le­le Anord­nung unter­schied­lich gela­ger­ter Erzähl­strän­ge ermög­licht (dafür jedoch unge­mein wir­kungs­vol­ler). Der mär­chen­haf­te Cha­rak­ter ent­steht erst danach, näm­lich aus der Unbe­deut­sam­keit der Zeitlichkeit.

Cao Fei: Whose Utopia, © 2011 Cao Fei, Vitamin Creative Space, Guangzhou, Deutsche GuggenheimCao Fei: Who­se Uto­pia, © 2011 Cao Fei, Vit­amin Crea­ti­ve Space, Guang­zhou, Deut­sche Guggenheim

Von dort ist es auch nicht mehr weit zu Janai­na Tsch­ä­pes »Lacri­ma­cor­pus«, in dem die fort­wäh­ren­de Dre­hung einer Tän­ze­rin die Zeit über­win­det und auch an die alles über­dau­ern­de Tris­tesse der Effi Briest (sowie ihres Unter­gangs) erin­nert. Auch Mika Rot­ten­bergs »Dough« bezwingt durch Repe­ti­ti­on die End­lich­keit einer zweck­los schei­nen­den Handlung.
Cao Fei nutzt in »Who­se Uto­pia« im Gegen­satz zu Huyg­he nicht etwa Gleich­för­mig­keit son­dern Kon­trast für die Ver­mitt­lung sei­nes Anlie­gens: Bei ihm tref­fen tra­di­tio­nel­le chi­ne­si­sche Tän­ze und die Algo­rith­men einer Glüh­bir­nen­ma­nu­fak­tur knal­lend auf­ein­an­der und zeich­nen ein schar­fes Bild von einer Gesell­schaft, die den Ver­lust von Indi­vi­dua­li­tät mit einer Besin­nung auf ihre kul­tu­rel­le Iden­ti­tät wett machen will.

Wer damit alle sechs Video­ar­bei­ten der Aus­stel­lung gese­hen hat, geht tat­säch­lich mit dem Gefühl heim, die Stra­te­gien des Ein­sat­zes fan­tas­ti­scher Nar­ra­ti­ve in der zeit­ge­nös­si­schen Video­kunst ken­nen­ge­lernt zu haben. Man sieht nicht häu­fig eine Aus­stel­lung, deren roter Faden so gut sicht­bar ist wie in »Once upon a time«.  – Wer wie Jane Young aus einem so reich­hal­ti­gen Archiv wie dem des Gug­gen­heim schöp­fen kann, soll­te damit auch kei­ne all­zu gro­ße Mühe haben. Den­noch ist »Once upon a time« eine vor­bild­lich kura­tier­te Video­aus­stel­lung, die auch den häu­fig began­ge­nen Feh­ler der Lang­at­mig­keit nicht begeht. Kei­nes der aus­ge­wähl­ten Wer­ke domi­niert in Län­ge oder Schwe­re über die ande­ren. Statt­des­sen har­mo­nie­ren die Arbei­ten mit ein­an­der und fügen sich durch ihre Anord­nung zu einem span­nen­den Gan­zen zusam­men. »Once upon a time« macht erfri­schend viel Spaß und ist – jetzt, wo man nicht durch schnat­tern­de Besu­cher­scha­ren gestört wird – alle­mal einen Besuch wert.