Auf der von »based in Berlin« veranstalteten Pressetour, die im Shuttle nacheinander zu den fünf teilnehmenden Häusern führte, war die Dauer des Halts am Neuen Berliner Kunstverein großzügig genug bemessen, um sich ein wenig in der Nähe umzuschauen. Gleich gegenüber der Institution, auf der anderen Seite der Chausseestraße, befindet sich die Wilde Gallery, die mir zuvor schon häufiger im Vorbeifahren auffiel. Durch die großen Schaufenster hindurch fiel an diesem Tag der Blick auf riesige, düstere Bilder, die die Besucher allein kraft ihrer Fernwirkung anlocken. Diesem magischen Sog folgend finden man sich schnell in den Galerieräumen wieder und steht wie paralysiert vor der größten der ausgestellten Arbeiten.
Es ist ein geschundenes und misshandeltes Bild, unfertig und im Werden begriffen. Man fühlt den Schmerz und die Wehmut, die von diesem Werk ausgehen, ist gefesselt von diesem kraftvollen Eindruck. »Stupid #1« ist Teil der Einzelausstellung des Kanadiers John Brown, dessen Maltechnik den Schlüssel zu dieser eindrucksvollen Wirkung birgt.
»Stupid #1« (Detail), © John Brown (c/o Wilde Gallery)
Tritt man heran, so erkennt man, daß Teile der Arbeit in sattem Impasto gestaltet, andere wiederum durch einen sparsamen, großflächigen Farbauftrag gekennzeichnet und wieder andere das Ergebnis ausgiebiger Grattage sind. Der Körper der dargestellten Figur ist stellenweise ein wüster Haufen pastoser Farbkleckse, die keinen figürlichen Konturen folgen: Sie sind auf den Untergrund mehr eingedrückt als gemalt, nicht etwa gestikuliert, sondern platt und leblos, dann wieder in derselben Art weggekratzt, übermalt und vermengt. Dort wiederum, wo die weißen Kratzspuren flächig ausgeführt sind, erscheint der Malgrund spiegelglatt. Man vermutet daher einen Kunst- oder einen Verbundstoff als Träger, wird aber überrascht, wenn man erfährt, daß es sich um einfaches Holz handelt.
Man möchte fast urteilen, John Brown misshandle seine Werke. Ihre Geschichte reicht oftmals lange zurück, meist lässt er sich durch eine Fotografie inspirieren, um daraufhin Farbschicht um Farbschicht aufzutragen und wieder wegzukratzen. Ein Gemälde übertüncht das andere, wird in Teilen wieder entfernt und macht Platz für das nächste. So geht das Spiel immer weiter, bis schlußendlich ein Ergebnis erreicht wird, das Ausdruck seines Werdens ist. Dennoch überwiegt der Eindruck, daß etwas fehle, daß die entfernte Farbe schwerer wiege als die noch vorhandene.
John Browns Arbeiten – allen voran »Portrait of M.A.« – sind in der Auflösung begriffen. Die Spuren vorangegangener Zustände dominieren über das noch Präsente. Verluste werden sichtbar. Trauer und Schmerz stellen sich ein. Manchmal gesellen sich auch Wehmut und Melancholie dazu, nämlich dann, wenn wie in »Stupid #1« das sich auflösende Bild eine Ästhetik der Auslöschung ausbildet. Brown bringt es selbst am besten auf den Punkt:
»My painting is subtractive, scraping and scratching away the flesh of paint, down to the wooden bones of the support.«
»Portrait of M.A.«, © John Brown (c/o Wilde Gallery)
Browns Grattage hat nichts mehr mit der zurückhaltenden Musterung Max Ernsts oder den grazilen Schwüngen Wols‹ gemein. Ihr Einsatz ist ungleich schonungsloser. Die Technik ist radikal. Ihre Absicht ist es nicht, tiefere Farbschichten anzudeuten oder kurz zu erwähnen. John Browns Ziel ist die Auslöschung jeder Obstruktion, die den Malgrund verdeckt.
»The light in my paintings comes from the back, instead of coming from the outside. My removal of paint is undertaken to allow more light to enter from the rear. […] I do so because I want to see the light, because I want to see what results from the scraping and subtraction.«
Dieser Dualismus zwischen Licht und Dunkel führt unweigerlich eine moralische Komponente ein. Der Akt des Abkratzens ist die Sühne, das Licht die Läuterung. Wenn man diesen Faden weiterspinnt, kommt man auf die Katharsis des Gemäldes, wird jedoch auch erkennen, daß jene des Publikums ausbleibt. Denn Browns Werke verfolgen keine Wirkung des Schocks oder des Mitleids, keinen Jammer und keine Furcht. Entgegen der antiken und klassischen Idee der Katharsis zielen seine Arbeiten nicht darauf ab, den Betrachter durch emotionale Bindung zu erziehen.
Die Emanzipation des Zuschauers, wie es so schön bei Ranciére heißt, ist bei Brown bereits vollzogen. Seine Gemälde wollen sich weder mitteilen noch verstanden werden, stehen ungeachtet des Betrachters allein für sich und bauen dadurch eine Distanz auf, die wiederum eine Ästhetik des Unerreichbaren und Unantastbaren ausbildet. John Browns Arbeiten wirken in der Tat fern und isoliert, werden dadurch aber erst interessant und geben – wenn der neugierige Betrachter einmal darauf angesprungen ist – eine verborgene, hochemotionale Dramatik wieder, die sich weder aufdrängt noch anbiedert.
Die Ausstellung in der Wilde Gallery (Chausseestraße 7, 10115 Berlin) endet leider schon am 18. Juni. Wer während der Öffnungszeiten mittwochs bis samstags von zwölf bis sechs Uhr Zeit findet, sollte sich die Ausstellung nicht entgehen lassen – und unbedingt ganz nah an die Werke herangehen; es lohnt sich.