Eine transhumanistische Vision

29. Januar 2011 von Matthias Planitzer
"Time Capsule", © Eduardo Kac Dieses Essay schrieb ich im Rahmen des universitären Seminars "Gesundheit, Schönheit, ewige Jugend", das sich auf philosophischer Ebene mit der Zukunft der Medizin beschäftigte und dabei neue Aufgabenbereiche neben der Therapie von Krankheiten diskutierte. Die Evolutionsgeschichte des Menschen zeichnet sich durch eine außerordentliche Beschleunigung aus, die allein auf Grundlage der biologischen Gesetze nicht möglich gewesen wäre. Das heutige menschliche Genom unterscheidet sich von dem des Neandertalers um nur 0,5%1, ein gering erscheinender Wert, trennten sich doch beide Spezies vor etwa 500.000 Jahren2. Und doch ist der gesamt-evolutive Unterschied beider Arten frappierend. Die biologische Evolution erwies sich als zu langsam für den Fortschritt des Homo sapiens sapiens, seine Entwicklung fand seitdem ausschließlich auf kultureller und wissenschaftlicher Ebene statt. Von den ersten Werkzeugen vor mehr als zwei Millionen Jahren bis zur ersten Hochkultur in Mesopotamien vor etwa 6000 Jahren verging eine deutlich längere Zeit als von da an bis zur klassischen Antike, auf welche in noch kürzerer Zeit die industrielle Revolution folgte. Diese beispielhaften Etappen stehen für eine Entwicklung der Menschheit, die sich in allen Bereichen der Wissenschaften, der Kultur wie der Gesellschaft wiederfinden lässt, interkulturell verbreitet ist und in ihrer Gesamtheit einem logarithmischen Verlauf folgt. Der bislang jüngste Meilenstein in dieser Folge ist mit dem Anbruch des Computerzeitalters markiert. Dem Mooreschen Gesetz zufolge verdoppelt sich die Komplexität von Computerchips etwa alle zwei Jahre. Vernor Vinge diskutierte daraufhin die Idee der technologischen Singularität, also den Zeitpunkt, ab dem sich Maschinen mittels künstlicher Intelligenz selbst verbessern können und somit der technologische Fortschritt unabhängig vom menschlichem Erfindergeist vorangetrieben wird3. Das Wissen um diese – utopisch oder dystopisch konnotierte – Zukunft und ihre Absehbarkeit befruchtete in der Postmoderne posthumanistische Denkweisen, die in der technologischen Evolution die Abschaffung des Menschen sehen. Weiterhin entstand in Konsonanz mit dem postmodernen Gedanken des kulturell freiheitlichen Individuums als Teil einer pluralistischen Gesellschaftsordnung die transhumanistische Idee des Menschen, der im technischen Fortschritt das Angebot zur selbst gewählten Evolution im Sinne einer Plug-In-Funktionalität bio-technischer Materialien erkennt. Der Post- und der Transhumanismus unterscheiden sich also in der Prognose über die technische Evolution; während der eine in letzter Konsequenz die Überwindung der Menschheit als Limitator derselben prophezeit, strebt der andere die Integration der technischen Mittel in eine individuell wählbare Evolution an und ist somit als Fortführung der bereits dargestellten Menschwerdung zu begreifen.

Eduardo Kac: Time Capsule»Time Cap­su­le«, © Edu­ar­do Kac

Die­ses Essay schrieb ich im Rah­men des uni­ver­si­tä­ren Semi­nars »Gesund­heit, Schön­heit, ewi­ge Jugend«, das sich auf phi­lo­so­phi­scher Ebe­ne mit der Zukunft der Medi­zin beschäf­tig­te und dabei neue Auf­ga­ben­be­rei­che neben der The­ra­pie von Krank­hei­ten diskutierte.

Die Evo­lu­ti­ons­ge­schich­te des Men­schen zeich­net sich durch eine außer­or­dent­li­che Beschleu­ni­gung aus, die allein auf Grund­la­ge der bio­lo­gi­schen Geset­ze nicht mög­lich gewe­sen wäre. Das heu­ti­ge mensch­li­che Genom unter­schei­det sich von dem des Nean­der­ta­lers um nur 0,5%1, ein gering erschei­nen­der Wert, trenn­ten sich doch bei­de Spe­zi­es vor etwa 500.000 Jah­ren2. Und doch ist der gesamt-evo­lu­ti­ve Unter­schied bei­der Arten frap­pie­rend. Die bio­lo­gi­sche Evo­lu­ti­on erwies sich als zu lang­sam für den Fort­schritt des Homo sapi­ens sapi­ens, sei­ne Ent­wick­lung fand seit­dem aus­schließ­lich auf kul­tu­rel­ler und wis­sen­schaft­li­cher Ebe­ne statt. Von den ers­ten Werk­zeu­gen vor mehr als zwei Mil­lio­nen Jah­ren bis zur ers­ten Hoch­kul­tur in Meso­po­ta­mi­en vor etwa 6000 Jah­ren ver­ging eine deut­lich län­ge­re Zeit als von da an bis zur klas­si­schen Anti­ke, auf wel­che in noch kür­ze­rer Zeit die indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on folg­te. Die­se bei­spiel­haf­ten Etap­pen ste­hen für eine Ent­wick­lung der Mensch­heit, die sich in allen Berei­chen der Wis­sen­schaf­ten, der Kul­tur wie der Gesell­schaft wie­der­fin­den lässt, inter­kul­tu­rell ver­brei­tet ist und in ihrer Gesamt­heit einem log­arith­mi­schen Ver­lauf folgt.

Der bis­lang jüngs­te Mei­len­stein in die­ser Fol­ge ist mit dem Anbruch des Com­pu­ter­zeit­al­ters mar­kiert. Dem Moo­re­schen Gesetz zufol­ge ver­dop­pelt sich die Kom­ple­xi­tät von Com­pu­ter­chips etwa alle zwei Jah­re. Ver­nor Vin­ge dis­ku­tier­te dar­auf­hin die Idee der tech­no­lo­gi­schen Sin­gu­la­ri­tät, also den Zeit­punkt, ab dem sich Maschi­nen mit­tels künst­li­cher Intel­li­genz selbst ver­bes­sern kön­nen und somit der tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt unab­hän­gig vom mensch­li­chem Erfin­der­geist vor­an­ge­trie­ben wird3.

Das Wis­sen um die­se – uto­pisch oder dys­to­pisch kon­no­tier­te – Zukunft und ihre Abseh­bar­keit befruch­te­te in der Post­mo­der­ne post­hu­ma­nis­ti­sche Denk­wei­sen, die in der tech­no­lo­gi­schen Evo­lu­ti­on die Abschaf­fung des Men­schen sehen. Wei­ter­hin ent­stand in Kon­so­nanz mit dem post­mo­der­nen Gedan­ken des kul­tu­rell frei­heit­li­chen Indi­vi­du­ums als Teil einer plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung die trans­hu­ma­nis­ti­sche Idee des Men­schen, der im tech­ni­schen Fort­schritt das Ange­bot zur selbst gewähl­ten Evo­lu­ti­on im Sin­ne einer Plug-In-Funk­tio­na­li­tät bio-tech­ni­scher Mate­ria­li­en erkennt. Der Post- und der Trans­hu­ma­nis­mus unter­schei­den sich also in der Pro­gno­se über die tech­ni­sche Evo­lu­ti­on; wäh­rend der eine in letz­ter Kon­se­quenz die Über­win­dung der Mensch­heit als Limi­ta­tor der­sel­ben pro­phe­zeit, strebt der ande­re die Inte­gra­ti­on der tech­ni­schen Mit­tel in eine indi­vi­du­ell wähl­ba­re Evo­lu­ti­on an und ist somit als Fort­füh­rung der bereits dar­ge­stell­ten Mensch­wer­dung zu begreifen.

Eduardo Kac: Time Capsule»Time Cap­su­le«, © Edu­ar­do Kac

Im Fol­gen­den soll es um die trans­hu­ma­nis­ti­sche Sicht­wei­se auf die huma­ne Evo­lu­ti­on gehen. Zwei not­wen­di­ge Schluss­fol­ge­run­gen ent­ste­hen dar­aus: Ers­tens ist das trans­hu­ma­nis­ti­sche Ver­spre­chen ohne medi­zi­ni­sche Hil­fe nicht ein­lös­bar. Zwei­tens ent­ste­hen dar­aus weit­rei­chen­de kul­tu­rel­le und sozia­le Kon­se­quen­zen, die bis­her kaum abseh­bar sind. Weder das eine noch das ande­re wird bis­her kaum fach­in­tern oder öffent­lich gewür­digt und so wird es nicht erstau­nen, dass trans­hu­ma­nis­ti­sche Künst­ler wie Edu­ar­do Kac wegen ihrer exo­tisch-uto­pisch anmu­ten­den Inten­tio­nen für viel media­les Auf­se­hen sorgen.

Kac arbei­tet mitt­ler­wei­le vor­nehm­lich auf dem Gebiet der trans­ge­nen Kunst, so ent­stand bei­spiels­wei­se „GFP Bun­ny“, die erfolg­rei­che Erzeu­gung eines grün fluo­res­zie­ren­den Hasen als ethi­sche Grund­satz­fra­ge trans­ge­ner Tech­no­lo­gien und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Bekannt wur­de er jedoch 1997 mit sei­ner Arbeit „Time Cap­su­le“, die sich im The­men­feld um Bio­tech­no­lo­gie und Plug-In-Funk­tio­na­li­tät, Iden­ti­tät und Indi­vi­dua­lis­mus verortet.

Edu­ar­do Kac leg­te „Time Cap­su­le“ als viel­schich­ti­ge Per­for­mance an: In einer eigens ange­leg­ten OP-Atmo­sphä­re implan­tier­te er sich einen Mikro­chip in der Art, wie sie Hun­de und Kat­zen tra­gen, unter die Haut sei­nes lin­ken Knö­chels. Dar­auf war ein Iden­ti­fi­ka­ti­ons­code gespei­chert, der nach erfolg­ter Implan­ta­ti­on in eine Online-Daten­bank für ver­miss­te Haus­tie­re ein­ge­ge­ben wur­de. Kac trug sich dort als Tier und als Hal­ter ein. Die Per­for­mance fand unter der Auf­sicht eines Arz­tes statt, vor dem Gebäu­de war­te­te ein (für die Anwe­sen­den gut sicht­bar gepark­ter) Kran­ken­wa­gen. Zudem hin­gen im Raum die sie­ben ein­zi­gen Foto­gra­fien sei­ner im zwei­ten Welt­krieg ermor­de­ten Vor­fah­ren. Die Per­for­mance wur­de von meh­re­ren Fern­seh­sen­dern über­tra­gen, auch über das Inter­net konn­te man das Gesche­hen verfolgen.

Eduardo Kac: Time Capsule»Time Cap­su­le«, © Edu­ar­do Kac

„Time Cap­su­le“ spricht offen die sei­ner­zeit bestan­de­nen Mög­lich­kei­ten der Umset­zung trans­hu­ma­nis­ti­scher Grund­ideen an. Die Implan­ta­ti­on eines infor­ma­ti­ons­tra­gen­den Mikro­chips ist bei Kac eine iden­ti­täts­kon­ser­vie­ren­de Hand­lung, die der Ver­gäng­lich­keit des Indi­vi­du­ums und der Erin­ne­run­gen an sie – etwa in Form von Foto­gra­fien – gegen­über gestellt wird. Iden­ti­tät wird aber auch als bio­tech­ni­sche Kom­po­nen­te zur Body Modi­fi­ca­ti­on auf­ge­fasst. Aus­tausch­bar­keit und Gestalt­bar­keit sind Eigen­schaf­ten, die nur in einem trans­hu­ma­nis­ti­schen Sys­tem mög­lich sind. So sieht Arlin­do Mar­cha­do dar­in fol­ge­rich­tig eine neue Kon­sum­form.4

Kac the­ma­ti­siert aber auch das Ver­hält­nis zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft im trans­hu­ma­nis­ti­schen Welt­bild. Nach post­mo­der­ner Les­art stellt er das Pri­mat der Gemein­schaft gegen­über dem Ein­zel­nen als eine dro­hen­de Gefahr dar, wenn Iden­ti­tät nicht mehr nur eine pri­va­te, son­dern auch eine öffent­lich ver­folg­ba­re, damit kon­trol­lier­ba­re Ange­le­gen­heit ist.

In „Time Cap­su­le“ lässt Kac auch die Rol­le der Medi­zin nicht außer Acht. Dies geht in der Per­for­mance zwei­fach her­vor: Kac bestä­tigt zunächst die sub­stan­ti­el­le Abhän­gig­keit sei­nes Han­delns zur Medi­zin und behaup­tet spä­ter sei­ne Unab­hän­gig­keit von derselben.

Eduardo Kac: Time Capsule»Time Cap­su­le«, © Edu­ar­do Kac

Als Grund­la­ge von „Time Cap­su­le“ sind die medi­zi­ni­schen Leis­tun­gen und Errun­gen­schaf­ten anzu­se­hen, die unmit­tel­bar die Durch­führ­bar­keit der Per­for­mance begrün­den: die Ent­wick­lung sowie die bio­kom­pa­ti­ble Ver­sie­ge­lung des Mikro­chips, aber auch des­sen Implan­ta­ti­on mit­tels eines Nadel­sys­tems. Die­ser tri­vi­al erschei­nen­de Zusam­men­hang greift jedoch kom­men­tar­los einen wesent­li­chen Cha­rak­ter­zug des Trans­hu­ma­nis­mus auf, näm­lich des­sen Abhän­gig­keit vom medi­zi­ni­schen Fort­schritt. Im Gegen­satz zur post­hu­ma­nis­ti­schen Visi­on, die die Mensch­heit zu über­ho­len sucht und damit die Medi­zin in den Hin­ter­grund stellt, geht der Trans­hu­ma­nis­mus eine enge Part­ner­schaft mit ihr ein. Tat­säch­lich muss es das dring­lichs­te Anlie­gen sein, die Medi­zin und die medi­zi­ni­sche For­schung in den Dienst der trans­hu­ma­nis­ti­schen Zie­le zu stel­len. Der Erfolg die­ses Vor­ha­bens wird maß­geb­lich davon bestimmt sein, wel­ches Ver­hält­nis Trans­hu­ma­nis­ten zur Medi­zin ent­wi­ckeln, ob es auf Koope­ra­ti­on oder Miss­brauch auf­bau­en wird. „Time Cap­su­le“ gibt auf die­se Fra­ge kei­ne Ant­wort, zeigt aber immer­hin das genann­te Abhän­gig­keits­ver­hält­nis klar auf.

Der weit­aus inter­es­san­te­re Hin­weis auf die trans­hu­ma­nis­ti­sche Ver­flech­tung mit der Medi­zin geht in „Time Cap­su­le“ aller­dings aus der Anwe­sen­heit des Arz­tes und der Sani­tä­ter wäh­rend der Per­for­mance her­vor. Kac hät­te die Implan­ta­ti­on des Mikro­chips durch einen Arzt vor­neh­men, dabei selbst pas­siv blei­ben kön­nen. Er ent­schied sich jedoch – mut­maß­lich inten­tio­nell – dazu, die kur­ze und simp­le Pro­ze­dur selbst durch­zu­füh­ren, statt­des­sen die eigent­lich über­flüs­si­gen Medi­zi­ner als untä­ti­ge Zuschau­er an den Rand des Gesche­hens zu stellen.

Eduardo Kac: Time Capsule
»Time Cap­su­le«, © Edu­ar­do Kac

Damit wird eine wesent­li­che Aus­sa­ge über die Rol­le der Medi­zin im trans­hu­ma­nis­ti­schen Welt­bild getrof­fen: Body Modi­fi­ca­ti­on wird spä­tes­tens durch Plug-In-Tech­no­lo­gien so ein­fach in der Hand­ha­be sein, dass jeder Anwen­der sie selb­stän­dig durch­füh­ren kön­nen wird. Kein Arzt wird dazu not­wen­dig, das gesund­heit­li­che Risi­ko wird ver­schwin­dend gering sein. Dies ist die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung um einen frei­en Markt für Body Modi­fi­ca­ti­on zu eta­blie­ren, der sei­ner­seits einer Kon­sum­hal­tung zuträg­lich sein wird. Die Medi­zin wird in die­sem Sin­ne als indus­tri­el­ler Teil­be­reich inte­griert, dem ledig­lich die Pro­duk­ti­on neu­ar­ti­ger Funk­tio­nen zukommt.

Um einer sol­chen Ent­wick­lung Vor­schub leis­ten zu kön­nen, braucht es jedoch Ärz­te und Wis­sen­schaft­ler, die die Ethik des Trans­hu­ma­nis­mus tra­gen und gewillt sind, ihre eige­ne Rol­le zu über­den­ken. Der Medi­zi­ner als mora­lisch unab­hän­gi­ge Instanz wird in die­sem Gefü­ge kei­nen Platz mehr fin­den; in die­sem Sys­tem wer­den Ärz­te nur mehr im Diens­te des Trans­hu­ma­nis­mus stehen.

Anmer­kun­gen
1 David M. Lam­bert, Craig D. Mil­lar: Evo­lu­tio­na­ry bio­lo­gy: Anci­ent geno­mics is born. Natu­re, Band 444, 2006, S. 275–276
2 J.D. Wall, S.K. Kim: Incon­sis­ten­ci­es in Nean­der­thal geno­mic DNA sequen­ces. in: PLoS Genet. San Fran­cis­co 2007
3 Ver­non Vin­ge: The Coming Tech­no­lo­gi­cal Sin­gu­la­ri­ty: How to Sur­vi­ve in the Post-Human Era. Who­le Earth Review, 4/1993
4 Arlin­do Macha­do: A micro­chip insi­de the body (port. Ori­gi­nal: Um micro­chip den­tro do cor­po). Media­po­lis, Bue­nos Aires 1998