Probe: Ein Ausstellungsraum, der nur online betretbar ist (»Nimbus«, © Berndnaut Smilde)
Es ist mehr als siebzig Jahre her, dass Walter Benjamin in der wachsenden Reproduzierbarkeit der Kunstwerke den Verlust der »Aura« derselben bemängelte und den gänzlichen Untergang des Kultwertes zu Gunsten des Ausstellungswertes feststellte. Darin, dass das besondere Rezeptionsgefühl, das nur in direktem Kontakt zum Werk spürbar ist, durch die mannigfaltige Reproduktion des Bildhaften verloren geht, sieht Benjamin einen Funktionswandel der Kunst. Finde sich der Betrachter vor dem Original zur Kontemplation ein, so diene das Reprodukt der Zerstreuung. Man veranschauliche sich diesen Kontrast anhand des Beispiels von Goethe, der während seiner Italienreise erstmals mit Michelangelo und Raffael in Kontakt kommt, und dem heutigen Kulturinteressierten, dem es schwer fällt, sich in der Galerie oder im Museum auf die Kunst einzulassen, weil er es von einschlägigen Kunstreproduktionsmedien gewohnt ist, in ihr lediglich Ablenkung zu suchen.
Obgleich sich Walter Benjamin in seinen Ausführungen auf den Film und neuartige Drucktechnologien konzentriert, lassen sich seine Erkenntnisse auch auf die heutige Zeit übertragen. Das Internet eröffnet spätestens seit Web 2.0 Möglichkeiten, die zuvor unbekannt blieben. Die Reproduktion verliert ihre Exklusivität: Die publizierende und die konsumierende Klasse vereinigen sich und führen dadurch zu einem weitaus umfangreicheren und schnelleren Informationsdurchsatz, als es Benjamin nur am Beispiel der Tageszeitung gekannt hat. Dabei geht die von ihm beschworene »Aura« schneller verlustig als zuvor, der Ausstellungswert gewinnt rasant an Bedeutung. Es kommt zum Paradox der medialen Verfügbarkeit: Der Betrachter entfernt sich vom Kunstwerk.
Daher ist spätestens, seitdem ich diese Erfahrung selbst eindrücklich machte, ein integraler Bestandteil des Konzepts dieses Blogs, den Bezug zum Original zu wahren. Einerseits, indem ich nur über Werke schreibe, die ich selbst gesehen habe; andererseits, stets die Möglichkeit zu geben, die beschriebenen Beispiele, selbst zu erleben. Das Internet als verzerrender Faktor war damit identifiziert und weitestgehend eliminiert.
Nun liest man seit einigen Wochen und Monaten immer wieder von Ausstellungen, die nicht etwa in einer Galerie oder einem Museum stattfinden, sondern zum virtuellen Eintritt im Internet laden. Es finden sich sogar reale Ausstellungsräume, die nur über Webcams einsehbar sind. Virtuelle Kunstmessen werden abgehalten, Internetmuseen öffnen ihren Pforten. Was also offen bleibt, ist die Frage, wie dies mit den Erkenntnissen Benjamins in Einklang gebracht werden kann.
Die Website des Mobile Online Museum of Contemporary Art
Als einfachstes und gleichzeitig auch am einfachsten zu beurteilendes Beispiel sei zuerst das Mobile Online Museum of Contemporary Art (MOMCA) genannt. Zu sehen sind Arbeiten, deren Qualität offensichtlich nicht ausreicht, um in einer herkömmlichen Galerie ausgestellt zu werden. Eingefügt in eine immer gleich stereotypisch überzeichnete Galeriensituation, kann kaum von Kunst die Rede sein. Räumlichkeit und statistenhafte Besucher sollen die ausgestellten Arbeiten als solche legitimieren, bewirken jedoch das Gegenteil, lassen das Konzept so abwegig erscheinen, wie es ist. Die Beschreibung der aktuellen »Ausstellung« von Paulo Barros bringt dabei die Absurdität auf den Punkt, die diesem Projekt anhaftet:
As I yet couldn’t find a real Art Gallery to see my videos screenshots exhibited, I created the virtual Fake Art Gallery, where people from any part of the planet can visit.
Das MOMCA wäre jedoch nicht die Erwähnung wert, würde sich an ihm nicht so vortrefflich ablesen können, was die Beschränkung auf das virtuelle Dasein mit sich bringt. Dies betrifft nicht nur die Ausstellungen, sondern auch die Werke, die gar nicht erst der realen Welt entspringen. Die Möglichkeit einer Aura im benjaminschen Sinne ist von vornherein ausgeschlossen, damit auch – ungeachtet der Qualität – jeglicher Versuch der Kontemplation , sodass nur die Zerstreuung bleibt, ein echtes Kunsterlebnis verwehrt bleibt.
Wenn auch das MOMCA als Lösung in der Not entstanden sein dürfte, gelten für andere, ernster zu nehmende Erscheinungen des Internets andere Gründe, die zu der Entscheidung führten, einen virtuellen Ausstellungsraum zu erfinden. Dazu gehört auch das Project Probe, das jedoch in der Realität verankert bleibt. Als Grundlage dient ein nicht mehr als sechs Quadratmeter messender Ausstellungsraum, der zudem nur kaum mehr als einen Meter in die Höhe reicht. Der Kunstinteressierte kann die »künstlerische Skinner Box«, wie sie von Entwicklerin Suze May Sho genannt wird, jedoch ausschließlich über das Internet besuchen. Sechs Kameraeinstellungen halten hierzu die Ausstellungen fest und machen sie online verfügbar.
Sho betont, dass durch das Miniaturformat Ausstellungen möglich werden, die in gewöhnlichen Räumen undenkbar oder zu teuer wären. Da der Raum selbst unumständlich manipuliert werden könne, böten sich neue Konzepte. Andererseits wird der Raumbegriff aufgehoben, wenn die Erfahrung desselben unterdrückt wird. Architektur, Skulptur und Installation wird zwar objektiviert, jedoch auch entseelt, wenn der Betrachter nicht mehr selbst in Kontakt treten kann. Diesen Eindruck gewinnt man in vielen der Online-Ausstellungen, wenn auch manche wie etwa »Destination in the clouds« oder »Nimbus« (s.o.) die Raumillusion weiter aufrecht erhalten.
Probe #3: Ruth van Beek
Darin liegt der interessante Teil des Project Probe: Die meisten Ausstellungen wirken artifiziell und unecht, weil jegliche Illusion einer Raumerfahrung fehlt, doch die genannten Beispiele bilden den Raum nach, welcher auf dem Foto zunächst auch als solcher wahrgenommen wird. Erst mit dem Wissen, dass es sich um eine Scheinwelt handelt, deren Maßstäbe nicht die angenommenen sind, wird klar, wieviel der vermeintlichen Raumwahrnehmung Einbildung ist, wieviel aus der Erfahrung ergänzt wird. Dadurch entsteht ein Verwirrspiel, das sich nur auflösen lässt, wenn man akzeptiert, dass die Bilder des Raumes zu einem bestimmten Eindruck führen, jedoch keine »Aura« beinhalten.
Als echter Ausstellungsraum taugt Project Probe freilich wenig; das zeigen die Beispiele, wo die Wände tatsächlich behangen wurden. Um die Differenzen zwischen Wahrhaftigem und Reproduziertem aufzuzeigen, ist es jedoch bestens geeignet.
Als bekanntestes Beispiel dürfte wohl die bald erstmalig anlaufende VIP (Viewing in Private) Art Fair gelten. Vom 22. bis 30. Januar werden 139 Galerien aus 30 Ländern – aus Berlin sind darunter Max Hetzler, Sprueth Magers und Johann König; aber auch White Cube, Gagosian und Hauser & Wirth – ihre Künstler ausstellen und dank des Internets international erreichbar sein. Folgt man Ales Ortuzar, einem der Gründer der Messe, dann liegt dies auch darin begründet, dass die Sammlerschaft von heute häufig nicht gewillt ist, wegen einer Kunstmesse eine lange Reise auf sich zu nehmen.
Monique Levy führt an, dass Kunstsammler sich heute bereits im Internet bewegen, wenn es um Recherche oder der Verfolgung von Auktionspreisen geht, es sei also nur natürlich, dass sie sich auch zum Kunstkauf auf ein Online-Angebot einließen. Zudem habe der Interessent auf der VIP Art Fair gegenüber herkömmlichen Messen bessere Möglichkeiten, sich über die Kunst zu informieren oder direkt mit dem Galeristen in Kontakt zu treten. Dieser didaktische Aspekt käme sonst zu kurz, würde auf der Online-Messe durch Informationsangebote und die Einbindung eines Galeristen-Chats und ‑Skype erfüllt werden.
Bisher fiel das Medienecho weder kritisch noch wohlwollend aus, man hat das Gefühl, dass das neuartige Konzept den Autoren nicht ganz koscher vorkommt. Auch fällt immer wieder Frage nach dem Kunsterlebnis, ob denn nicht die Aura auf der Strecke bliebe, der Käufer später womöglich enttäuscht sein könnte. Das habe man auch gar nicht vor, außerdem ließen ja die hochauflösenden Abbildungen genauere Betrachtungen zu, als es der hektische Betrieb konventioneller Messen erlaube. Relativiert wird dieser Einwand ebenfalls dadurch, dass der Interessent i.d.R. mit dem Œuvre des Künstlers gut vertraut sei, einer persönlichen Wahrnehmung der Werke damit keine so große Rolle zukäme.
Damit ist die VIP Art Fair vielleicht eine der wenigen Kunstmessen, die ihre Absichten unmissverständlich klar macht. Während etwa beim Art Forum oder auf der Art Basel die Verkäufe innerhalb der ersten Stunden stattfinden und nach Abzug der Sammler einige Tage lang das gewöhnliche Publikum durch die Hallen geschleust wird, dadurch die Einnahmen der Messe aufgebessert werden, konzentriert sich die VIP Art Fair ganz auf den Verkauf. Man braucht sich nicht um die Besucher zu kümmern, die nicht zum Kaufen gekommen sind, braucht ihnen nicht den Kontakt zu den Werken erlauben, wenn doch ohnehin alles online stattfindet. Die VIP Art Fair heißt zwar auch Besucher willkommen, die nicht zur Käuferschaft gehören, doch die geben sich auch mit dem Abbild zufrieden, wollen das Original gar nicht sehen.
Bei dieser Messe geht in der Tat die Aura der Werke verloren, das ist jedoch nicht von Belang, schließlich kann darauf verzichtet werden. Wie auf anderen Messen auch geht es um den Verkauf, nicht um die Ausstellung. Dank des hochklassigen Teilnehmer müssen sich die Veranstalter auch keine Sorgen um ihre Einnahmen machen, müssen nicht um den Besucher ringen. In diesem Punkt wird sich die Messe also gerecht, wenn sie sich VIP – Viewing in Private – Art Fair nennt.
Die aufgeführten Beispiele stimmen skeptisch. Nimmt man es mit Walter Benjamin, so geht das Kunsterlebnis verloren, das Kunstwerk wird auf seinen Ausstellungswert reduziert und dient lediglich als Gegenstand der Zerstreuung. Diese zentrale Erkenntnis der modernen Medienwissenschaften wird von den Akteuren unterschiedlich aufgenommen. Manche sind sich dessen nicht einmal bewusst, andere wie etwa Kunstmatrix.com versuchen dieser Tatsache leidlich mit 3D-Darstellungen entgegenzukommen oder weisen dadurch explizit darauf hin und wieder andere sehen darüber hinweg, weil es für ihr Anliegen nichtig ist.
Die beiden letztgenannten Beispiele kann man bewerten, wie man möchte, man kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Möglichkeiten des Internets die Wahrnehmung der Kunst weiter verändert haben. Die Online-Kunsbetrachtung dient dem erbaulichen Zeitvertreib und wird zum Habitus, der bald auf das reale Leben übergreift. Der Ausstellungsbesucher von heute schreitet die Bilder hastig ab, hat verlernt, ihnen seine Zeit zu widmen und sich auf sie einzulassen, wenn er sich nicht im ersten Moment inspiriert fühlt. Es ist also eine natürliche Folge, dass diese Rezeptionspraxis auch wieder den Weg zurück zu ihren Ursprüngen findet und Online-Galerien erschafft, die über all das Magische in der Kunst hinwegsehen. Dass Messen wie die VIP Art Fair eine sinnvolle Berechtigung haben, will ich nicht abstreiten, die Frage ist nur, wie das Publikum damit umgehen wird. Womöglich wird es zur Gewohnheit, statt des Galerien- den Websitebesuch vorzuziehen – diese Zukunftsvision entwerfen jedenfalls Projekte wie die obigen.
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